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Kultur- und Nachbarschaftszentrum

Buch 2009a

Zu diesem Buch
Von Rainer Fischer

Träumen und Ostkreuz gehören zusammen, sogar wenn das Träumen nicht ausdrücklich Thema des Wettbewerbs ist, wie vor drei Jahren, wo der Erzähler in Warten auf Maria auf einen disparaten Zeitreisenden trifft: "Ja, ja, das Ostkreuz war schon immer ein Ort für Träume, es inspiriert ungemein, regt die Fantasie an, macht geradezu high."

Mit diesem Literaturwettbewerb nun wurden die Schreibenden ausdrücklich zum Träumen eingeladen. Und was dabei Erstaunliches herausgekommen ist, sehen wir in dem Vorliegenden. In den meisten der hier versammelten Texte nehmen die Träume der Protagonisten ihren Anfang in etwas ganz Alltäglichem. Der Alltag scheint uns unentwegt Sprungbretter in den Weg zu legen, von denen aus wir uns, wenn wir nur beherzt genug sind, in die skurrilsten und buntesten Träume stürzen können.


Von Träumern zu erzählen, heißt auch, von deren Scheitern zu erzählen, das ist offenbar unvermeidlich. Träume fliegen hoch, bunte Seifenblasen, und zerplatzen schließlich an einer kruden, traumfeindlichen Wirklichkeit. Aber Träume werden nicht wertlos oder überflüssig, weil sie der Realität nicht standgehalten haben. Träume sind das was unseren Wünschen eine Richtung gibt. Ohne sie wären wir Lebewesen ohne Transzendenz.

Leute ohne Träume nennen sich Realisten, ein Euphemismus: "Ja, ja, träume nur weiter", sagte die Mutter zu dem Fünfjährigen, der gerade eben sein Berufsziel, Lokomotivführer, verkündet hatte.

Für ein Kind sind Lesen und Träumen dasselbe. Deshalb machte es auch nichts, dass die allermeisten Bücher meiner Kindheit rein gar nichts mit der mich umgebenden Wirklichkeit zu tun hatten. Beim Lesen wurde ich Odysseus, Siegfried, Phillipp Marlowe, Tarzan, Kapitän Nemo und Daniel Düsentrieb und erhielt so, träumend, einen Begriff, eine vage Ahnung davon, was Welt ist.

Die echten Träume, die uns im Schlaf widerfahren, enthalten, so bizarr und aberwitzig ihr Plot auch immer sein mag, diese zwei Grundmuster menschlicher Erfahrung: das vergebliche Ringen um eine Sache bzw. das Geschehenlassen von etwas.

Aber Träume können, wenn sie millionenfach geträumt werden, durchaus die Wirklichkeit verändern. "I have a dream", rief Martin Luther King 1963 in Washington aus. Ein gutes Jahr später war die Rassentrennung in den USA endlich aufgehoben, jedenfalls gesetzlich.

 

Träume, auch Ostkreuzträume, sind stets Zeit- und Ortsverschiebungen. Es gibt vorwärts und rückwärts gewandte Ostkreuzträume. Die vorwärts gewandten sind meistens computergeneriert und voll Verheißungen von Komfort, Bequemlichkeit, Sauberkeit und Effizienz, also all dem, was das alte Ostkreuz nicht hat. Wie es aussieht, werden diese Träume der Architekten, Ingenieure und Planer irgendwann Wirklichkeit. Und es gibt heute schon Leute, die den Verlust ihrer alten Ostkreuzträume, der unvermeidlich ist, beklagen. Bleibt zu hoffen, dass es neue Ostkreuzträume geben wird. Aber das wäre dann ein anderes Buch.

 

Berlin, im November 2009

Buch 2009a

Zu diesem Buch
Von Rainer Fischer

Träumen und Ostkreuz gehören zusammen, sogar wenn das Träumen nicht ausdrücklich Thema des Wettbewerbs ist, wie vor drei Jahren, wo der Erzähler in Warten auf Maria auf einen disparaten Zeitreisenden trifft: "Ja, ja, das Ostkreuz war schon immer ein Ort für Träume, es inspiriert ungemein, regt die Fantasie an, macht geradezu high."

Mit diesem Literaturwettbewerb nun wurden die Schreibenden ausdrücklich zum Träumen eingeladen. Und was dabei Erstaunliches herausgekommen ist, sehen wir in dem Vorliegenden. In den meisten der hier versammelten Texte nehmen die Träume der Protagonisten ihren Anfang in etwas ganz Alltäglichem. Der Alltag scheint uns unentwegt Sprungbretter in den Weg zu legen, von denen aus wir uns, wenn wir nur beherzt genug sind, in die skurrilsten und buntesten Träume stürzen können.


Von Träumern zu erzählen, heißt auch, von deren Scheitern zu erzählen, das ist offenbar unvermeidlich. Träume fliegen hoch, bunte Seifenblasen, und zerplatzen schließlich an einer kruden, traumfeindlichen Wirklichkeit. Aber Träume werden nicht wertlos oder überflüssig, weil sie der Realität nicht standgehalten haben. Träume sind das was unseren Wünschen eine Richtung gibt. Ohne sie wären wir Lebewesen ohne Transzendenz.

Leute ohne Träume nennen sich Realisten, ein Euphemismus: "Ja, ja, träume nur weiter", sagte die Mutter zu dem Fünfjährigen, der gerade eben sein Berufsziel, Lokomotivführer, verkündet hatte.

Für ein Kind sind Lesen und Träumen dasselbe. Deshalb machte es auch nichts, dass die allermeisten Bücher meiner Kindheit rein gar nichts mit der mich umgebenden Wirklichkeit zu tun hatten. Beim Lesen wurde ich Odysseus, Siegfried, Phillipp Marlowe, Tarzan, Kapitän Nemo und Daniel Düsentrieb und erhielt so, träumend, einen Begriff, eine vage Ahnung davon, was Welt ist.

Die echten Träume, die uns im Schlaf widerfahren, enthalten, so bizarr und aberwitzig ihr Plot auch immer sein mag, diese zwei Grundmuster menschlicher Erfahrung: das vergebliche Ringen um eine Sache bzw. das Geschehenlassen von etwas.

Aber Träume können, wenn sie millionenfach geträumt werden, durchaus die Wirklichkeit verändern. "I have a dream", rief Martin Luther King 1963 in Washington aus. Ein gutes Jahr später war die Rassentrennung in den USA endlich aufgehoben, jedenfalls gesetzlich.

 

Träume, auch Ostkreuzträume, sind stets Zeit- und Ortsverschiebungen. Es gibt vorwärts und rückwärts gewandte Ostkreuzträume. Die vorwärts gewandten sind meistens computergeneriert und voll Verheißungen von Komfort, Bequemlichkeit, Sauberkeit und Effizienz, also all dem, was das alte Ostkreuz nicht hat. Wie es aussieht, werden diese Träume der Architekten, Ingenieure und Planer irgendwann Wirklichkeit. Und es gibt heute schon Leute, die den Verlust ihrer alten Ostkreuzträume, der unvermeidlich ist, beklagen. Bleibt zu hoffen, dass es neue Ostkreuzträume geben wird. Aber das wäre dann ein anderes Buch.

 

Berlin, im November 2009

Haikus Ostkreuzträumers

 

Ilse Treue
Vier Haikus eines Ostkreuzträumers

 

Sommersonne lockt
Fort auf Schienen ins Grüne
Wochenendträume

Hastend im Regen
Fluchend Bahnsteige suchend
Ostkreuz-Albträume

Stahl Glas Aufzüge
Technisch vollendete Pracht
Zukunftstraum Ostkreuz

Ständig eilt der Mensch
Züge rollen pausenlos
Unendliches Lied

Inka Engmann - Wenn ich im Lotto gewinne

Inka Engmann
Wenn ich im Lotto gewinne

 

Drei Männer sitzen auf Werkzeugkisten auf der Großbaustelle Ostkreuz, sie essen ihre Stullen und trinken schwarzen Kaffee dazu.

"Bahnhöfe schick machen, für sowat hamse Jeld!" sinniert Kalle.

"Na sei doch froh, so haste wenigstens Arbeit!" brummt Schulle,

"Wenn ich Geld hätte...", sagt Arne.

"Du nu wieder!" lacht Schulle.

"Wenn ich im Lotto gewinne", fährt Arne unbeirrt fort, "dann kaufe ich mir den Turm da." Er zeigt auf den alten Wasserturm am Ostkreuz.

"Mann, hast du 'n Rad ab", ruft Kalle, "so 'n oller Turm, inne Luft gesprengt jehört der!"

"Ich bau das Dach aus", sagt Arne, "da kommen rundrum Fenster, damit ich in alle Richtungen gucken kann. Und oben drauf kommt 'ne Glaskuppel, da kann ich in den Himmel gucken!"

"Du oller Spinner", grinst Schulle, "Feierabend jehn wa aber zu Rosi, wa?"

Rosi stellt krachend die Biergläser auf den Tisch. "Also, heute jibt's Roulade mit Rotkohl oder Bauernfrühstück, und 'ne Bockwurscht kann ick euch ooch machen. Die Roulade tat ick empfehlen!" sagt sie und guckt Arne an.

"Nee laß mal, ich nehm die Bockwurscht!" sagt der.

Rosi seufzt leise, dann nimmt sie die Bestellungen der anderen auf. Sie hat so einen schönen dicken Busen, fährt es Arne durch den Kopf. Kalle und Schulle ziehen mit kräftigen Ausdrücken über den Polier her. Aber Arne ist das heute irgendwie gleichgültig. Er ißt seine Wurst, dann klopft er auf den Tisch, sagt "bis morgen" und geht.

Zu Hause bereut er, daß er so früh gegangen ist. Immer noch besser, mit Kalle und Schulle in der Kneipe zu sitzen, als hier so ganz... Er wischt den Gedanken fort und zappt sich durchs Fernsehprogramm. Bei der Lotto-Werbung hält er inne: "35 Millionen im Jackpot!" Morgen ist Freitag, da muß er seinen Lottoschein holen. Arne zappt noch ein bißchen, dann schaltet er den Fernseher aus und geht ins Bett. Aber schlafen kann er noch nicht, er denkt an den alten Wasserturm. Aus einem der Dachfenster kann er die Rummelsburger Bucht sehen, da hat er Wasser und was Grünes. Aber eigentlich guckt er lieber zur anderen Seite, aufs Ostkreuz... Dort ist immer was los, immer Leben... Da bin ich nicht so... allein... Da ist es, dieses verdammte Wort, schnellstens will er es wieder wegschieben... Er sieht plötzlich Rosi vor sich... "Jeden Tag 'ne ganze Kneipe voller Männer!" murmelt er ärgerlich und zwingt sich, wieder an den Turm zu denken. Daran, wie er seine Wohnung dort gestalten wird. Darüber schläft er endlich ein.

Vor dem Lottoladen hat er lange in der Schlange gestanden, aber das tut Arnes guter Laune keinen Abbruch. Sein Herz klopft, während er den Lottoschein ausfüllt. Das wird was, das hat er im Blut! Er grinst bei der Vorstellung, wie er Kalle und Schulle in seinem Turmzimmer empfangen wird.

Später, als er in seiner Wohnung sitzt, ist das Hochgefühl wie weggeblasen. Kalle ist heute im Sportverein und Schulle bei seiner Freundin. Ja, Schulle, der macht was her, der ist erst 35... Arne steht auf und schlurft ins Bad. Man müßte vielleicht mal 'ne Kontaktanzeige aufgeben... Er pinkelt, dann blickt er in den Spiegel. Er seufzt. Der Bauch wird immer mehr, dafür die Haare immer weniger... Und überhaupt, mit 47... Er geht in den Flur, zieht sich Schuhe und Jacke an. Aber wohin? Zu Rosi? Ohne Kalle und Schulle? Arne holt sich ein paar Flaschen Bier vom Spätkauf, dann geht er wieder nach Hause und setzt sich vor den Fernseher und trinkt, bis er auf dem Sofa einschläft.

Am Sonnabend ist Arne mit Schwung bei der Arbeit. Er arbeitet gern am Wochenende, da gibt's ja die Zuschläge, und überhaupt... Heute kann er allerdings den Feierabend kaum erwarten, deshalb klotzt er richtig ran, denn so vergeht die Zeit schneller. Doch er hält immer mal wieder inne und schaut auf den alten Wasserturm. "Heute abend!" grinst er.

Abends sitzt er vorm Fernseher und zittert vor Ungeduld: "Können die sich nicht mal beeilen mit ihrer Scheiß-Sportschau, das interessiert doch keine Sau!"

Dann endlich: "Die Ziehung der Lottozahlen!" Arnes Herz klopft zum Zerspringen. Die Kugeln trudeln in dem runden Behälter herum, dann fällt die erste.

"3"

Die hat er schon mal. Die Kugeln trudeln weiter, die zweite fällt.

"17!"

Jau! Auch die 17 hat Arne!

"38!"

Wow, das ist schon mal ein Dreier!

"43!"

Hat er auch! Arne zappelt vor Aufregung ganz wild herum.

"30!"

"32!" schreit Arne. "Ich hab die 32!" Er schmeißt die Fernbedienung krachend gegen die Wand. Aber das reicht nicht, eine unbändige Zerstörungswut überfallt ihn. Raus hier, eh' ich die Bude zerkloppe, denkt Arne. Er rennt auf die Straße und geht los, ohne nachzudenken, wohin. Er läuft und läuft und weiß schon bald nicht mehr, wo er ist, aber das ist ja auch egal.

Einfach weiterlaufen.

Irgendwann kommen ihm die Straßen wieder bekannt vor. Sein Herz klopft auch wieder ruhiger. Dann steht er plötzlich vor Rosis Kneipe. Er geht hinein und setzt sich an einen Tisch. Rosi steht hinter der Bar und guckt ihn mit großen Augen an. Dann strahlt sie. Arne blickt sich um und sieht, daß er der einzige Gast ist. Muß spät sein.

"Du willst wohl Feierabend machen..." sagt er und will aufstehen. Aber sie ist schon an seinem Tisch und stellt ihm ein Bier hin. "Bleib sitzen!" ruft sie. Dann läuft sie zur Tür und schließt zu und läßt die Rollos herunter. Arne sieht ihr mit offenem Mund zu. Schon ist sie wieder an seinem Tisch, und plötzlich liegt sein Kopf an ihrem Busen, und ihre Finger wuschein durch sein Haar. "Dass du's endlich mal merkst..." flüstert sie.

Im ersten Moment weiß Arne nicht, wo er ist, aber dann hört er Rosis ruhige Atemzüge neben sich. Er sieht ihr rundes Gesicht mit den verwuschelten Haaren und muß sich zwicken. Aber nein, es ist kein Traum. Arne streckt sich, steht auf und geht zum Fenster. Er guckt und ruft: "Nee, das ist doch nicht wahr!" Da sind die Schienen, eine S-Bahn zuckelt vorbei. Links das Ostkreuz. Und dort drüben steht der alte Wasserturm.

"Was'n los?" murmelt Rosi verschlafen, "Komm doch wieder ins Bett!"

Arne strahlt und geht zu ihr. "Viel besser!" sagt er. "Viel besser als 'n Lottogewinn!"

Traumbuch Ostkreuzler

 

Peter Grünwald
Aus dem Traumbuch für Ostkreuzler

 

3

El Merlino, so nannte er sich nun einmal, war der wohl populärste Wahrsager am Ostkreuz. Seine Tarotkarten waren S-Bahn-Fahrscheinen nachempfunden, den alten, diesen gelblichen Dingern aus steifem Karton, die noch von Hand, meistens von ehrwürdigen alten Männern in Reichsbahnuniformen, die in tonnenartigen Behältern am Bahnsteigseingang residierten, mit der Zange geknipst wurden. Seine Karte für den Tod war die von einer S-Bahn-Fahrt zwischen Frankfurter Allee und Jannowitzbrücke. Es hieß, El Merlino sei der militante Arme der einstigen Bürgerinitiative  "Rettet die Nordkurve!" gewesen.

 

8

Eine Lizenz, am Ostkreuz Traumsand verkaufen zu dürfen, ist sehr schwer zu bekommen. Es gäbe zu viele Schwindler und Betrüger, sagt das Ordnungsamt, das meiste wären Mogelpackungen: Sand aus alten Getrieben, von Straßenbahnen abgezweigter Bremssand, der Sand alter Eieruhren und so weiter. Über dies wäre der amtliche Traumsandexperte derzeit in ärztlicher Behandlung und nicht einsetzbar. Er habe vor Tagen bei einem betrügerischen Traumsandpapierverkäufer ein Auge zugedrückt, und das wäre ein Fehler gewesen.

 

9

Am Ostkreuz bin ich im Lauf der Zeit mindestens drei Traumfrauen begegnet. Mit einer von ihnen lief es gar nicht gut. Wir waren kaum drei Wochen zusammen, da begrüßte sie mich, wieder am Ostkreuz, mit dem Satz: "Troll dich!" Ich war von der altmodischen Schnittigkeit dieser Aufforderung so fasziniert, dass ich ihr gern nachgekommen wäre. Aber meine Noch-oder-schon-Ex-Freundin sprang in eine S-Bahn in Richtung Friedrichstraße und weg war sie. Wie trollt man sich, so allein, fragte ich mich, so allein auf dem Bahnsteig. Ich wusste es nicht. Also ging ich nach Hause und kam mir dabei wie ein Fliehender vor, wie einer, der sich nur schnöde verdrückt.

 

17

Als Nikolaus, der einbeinige Zar – der mit dem Auge, wohlgemerkt, derselbe, den manche den Einäugigen mit dem Bein nennen, das ist eine Frage des Standpunkts, des Aspekts – auf die Terrasse hinaus geschoben wurde, empfand er das Schweigen der Menge auf dem Schlossplatz als eine gelinde Bedrohung. Aus dem Meer der Köpfe wurde ein Transparent emporgereckt: "Wer das träumt, ist doof!" konnte ich gerade noch entziffern, dann wurden die Demonstranten von den Bütteln des Zaren zu Boden gerissen.

Was war denn das? Ein Schachteltraum? Und diejenigen, die auf der ordensgeschmückten Zarenuniform das Große Ostverdienstkreuz am Band nicht bemerkt haben, werden jetzt wohl noch fragen, was dieser Traum mit dem Ostkreuz zu tun hat!

 

23

Der wohl glückloseste Ostkreuzträumer war Karl-Heinz Schirrnagel oder Gonzo, wie er in seiner Sonntagstraßen-Schnorrerclique genannt wurde. Er stieg, so erzählt man, am Ostkreuz in den Zug, schlief ein, wachte am Ostkreuz wieder auf, meckerte in sich hinein: "Jehtet hier nu ma los oder watt!", schlief wieder ein und so weiter. Schadenfrohe behaupten, Gonzo habe diese Runde insgesamt sieben Mal gemacht, bis es Nacht wurde, und es ihm dämmerte. Ich halte das für übertrieben. Aber sieben gefällt mir. Das hat so etwas Rituelles, Atavistisches. Darüber könnte ich selber zum Träumer werden.

 

29

Eine schon recht alte Nummer von Psychologie heute, die Kurt K. im Wartezimmer eines Zahnarztes durchgeblättert hatte, brachte ihn auf eine Geschäftsidee. Er mietete auf dem Bahnsteig der Stadtbahn, gleich neben dem türkischen Gemüsestand, einen Kiosk, stattete ihn mit einer alten Couch, über die er eine persische Ornamentik imitierte Wolldecke breitete, aus, kaufte sich einen Schreibblock und einen Satz spitzer Bleistifte und hängte ein Schild über die Tür: "Dr. Sigmund Freud, Psychoanalytiker". Die Praxis soll ganz gut gelaufen sein, bis mehr und mehr Besserwisser, Neunmalkluge, Erbsenzähler und Krümelkacker auftauchten, die behaupteten, der echte Sigmund Freud hätte in der Wiener Berggasse praktiziert, und das schon vor hundert Jahren. K., nicht im mindesten geniert, erwiderte "Wassndasfürnscheiß!" und "Glaub ich nicht!" und schaltete auf Stur. Was die Gewerbeaufsicht, die den Laden dann schloss, am meisten erboste, war die Anmaßung eines akademischen Grades. Das Ladenschild hat Kurt dann "für teuer Geld", wie er verschmitzt durchblicken ließ, bei Ebay verhökert. Die Träume von Traumdeutern sind eben eine Sache für sich.

 

31

Neulich landete ein Ostkreuzträumer mitten auf dem nagelneuen Ringbahnsteig. Aus der Traum!

Regenkleider

 

Sandra Hübner
Regenkleider

 

Ich sag mal so: ich glaube, wenn ich schreiben könnte, also einer dieser Schriftsteller wäre, würde ich immer und ständig über die Liebe schreiben. Sagen Sie mal, gibt es ein wichtigeres Thema? Ich meine, wenn Sie mal nachdenken: worauf geht alles zurück? Wofür machen Sie sich morgens schön vor dem Spiegel? Na? Ganz einfach: Sie wollen geliebt werden. So ist das. Wofür studieren Sie? Lernen Sie? Wofür brauchen Sie Geld? Denken Sie einmal nach. Es kommt immer auf dasselbe heraus: Sie wollen geliebt werden. Und nun stellen Sie sich das vor: ich werde geliebt. So ist das. Ich habs geschafft. Jawoll.

Ich sehe jetzt nicht so unbedingt aus, als könnte da einer auf die Idee kommen, denken Sie? Wegen der Haare? Der Klamotten? Dem Geruch? Ach, wissen Sie, das hat doch alles gar keine Bedeutung wenn man liebt. Wenn man nur liebt. Wissen Sie? Und vor allem wenn man selbst lieben darf. Mir hat mal einer erzählt, und der musste es wissen, der war studiert, der jedenfalls erzählte mir, dass es nach Prozenten wichtiger ist, selbst zu lieben als geliebt zu werden. Und nun stellen Sie sich vor: ich hab beides. Ich werde. Und ich tue. Was sagen Sie dazu?

Ich sehe Ihnen die Frage fast an: wo haben wir uns kennengelernt, das wollen Sie wissen, ja? Klar, das ist immer die schönste Geschichte. Das Kennenlernen. Der erste Moment. Das Erkennen. Klar. "Und er erkannte sie", ich kenn das alles noch. Bin ja konformiert.

Nun, Sie werden staunen, das war hier. Auf dem ollen Bahnhof, das alte Teil das. Jetzt machen sie ihn schick, ziehn ihm was Schönes an, peppen ihn auf, strahlt er danach wieder und sonst ändert sich nichts. Würde sich bei mir was ändern, wenn mir einer ein neues Kleid anzieht? Wär ich nicht immer noch die alte, dieselbe Erika mit ihren Geschichten, ihren Jahren, den Runzeln, den Bildern im Kopf? Egal. Hauptsache sie lassen uns die Bänke. Hier war das, auf der Bank hier. Es hat geregnet, so wie jetzt gerade, dicke schöne Fäden. Sollte mal einer ein Kleid aus Regenfäden machen, oder was denken Sie? Ich würds anziehen. Echt. Ein Kleid aus Regenfäden für meinen Liebsten. Glitzerkram. Durchsichtig. Stehn die doch drauf, kenn ich doch. Bisschen Romantik, bisschen nackig sein. Fischers Tochter aus dem Märchen. Halb zog sie ihn, halb sank er hin. Na, ich schweife ab. Also, wie schon gesagt, und Sie wolltens ja wissen, hier wars, auf der alten fetten Bank hier. Gutes Teil, steht schon ewig, wird hoffentlich noch ewig stehen bleiben. Die Bänke sind gut. Neues Kleid für das Ostkreuz hin oder her, die alten Strumpfhalter halten immer noch am besten. Oder nicht? Also, ich saß hier, genau hier, und das mit dem Regen hatte ich ja schon. Und er setzte sich da hin. Eine Weile saßen wir so, ist ja klar, man quatscht ja nicht gleich jeden an, nur weil der sich da hin setzt. Sitzen wir also da. Und dann sagt er: "Paß auf, ich hol uns ein Bier, wenn du die Bank hier warmhälst. Was sagste?" Ich dachte, bankwarmhalten, das kann ich, das kenn ich. Und schenk ihm ein Lächeln, so ein frisches. War ja sonst auch frisch, wegen dem Regen, und war November und alles. Also ich frisch und fruchtig gelächelt und er geht los und ich denke plötzlich, Mensch, der kommt doch nicht wieder. Wegen der Zähne, wissen Sie? Hab da nicht dran gedacht. Die vom Zahnarzt passen nicht. Und den einen hier vorne und den anderen da seitlich hat er stehen lassen, habs nicht verstanden, sagte was von erhalten und provisorisch und so. Die zwei hab ich jetzt noch. Die anderen passen alle nicht.

Jedenfalls sitz ich da und der Schreck sag ich Ihnen, der Schreck, der fährt einmal rein in den Bauch und einmal wieder raus. Und ich denk, der kommt doch nicht wieder, Mensch! Der doch nicht! Wissen Sie, der ist jung. Klar, alt bin ich auch noch nicht. Noch nicht mal fünfzig. Aber der, der ist wirklich jung. So ein Jüngelchen. Nicht mal vierzig. Bestimmt nicht. Und das mir? Und ich grins den da an und denk nicht dabei? Vergess die Zähne, die passen ja nicht. Und mir rumort der Bauch und ich denk, ich habs vermasselt. Und das geht eine zeitlang so. Und mir wird der Hals trocken. Und die Uhren, die sind stehengeblieben, wie mein Herz, und ich denk, der, der kommt doch nicht wieder.

Jedenfalls, er kommt wieder. Setzt sich hin. Gibt mir das Bier. Sagt Prost. Und dann erst mal nichts mehr. Aber Sie kennen das auch, so ist das, man braucht gar nichts mehr sagen. All das Gerede immer. Braucht man nicht. Sitzt man da, guckt in den Regen, trinkt sein Bier, und alles paletti. Und mir ist gleich so, als ob das mehr werden könnte mit dem. Das mit dem Bier, das gibt zu denken, verstehen Sie? Am Ende lädt der mich in seine Wohnung ein, denk ich. Hat vielleicht ne Wohnung, denk ich so. Eine eigene vielleicht. Weiß man ja nicht. Guck mir den so an, vorsichtig natürlich, seine Sachen und so, und beschließe, ja, hat er, der hat eine Wohnung. Der ist sauber. Muß auch einen Wasserhahn haben. Dusche vielleicht sogar. Badewanne. Weiß man ja nicht, wie Wohnungen so ausgestattet sind hier. Ist ja Friedrichshain. Ich hatte hier auch mal was. Aber ohne Badewanne. Und hatte es auch nicht lange.

Wir reden immer noch nichts, wir brauchen das einfach nicht, wissen Sie? Das klappt einfach zwischen uns. Die Bank ist gut. Das Bier ist gut. Die Bahnen fahren ein und aus, spucken ihre Leute aus oder fressen sich gleich an den nächsten satt, und dann ist die eine weg und die andere kommt. Und was soll nach dem ganzen Erneuerungskram da anders sein, frage ich Sie. Das kommt und geht, das klappert mit den Absätzen und klingelt mit den Türen, das blinkt und scheppert, schiebt sich gegenseitig vorwärts, das schimpft, das guckt sich schief von der Seite an und traut sich nicht und das küsst. Vor allem küsst es. Ich habs gesehen. Ist ein Bahnhof der Liebe, das Ostkreuz, das sag ich Ihnen. Ich habs gesehen. Das küsst und küsst, wo Sie hinsehen wird geküsst. Die Tauben, die werden ganz kirre davon. Die Täuberiche gurren was das Zeug hält und machen Knickse und sind halb wahnsinnig im Kopf davon. So ein kleiner Kopf und so ein großer Wahnsinn. Sowas.

Wir jedenfalls, wir fühlen uns wohl. Uns geht’s gut. Wir haben alles was wir wollen. Uns kann keiner. Da können sie gucken, da können sie überlegen, ob sie sich zu uns setzen und es dann sein lassen und die nächste Bank nehmen. Wir wollen sowieso lieber für uns sein. Wär nicht schön, wenn uns da einer stört. Ich hab mir das immer so vorgestellt, dass man so dasitzt, sich liebhat, sich eins ist und mehr brauchs nicht. Viel hab ich davon nicht gehabt bisher. Aber ich hab immer gewusst, Erika, das wird noch, das kommt noch und dafür lohnt es sich. Und dann brauchts dafür diesen verrückten Bahnhof, diese Baustelle, auf der alles neu werden soll und den Täuberichen der kleine Kopf platzt.

Und ich, ich platze auch, vor Freude, dass er mich so nimmt, jetzt, so wie ich jetzt bin. Daß es ihm egal ist, die Haare, die Zähne, die Schuhe und die Klamotten. Ich hab das immer gewusst. Da kommt einer, der sieht dein Inneres, Erika. Der erkennt Dich. Der fragt dann später, wenn ihr bei ihm seid, wo er mit höchster Wahrscheinlichkeit eine Badewanne hat, da fragt er dann, wie das alles so war. Wie das gekommen ist. Mit dem Rudi. Bei dem hab ich die Zähne gelassen. Gut. Haare auch. Aber damals wuchsen sie noch nach, die Haare zumindest. Ich war nicht mal zwanzig. Dann kam Herbert. Herbert war ein Guter, der hatte Arbeit. Zwei Kinder, aber die sind dann weg, ins Heim, weil Herbert, also der trank wirklich zu viel, trotz der Arbeit, und ich hatte zu tun mit ihm. Und wenn ich gar nicht weiter wusste, und dann waren die Kinder ja auch weg, da hab ich mir auch einen genehmigt, auch wegen der Kinder, und dem Ärger mit dem Herbert. Na, und so kamen und gingen sie, wie das so ist. Und ich, ich wusste immer: eines Tages, Erika, eines Tages kommt er. Der Eine. Der kommt. Mußt nur durchhalten.

Einfach ist das nicht. Da klauen sie dir den Schlafsack, und Du würdest mit den Zähnen klappern nachts, wenn Du noch welche hättest. Und dann verkaufst du alles was du hast, und irgendwann hast du nichts mehr als dich selbst. Für was zu Essen und ein Bier reichts. Mensch, ich war manchmal drauf und dran aufzustecken. Stellen Sie sich das mal vor! Dann hätt ich das nicht erlebt, dass er mich doch noch findet. Das gibt’s aber doch, dass man füreinander bestimmt ist, und dann findet man sich auch und dann macht man auch weiter. Züge kommen und gehen, Zeiten, Männer, Kinder, man muß nur dabeibleiben. Immer wieder neu einsteigen. Und aussteigen, ja Mensch, aussteigen muß man auch mal lernen.

Wissen Sie, wir sitzen und trinken unser erstes gemeinsames Bier, als wärs immer schon so gewesen. Und wird’s nun auch immer so sein. Was da alles von mir abfällt, das glauben Sie nicht. Klar, die ganzen Ängste. Wie solls weitergehen? Wohin heute? Wovon morgen? Das fällt alles runter. Plumps macht es. Hört aber keiner sonst. Aber ich. Ich höre es. Und sehe es. Wie der ganze Angstkram da runterplatscht und sich zwischen die Pflastersteine verzieht und weg ist er. Schön ist das.

Und dann denke ich auch ständig an seine Badewanne. Ich denke mir, dass wir am Abend auch gemeinsam in die Badewanne gehen könnten. Obwohl ich mir auch Sorgen mache, natürlich, ob das nicht zu schnell ist. Aber wo wir ja jetzt doch zusammenbleiben werden. Man verlässt sich ja doch nicht mehr, nicht in meinem Alter. Wir werden es gemütlich haben. Er redet nicht drüber, aber ich nehme an, er hat noch einen Ofen zum Heizen. Ich persönlich mag das ja sehr gern. So ein Ofen, das hat doch was. Heizungen, na ich weiß nicht, ich erlebe das immer wieder auf den Ämtern, ich kriege da immer einen trockenen Hals von, das ist nicht gut auf die Dauer. Immer so eine trockene Kehle. Wenn ihm das unangenehm ist mit dem Ofen, dann muß ich ihm das noch sagen, dass ich das aber mag. Ich mag Öfen. Wirklich. Und schön wärs, wenn er eine Waschmaschine hätte. Falls nicht, dann gehen wir zusammen ins Waschcenter, da hab ich öfter geschlafen, da ist es meistens ganz schön. Ja, da gehen wir zusammen hin. Sitzen davor, auf einer Bank, in der Boxhagener, kennen Sie das? Da gibt’s eine kleine weiße Bank davor, da können wir sitzen. Gucken uns die Straße an und warten bis die Wäsche fertig ist. Falls er keine Waschmaschine hat. Da steht die Sonne auch immer drauf, auf der Bank. Also wir sitzen da und machen die Augen zu und drinnen wäscht das Bettzeug. Und das ist es doch. Dasitzen und warten aufs Bettzeug.

Wissen Sie, das sind alles diese Kleinigkeiten, nicht wahr? Das machts doch aus, dieser Kleinkram. Ich hab immer gewusst, dass das noch kommt. Wirklich. Und manchmal hab ich gedacht, ich schaffs nicht mehr bis dahin. Aber wissen Sie, was die Italiener sagen? Die sagen, man muß immer sein Herz auf der offenen Hand vor sich hertragen, egal wie oft es einem schon zerknautscht wurde. Und das denke ich auch, als er da neben mir sitzt. Und ich hab es in der Hand. Es liegt da. Auf meiner Hand.

ER

 

Guido Woller
ER

 

Ich laufe schnell,
mein Herz schlägt stumm,
am Wasserturm vorbei.
Ich muss sie schaffen,
die nächste Bahn-
ich fühl´ mich leer und frei.

Nun bin ich da,
schau´ auf die Uhr,
die Bahn kommt kurz vor zehn.
Ich hab noch Zeit und setze mich,
meine Gedanken dreh´ n.

Ich träum von ihm, von seiner Haut,
die weicher ist als Seide,
von seinem Bauch,
von seinen Augen.
Ich fühle, wie ich leide.

In jeder Nacht, in der ich spür´,
er liegt an meiner Seite
und glücklich bin - mehr als verliebt!,
ich seinen Puls begleite.

Schon wenn er lacht und traurig schmollt,
zerfließe ich zu süßem Wein.
Würd´ er mich schlagen, treten, quäl´ n,
göss´ ich ihm davon machtlos ein.

Wenn ich ihn rieche, atme, schmecke,
fahr´n meine Sinne Achterbahn.
Wenn ich aus Liebe fast verrecke,
schenk´ ich ihm meinen Lebensplan.

Amor hat sein Werk vollbracht,
der Pfeil ging voll ins Herz.
Vielleicht war es auch Belzebub,
identisch pocht der Schmerz.

Dies´ hört sich alles kitschig an,
vielleicht auch triefend schmalzig,
doch ist er nun einmal für mich
besonders drogenhaltig.

Jetzt kommt die Bahn, die zu ihm fährt,
die Zeit rückt immer näher,
dass ich ihn seh´ zum letzten Mal.
Ich weiß, es ist kein Fehler.

Nur eines wünsch´ ich mir von ihm,
um diese Phase zu beenden,
dass er mir gibt zurück mein Herz
aus seinen zarten, blassen Händen.

Mein nächstes Leben ohne ihn
Wird Morgen, Tag und Abend haben,
doch Nächte in denen Sonne schien,
muss ich zu Grabe tragen.

Zerrissene Träume

 

Josef Ludwig
Zerrissene Träume

 

Meine tiefsten Kindheitserinnerungen sind mit dem Krieg verbunden. Sie liegen deshalb weit zurück.

Es war im vorletzten Kriegsjahr. Ich lag in einer Kinderklinik, nur wenige Kilometer von der großen Stadt entfernt. Immer häufiger heulten die Sirenen, man hörte die Detonationen der Bomben und das Bellen der Flak. Auch die Evakuierungen nahmen zu, aus Sicherheitsgründen, wie man uns sagte. Das alles und so manches andere machte ängstlich und ließ das Heimweh immer stärker werden.

Aber es wurde auch Frühling, obwohl das mit dem militärischen Getöse in größtem Widerspruch stand. Doch die Vögel sangen und ein warmer duftiger Hauch strömte in den Raum und durchzog ihn mit milder Frische. Das schönste aber war eine gewaltige Kastanie. Sie stand unweit meines Fensters und leuchtete in voller Pracht, als seien zehntausende von Kerzen zu ihrem Schmucke angezündet.

Das Krankenhaus war überbelegt. Und obwohl es eigentlich eine Kinderklinik war, lagen hier auch viele Soldaten; dicht gedrängt füllten sie vor allem die Flure. Einer der meist jungen Verwundeten hatte sein Bett gleich am Eingang zu meinem Zimmer. Mit ihm konnte ich mich des öftern unterhalten. Nicht selten sah ich Tränen in seinen Augen. Und ich fragte: "Klaus, hast du Schmerzen?" gerührt gab er Antwort, kindesgemäß, ich zählte ja erst fünf Jahre: Zu Hause hatte ich ein Vögelchen, klug, lustig und bunt. Ich liebte es so sehr. An einem Morgen aber war mein Mäxchen nicht mehr da. Die Mutter tröstete mich; es ist weggeflogen, sagt sie, und wohnt nun wieder hoch oben in seinem schönen warmen Nest. Sei nicht traurig, es wollte halt wieder zu den Eltern zurück.

Eines Tages lag ein anderer Soldat im Bett nah meiner Tür. Die Schwester sagte mir, Klaus wäre nun wieder bei der Mutter daheim, wie er das stets auch wollte. Ich verstand die Antwort, zumindest ahnte ich ihren Sinn.

Nachts quälten mich schreckliche Träume, es war wohl die Trauer um Klaus. Die vielen bunten Schmetterlinge, mit denen mein Zimmer ausgemalt war, flogen dann weg, durch Türen und Fenster hinaus zum Licht. Hässliche rote Flecken blieben zurück. Schon des Abends begann ich zu zittern, aus Furcht vor dem Blut, das ich im Schlafe dann sah.

***

Wieder ist Frühling, von ganzem Herzen nehmen wir ihn auf. Nichts stört, die schrecklichen alten Bilder sind verschwunden, seit Jahrzehnten schon.

Aber sind sie das wirklich? Ist nicht fernes Grummeln zu hören, einem nahenden Gewitter gleich? Umzuckt uns nicht gespenstisches Wetterleuchten? So mancher fragt darum furchtsam-ahnungsvoll: Soll Klaus denn etwa auferstehen, um noch einmal zu sterben?

Rundum glücklich

 

Katharina Triebe
Rundum glücklich

 

Brauschke rieb sich die Hände. Das war doch mal eine Geschäftsidee, die Sache mit den Träumen. Gekommen war sie ihm neulich, als er lange am Ostkreuz auf seine Anschlussbahn warten musste. Nachdem durch den Lautsprecher durchgesagt worden war, dass die Ringbahn witterungsbedingt zwanzig Minuten Verspätung hätte, war er über den Bahnsteig E geschlendert und hatte dort die diversen Kiosk-Angebote inspiziert. Für Leib und Seele war gesorgt, davon konnte er sich schnell überzeugen. Bratwurst, Bockwurst, Obst und Gemüse prangten in den Auslagen. Zeitungen und Zeitschriften lockten mit Riesenschlagzeilen. Brauschke aber war satt und zum Lesen war es zu dunkel. Er sehnte sich nach etwas Kurzweiligem, Spannendem, einem besonderen Zeitvertreib während der zwanzigminütige Wartezeit. Nur was das genau sein sollte, wusste er nicht. In Gedanken stellte er sich vor, was er verkaufen würde, um Leute anzulocken. Er geriet ins Träumen – und plötzlich kam ihm die Idee. "Träumen" war das Zauberwort – er könnte Träume verkaufen – an einem eigenen Stand auf dem Bahnsteig E. Genau das war es, was dem Bahnhof Ostkreuz fehlte, das Innovative, Durchgeknallte, das Mystische, Geheimnisvolle. Und er, Brauschke, hatte soeben diese Marktlücke entdeckt. Da passte es auch wunderbar, dass sein Ein-Euro-Job gerade auslief; er also genügend Zeit für Neues hatte.

Am nächsten Tag ging es los. Gemeinsam mit seiner Frau Roswitha brachte er den alten Klapptisch aus dem Schrebergarten wieder auf Vordermann und besorgte sich Tüten und feuchte Tücher aus einem der zahlreichen Billigmärkte. Die Gattin besprühte die Tücher mit geheimnisvollen Düften aus ihrem Parfümschrank und beschriftete sie sorgfältig. Brauschke beschloss, erst einmal drei Sorten anzubieten: Träume von einem Lottogewinn, Träume von einer schönen Frau und Träume vom Chefposten. Roswitha erwies sich als wahre Perle, sie etikettierte die Tüten so liebevoll, dass sie schließlich sowohl hand made als auch professionell wirkten. Ein Label hatten sie sich auch ausgedacht: "Brauschkes Traumfabrik" sollte ihr Miniunternehmen heißen.

Brauschke besorgte sich eine Standgenehmigung und baute am Montag Morgen seinen Klapptisch auf Bahnsteig E auf. Das Firmenschild hing als Tuch vor dem Tisch, die Tüten waren ordentlich und übersichtlich platziert. Der frisch gebackene Businessman spürte ein unbestimmtes Kribbeln im Bauch. Würde seine Geschäftsidee einschlagen oder stand ihm eine Blamage bevor? Vielleicht fanden die Leute seine Idee ja albern? Doch schnell verdrängte er die Zweifel, schließlich hatte er nichts zu verlieren.

Mittags hielt es Roswitha, die daheim geblieben war, vor Neugierde nicht mehr aus. Würde ihr Bruno resigniert und einsam an seinem Klapptisch stehen? Frieren und insgeheim über seine verrückte Idee fluchen? Wer kaufte schon Träume? Just in diesem Moment klingelte es. Bruno stand draußen mit strahlendem Gesicht. "Roswitha, wir machen Karriere! Ich habe alle Träume verkauft und brauche allerdringlichst Nachschub!" Begeistert erzählte er, dass die Leute erst zögerlich, dann immer häufiger an seinem Klapptisch stehen geblieben waren und zum Schluss hatte sich sogar eine kleine Schlange von immerhin zwei Personen gebildet! Wie gut, dass es bei der S-Bahn ständig Verspätungen gab, dadurch hatten die Fahrgäste viel Zeit. Ungestüm umarmte er seine Roswitha und drehte mit ihr eine Runde Polka durch die Küche, was wahrlich schon lange nicht mehr vorgekommen war.

Nun starteten sie richtig durch. Brauschke besorgte sich einen stattlichen Vorrat an Traumtüten und erweiterte auch sein Sortiment. Auf die Idee hatten ihn seine Kunden gebracht, die nach den verrücktesten Träumen fragten. So bot er jetzt auch "Träume von einer Kreuzfahrt", "Träume vom Auswandern", "Träume von einer flinken Sekretärin" und "Träume von einer eisernen Gesundheit" an. Besonders gut lief auch das Sortiment "Albträume", was er gerne als Geschenkidee für Schwiegermütter anpries. Gerade zu Weihnachten entpuppte sich diese Traumrichtung als echter Renner. Eine Variante hatte er allerdings wieder vom Markt nehmen müssen, das waren die "Träume von einem fülligen Haarwuchs". Hier hatte er nach dem Verkauf zweimal Beschwerden erhalten, dass die Träume nichts helfen würden. Trotz seiner Erklärung, dass er ja kein Haarwuchsmittel, sondern nur den Traum davon verkaufe, waren die Kunden unzufrieden davongegangen. Sein Konzept sollte aber ein voller Erfolg sein und da er kein Risiko eingehen wollte, nahm der die Träume von einem fülligen Haarwuchs seufzend wieder aus seinem Angebot.

Auch äußerlich hatte sich der Stand von Brauschkes Traumfabrik erheblich verändert. Der Klapptisch war wieder in den Schrebergarten verbannt worden; ihn hatte er gegen einen Kiosk ausgewechselt. Das Logo prangte professionell auf dem Dach des Kiosks, fand sich aber auch auf den Traumtüten wieder, die Brauschke inzwischen von einer Agentur drucken ließ. Er selbst hatte die Freizeitjeans gegen eine schicke Bundfaltenhose eingetauscht, das Baumwollnicki gegen ein Marken-T-Shirt mit Logo "Brauschkes Traumfabrik", ebenfalls von der Agentur hergestellt und passendem Basecap. Seine Roswitha hatte inzwischen ihren 400-Euro-Job bei Kaiser's aufgegeben und ging ihm vollzeit zur Hand. Anders war der Andrang auch gar nicht zu meistern. "Brauschkes Traumfabrik" war zu einem Markennamen geworden, es hatte sich herumgesprochen, dass hier am Ostkreuz etwas Besonderes angeboten wurde, sowohl durch Mundpropaganda als auch durch Brunos wöchentliche Inserate in der Berliner Woche und im Berliner Abendblatt. Brauschke genoss seinen Triumph. Immer wieder kamen Fahrgäste zu ihm und erzählten, dass ein Traum, den sie bei ihm gekauft hatten, in Erfüllung gegangen sei. Einer hatte tatsächlich im Lotto gewonnen und ein anderer endlich die Sekretärin mit Rundumbetreuung gefunden. So etwas hörte er nicht nur gerne, er nahm es auch gleich in seine Werbung für die nächsten Traumtüten mit auf.

Nach einem Jahr war Brauschke als Geschäftsmann ganz oben angekommen. Doch nicht nur das, er hatte auch eine gewisse Summe Erspartes beiseite gelegt, denn auch er besaß einen Traum - endlich einmal mit Roswitha auf dem Luxusliner Aida einschiffen. Nun hatten sie fest gebucht, Oberdeck mit Außenkabine, das war drin im Budget. Für zwei Wochen würde der Kiosk auf Bahnsteig E am Ostkreuz verwaist bleiben.

Brauschkes genossen die Kreuzfahrt in vollen Zügen. Wie schön doch das Leben war! Nur manchmal dachte Bruno etwas zu häufig an die Arbeit, wie Roswitha fand. Eines Abends saßen sie auf dem Oberdeck in ihren Liegestühlen, fürsorglich in dicke Wolldecken gehüllt und blickten in den Sternenhimmel. Bruno tastete nach Roswithas Hand. "Weißt Du, wenn wir wieder zuhause sind, sollten wir unser Geschäft mit den Träumen expandieren. Wir könnten Filialen gründen und Leute einstellen." Als er das skeptische Gesicht seiner Frau sah, fügte er beschwichtigend hinzu:"Vielleicht müsstest Du dann gar nicht mehr arbeiten, bleibst zuhause, ich verdiene ja genug." Sie strahlte. Ja, das wäre nach ihrem Geschmack, der Verkaufsstress war ihr ehrlich gesagt schon längere Zeit etwas unheimlich geworden. Eifrig stimmte sie zu und bot ihrerseits an: "Vielleicht könntest Du dir dann ein eigenes Büro einrichten und den Außendienst Deinen Angestellten überlassen?" Geschmeichelt nickte der Gatte. "Ja, das will gut überlegt sein. Warum eigentlich nicht?" Auch über Preiserhöhungen würde er nachdenken. Und über einen Buchhalter, der die Schreibarbeit übernehmen könnte. Sie genossen die Zukunftsträumerei und waren rundum glücklich.

An einem Sonntag legte die Aida in Rostock an und die Reise war beendet. Brauschkes eilten mit den Koffern auf den Bahnhof, um auf ihren ICE zu warten, der sie nach Berlin bringen würde. Plötzlich stockten ihre Schritte. Auf dem Bahnhof stand ein Kiosk mit einem Schild: "Käpt'n Brises Traumfabrik". Misstrauisch näherten sie sich und glaubten, ihren Augen nicht trauen zu können. Das Angebot ähnelte dem von Brauschke wie aufs Haar. Nur die Verpackung war anders, die Träume waren in Dosen verpackt. Auch der Preis lag 13 Cent unter dem von Brauschke. Erschüttert schauten sie auf den Ladentisch. Auf der Rückfahrt war Bruno wie vor den Kopf geschlagen. Doch es sollte noch schlimmer kommen. Am Berliner Hauptbahnhof stand ebenfalls ein Kiosk "Träumen Sie sich gesund – Bio-Träume von Pflanzenkuno". Während der S-Bahnfahrt entdeckten sie auf fast jedem Bahnhof solche Kioske. Man kann sich gut vorstellen, wie Brauschkes zumute war. Mit hängenden Köpfen zogen sie ihre Rollkoffer hinter sich her. Am Ostkreuz schließlich der letzte Schlag. Auf Bahnsteig A stand ebenfalls ein solcher Kiosk.. Der Verkäufer sah ihre sauren Gesichter und rief ihnen zu: "Wie wäre es mit dem Traum vom Glück? Heute im Schnäppchenangebot! Sieht aus, als könnten Sie es gebrauchen!" Roswitha traten die Tränen in die Augen. Stumm drehte sie sich weg und stolperte davon. Bruno war schon ein ganzes Stück vor ihr. Sein Rücken gebeugt, die Schultern hängend. Ein elender Anblick. Der Traum von der Marktlücke war ausgeträumt.

Löwes Land

 

Holger Hermann
Löwes Land

 

Es war an einem betongrauen Sonntagmorgen, als ich neun Jahre alt war. Über ganz Stralau lag kirschblütenweißer Schnee. Nicht nur die Halbinsel, sondern auch die ganze dazugehörende Bucht war mit dem gegenüberliegenden Rumelsburger Festland zusammen gefroren. Bis heute war es der einzig wirklich klirrend kalte lange Winter, den ich je in der Stadt erlebt habe. Die Stromversorgung brach teilweise zusammen. Züge fuhren nicht mehr, Betriebe stellten ihre Produktion ein und selbst die Kohlen zum Heizen meiner Schule gingen aus, weil die Braunkohletagebaue einfach eingefroren waren.

Damals wäre ich beinahe ins Eis eingebrochen. Ich bin dem Einbruch knapp entgangen, doch dafür zerbrach vieles in mir, von dem, was mir wichtig war.Es vergingen Jahre, bis ich mich von diesem Morgen erholt hatte. Jahre, die ich für immer verloren habe.

Meine ganze Kindheit habe ich auf dieser Halbinsel verbracht. Zu jener Zeit war es nicht, wie heute, ein neues begehrtes Wohnviertel an der Spree, mit breiten gut gesicherten Uferwegen, sondern eine verlebte Industriegegend mitten in der Stadt. Nur wenige Bewohner lebten, verstreut zwischen alten Fabriken und Hafenanlagen auf ihr.

Obwohl der belebte Bahnhof Ostkreuz nur einen Steinwurf entfernt lag, war die Gegend sehr abgeschieden. Es war, als würde eine unsichtbare Mauer sie von der übrigen Stadt trennen. Als Kind waren es nur die Geräusche der Stadt, des Plänterwalds, der Ausflugsschiffe, der Züge, die mich davor abhielten, nicht gänzlich zu glauben, mich in einem verlassenen Dorf zu befinden.

Die Wohnung meiner Eltern befand sich in einem langsam verfallenen Gründerzeithaus in der einzigen reinen Wohnstraße der Halbinsel. Der Blick aus dem Fenster meines Kinderzimmers, welches nach hinten raus ging, fiel auf einen schmalen kalten Hof. Hohe Mauern nahmen jede weitere Sicht. Auch die kleine trostlose Wohnstrasse endete nicht am Wasser, sondern an der Mauer eines alten Glaswerkes. Überhaupt gab es nur sehr wenige Stellen, an den man zum Wasser gelangen konnte. Die Kinder und Erwachsenen der Strasse benutzten deshalb, wenn in der Glasfabrik nicht gearbeitet wurde, einen alten Schleichweg entlang des schlecht gesicherten Werksgeländes zum Ufer der Bucht.

Mein bester Freund, Löwe, wohnte im Haus gegenüber. Eigentlich hieß er Richard, aber alle nannten ihn Löwe. Er war ein schmächtiges, aber ungemein liebenswürdiges Kind mit blonder Wuschelmähne und beinahe mädchenhaften Gesichtszügen. Löwe ging auf eine Musikschule, und ich besuchte ihn oft, um mit ihm zu spielen. Vor allem aber um ihn auf dem Klavier zu hören. Es freute mich regelrecht, dass, wenn wir uns sahen, er immer erst noch eine Weile üben musste. Ich saß dann in einem alten Ledersessel neben dem schwarzen Klavier und lauschte seinem immer besser werdenden Spiel.

Im Gegensatz zu ihm und zu den anderen Kindern war ich für mein Alter ungewöhnlich groß und robust. Fünf mal die Woche ging ich zum Schwimmen. Ab nächstes Schuljahr sollte ich auf ein bekanntes Sportinternat gehen.

In den Zeitungen und im Radio wurde wie immer, wenn sich das erste Eis gebildet hat, davor gewarnt, es zu betreten. Ebenso hatten die Lehrer in der Schule und meine besorgten Eltern mich über die Gefahren belehrt. Für mich wiederum war es jedes Jahr das Signal, mich heimlich auf den Weg zur Bucht zu machen. Die ganze Woche über hatte ich den Sonntag ersehnt. Meine Eltern schliefen dann immer lange. Kaum war es hell geworden, machte ich mich auf den verbotenen Trampelpfad über das alte Glaswerk auf.

Löwe war auch schon auf und kam ebenfalls nach draußen. Obwohl wir die ganze Woche über nichts anderes geredet hatten, fragte er ernsthaft. "Wo willst du hin?" "Ich will zur Bucht", sagte ich ebenso feierlich. "Vielleicht ist sie schon zugefroren, und man kann über das Eis bis zur anderen Uferseite laufen." Freudig schloss er sich mir an. Schnell liefen wir über das Fabrikgelände ohne uns wie sonst mit den unzähligen leeren Glasflaschen und verfallenen Industriegebäuden zu beschäftigten. Wir setzten uns auf die alte Kaimauer und betrachteten schweigend die unberührte Bucht. Der Winter mit seiner majestätischen Ruhe prägte die Landschaft. Soweit wir sehen konnten, war Eis, sanft überzogen mit einer frischen Decke Schnee. Lachend rief Löwe: "Wir sind die Entdecker dieses unbewohnten Landes". Spöttisch rief ich: "Ja, bis der Frühling es wieder klaut, heißt es: Löwes Land". In der Mitte des Eises lag ein schwarzer Punkt, der unsere Aufmerksamkeit erweckte.

Vorsichtig tasteten wir uns auf das Eis. Es trug uns, und wir wagten uns immer ausgelassener weiter vorwärts. Rasch kamen wir dem schwarzen Punkt näher. Dazwischen entdeckten wir unzählige eingefrorene Glasflaschen, Möbelstücke, Autoreifen. Häufig versuchten wir vergebens einiges davon aus dem Eis heraus zu brechen. Der schwarze Punkt entpuppte er sich aus der Nähe als eine große schwarze Holzkiste. Wahrscheinlich stammte sie aus einer der Fabriken und war irgendwann ins Wasser gefallen und wieder hochgekommen. Vor der Kiste stehend, entdeckte ich um sie herum feine Risse im Eis. "Lass uns lieber verschwinden", sagte ich zu Löwe. Aber er schien mich nicht mehr zu hören. Er wollte nur noch die Kiste öffnen. Mein Versuch, ihn von der Kiste wegzuziehen, stachelte ihn umso mehr an. "Lass mich", rief er wütend. Zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, wollte er etwas ganz alleine bewältigen. Beleidigt ging ich ein Stück in Richtung Ufer zurück.

Enttäuscht rief seine Stimme einen Augenblick später, als er den Deckel der Kiste endlich aufbekommen hatte: "Ist leer". "Löwe, das Eis bricht, komm jetzt". Die Risse dehnten sich unmerklich. Aus früheren Beobachtungen wusste ich, das Eis würde gleich brechen. Einer Eingebung folgend, drehte ich mich und lief los. Im gleichen Moment zerbrach das Eis um Löwe tatsächlich. Kurz vor dem Brechen des Eises hörte ich noch ein anderes Geräusch, welches als Flüstern begann und schließlich sich wie das Zerreißen von Papier anhörte. Ich blieb stehen und schaute nach hinten. Das Wasser kam gleichzeitig, ein gurgelndes Geräusch produzierend, von überall hervor. Löwe starrte fassungslos auf seine blitzschnell im Wasser versinkenden Füße. Erst sein endgültiges Einbrechen erweckte ihn aus seiner Erstarrung. Als er anfangen wollte, weg zu rennen, war es schon zu spät. Die Kiste versank laut krachend und nahm Löwe mit unter das Eis. Löwe war verschwunden. Verzweifelt wollte ich zu ihm zurücklaufen und ihn aus dem Wasser zerren. Aber als ich in seine Richtung lief, schnitten mir meine Angst und das immer weiter aufbrechende Eis nach ein paar Schritten den Weg ab. Noch einmal tauchte er kurz auf und versank wieder unter das Eis. Weder schrie er dabei um Hilfe, noch versuchte er zu schwimmen oder sich an ein Stück Eis zu klammern. War er bewusstlos? Er sah mich nur kurz fragend an, dann sackte sein Kopf nach vorne, als würde er mich nicht mehr ansehen wollen. Wie erstarrt, unfähig mich zu bewegen, stand ich da. Ich spürte, wie sich in mir etwas verhärtete. Dann war es plötzlich ganz still, so als hätte jemand einfach den Ton ausgemacht. "Hilfe, Hilfe", brach es verzweifelt aus mir heraus, als meine Stimme wieder einsetzte. Kläglich füllte sie den leeren Raum, und ich rannte kopflos in Richtung Ufer. Zwei Männer und ein Hund kamen mir entgegen. Sie hatten anscheinend alles beobachtet und rannten zu Löwe. Kaum waren sie an mir vorbei gelaufen, fiel ich hin und verlor mein Bewusststein.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich in einem Zimmer im Krankenhaus.

Zwei Tage hatte ich geschlafen und hohes Fieber gehabt. Die beiden Männer hatten Löwe nicht mehr retten können. Als sie ihn aus dem Wasser zogen, war er schon tot. Die Kiste hatte sein Genick zerbrochen.

Löwes Eltern verzweifelten in ihrer Trauer und zogen nach seiner Beerdigung fort. In den wenigen Gesprächen bis zu Ihrem Weggang warfen sie mir jedoch nie vor, dass ich ihn mit zur Bucht genommen hatte und nicht gerettet hatte. Sie sagten, dass ich Löwe wie einen Bruder geliebt hätte. Auch meine Eltern sprachen nie wieder darüber. Aber meine Seele hielt mich für schuldig. Sie wusste, dass ich Löwe hätte retten können. Kurz bevor das Eis brach, hätte ich es noch schaffen können, ihn wegzuziehen.

Aber meine Angst hatte mich überwältigt, und ich hatte nur mich alleine gerettet. Damit begannen meine Alpträume, und bald zogen auch wir von der Bucht weg. Gegen meine Alpträume half der Umzug wenig. In meinen Träumen sah ich Löwe. Fragend sah er mich an, um dann sich, für mich schämend, den Kopf nach unten zu senken, hinab in sein eisiges Grab. Ich hörte auf mit Schwimmen. Viele Jahre ging ich überhaupt nicht an einen See, auf ein Schiff oder in ein Schwimmbad. Später wurde ich Buchhalter. Zwar hatte ich Freundinnen, blieb aber bei keiner länger. Ich konnte nicht mit ihnen zusammenleben. In fast jeder Nacht dieser Jahre kamen Schuldgefühle und Alpträume unerbittlich zurück und bestimmten auch am Tage mein Leben.

Dann erhielt ich eines Samstagmorgens ein Paket von einem Nachlassverwalter mit einer alten Schallplatte. Löwes Mutter, von der ich seit seiner Beerdigung nie wieder etwas gehört hatte, war wie ihr Mann ein Jahr zuvor, gestorben. Sie hatte mir nur die Platte vermacht. Die Aufnahme war von Löwes Kinderorchester eingespielt. Löwe spielte bei mehreren Liedern am Klavier. Es war sogar ein Solostück, die "Ballade Pour Adeline", nur von ihm alleine gespielt, darauf. Während unserer Kinderzeit war sie durch die Version von Richard Clayderman sehr populär. Tag um Tag hörte ich immer wieder Löwes Interpretation an, und irgendwann begann sich in mir etwas zu lösen. Vor mir erschien Löwes treuherziges kindliches Gesicht. Eine innere Stimme sagte mir: "Geh zur Bucht zurück".

Ein paar Wochen später zog ich in eine kleine Wohnung in meiner alten Strasse. Ich hätte mir nie vorstellen können, wie die Gegend sich seit damals verändern würde. Die Fabriken und auch das Glaswerk sind bis auf ein paar vereinzelte Häuser abgerissen. Der Blick ist dadurch aus den Zimmern meiner Wohnung frei und man kann jederzeit zum Wasser gehen. Den Bahnhof kann man nun auch sehen und nicht nur hören. Die Halbinsel ist wieder Teil der Stadt.

Von meinem Wohnzimmerfenster aus kann ich wie früher auf Löwes inzwischen saniertes Wohnhaus sehen. Dort wohnen jetzt hauptsächlich junge Familien mit Kindern. Fast jeden Morgen gehe ich auf den Uferweg in die neue große Schwimmhalle schwimmen. Manchmal im Winter, wenn die Bucht zugefroren ist, bleibe ich stehen und sehe dann für einen kurzen Augenblick "Löwes Land" zurückkehren.

Meine Alpträume sind verschwunden und in den Nächten finde ich wieder Schlaf. Ich weiß, mein Leben neigt sich und ich werde vieles, was ich versäumt habe, nicht mehr nachholen können. Aber ich bin glücklich, nicht weiter von meinen Alpträumen gequält zu werden. Löwes Klavierspiel und die Zeit haben mich geheilt.

Träumen am und über Ostkreuz

 

Siegfried Matzka
Träumen am und über den S-Bahnhof Ostkreuz

 

Der S-Bahnhof Ostkreuz, der gewiß größte und bedeutendste, wie wohl auch der älteste Knotenpunkt der Berliner S-Bahn, besitzt schon eine lange und turbulente Geschichte. Ohne die S-Bahn wäre ein städtisches pulsierendes Leben in dieser Riesenstadt Berlin nicht möglich. Dieser bunten Ansammlung von vielen Dörfern und Gemeinden, kleinen Städten und Ortschaften, rund um die eigentliche, fast noch mittelalterliche Residenzstadt Berlin, die alle schon in der Gründerzeit des 19.Jahrhunderts mehr und mehr und zunehmend in rasantem Tempo zueinander zusammenwuchsen, und Berlin selbst die erste Millionenstadt des Deutschen Reiches wurde, und die dann 1920 mit dem Zusammenschluß dieses ganzen Sammelsuriums umliegender brandenburgischer, damals sagte man eher "märkischer", Ortschaften mit Berlin zur Riesenstadt Groß-Berlin wurde und einen weiteren bedeutenden Wachstumsschub erlebte. Ohne diese S-Bahn, wie sollte das gehen?

Und mit dem Bau der Ringbahn bekam das Ostkreuz eine herausragende Bedeutung als Umsteigebahnhof für die Ringbahn, die Stadtbahn und die Außenstrecken zu den Berliner Vororten.

Aber das Ostkreuz war vor allem nach dem 2.Weltkrieg immer ein Provisorium gewesen, nach den Zerstörungen durch die Bomber der Alliierten, wie auch durch die Artillerie und die Kampfhandlungen der unaufhaltsam heranrückenden Roten Armee, gegen Ende des Krieges, aus dem Osten und Südosten des Umlandes. Was davon übrig blieb, fiel weitgehend den Demontagen durch die Besatzungsmacht zum Opfer, beispielsweise die komplette S-Bahnstrecke nach Erkner.

Aber schon bald nach dem Ende der Naziherrschaft begann die Wiederherstellung des S-Bahnnetzes. Die auch für die Siegermächte so bittere, weil so schwer erkämpfte und verlustreich erzwungene bedingungslose militärische Kapitulation der faschistischen Wehrmacht ließ alle Optionen für das besiegte Deutschland offen. Bedingungslos - ein sehr bedeutungsvoller Begriff, schicksalsschwer, ungemein bedrohlich! Aber was nützt dem Sieger eine völlig zerstörte, entvölkerte, ausgehungerte, funktionslose Stadt? Also war es sinnvoll, diese Riesenstadt wieder aufzurichten, die Zerstörungen schnellstmöglich zu beseitigen, den Wiederaufbau voranzutreiben, die Lebensgrundlagen dieser Stadt wieder herzustellen und den Berlinern eine neue Zukunft zu bieten. Und dazu gehörte nicht unwesentlich die Wiederherstellung des städtischen öffentlichen Nahverkehrs.

Die Träumer vom Ostkreuz - das betrifft wohl im besonderen Maße die Älteren von uns, die mit diesem Bahnhof so viele Erinnerungen verbinden. Träumen heißt ja auch sich erinnern, wie es mal war, was alles stattgefunden hat, wo man dabei gewesen ist, aber auch, was in der Gegenwart ist, was werden kann und sollte, wie auch, was entstehen wird. Also, beispielsweise die Wiederherstellung der Südkurve, deren Brücke über den Markgrafendamm zerbombt war. Über jene Straße, die an ihrem nördlichen Ende mit ihrer starken Kurve in die Hauptstraße Richtung Rummelsburg mündet. Und da nach Kriegsende mehr oder weniger alles völlig am Boden lag, war es wohl von deutscher Seite aus nicht möglich, gleich wieder Brücken bauen zu können, denn es mangelte buchstäblich ja an allem. Also haben russische Pioniere, wie es heute noch heißt, diese Brücke der Südkurve wieder neu errichtet. Und so steht sie noch heute unverändert. Allein ein neuer Anstrich schon vor Jahrzehnten hätte ihr sicherlich auch gut getan. Und das ist typisch Ostkreuz. Wichtig war und ist, daß die Brücke verkehrssicher ist, und das ist sie wohl auch bis heute. Auf Äußeres wurde auf diesem Bahnhof nie Wert gelegt, deshalb ist schon so viele Jahrzehnte auch so häßlich.

Wer sich noch erinnern kann, der weiß, daß das Verkehrsaufkommen in früheren Jahren, also in den Fünfzigern bis zum Ende der achtziger Jahre, wesentlich größer war als heute. Hier war dichtestes Großstadtleben, brodelnder Verkehr,beängstigendes Gedränge, turbulentes Treiben und hektisches Leben hautnah zu erleben. Zigtausende Menschen drängelten hier beim Ein-, Aus- und Umsteigen über die Bahnsteige, Treppen und Wege, schubsten und stolperten, eilten und hasteten den ganzen Tag über in allen Richtungen. Und das besonders zu den Hauptverkehrszeiten morgens und abends. Oftmals war es schwer, währenddessen die Treppen rauf oder runter zu kommen. Überall drängten und schoben sich die Massen mühselig voran. Man hatte vielfach den Eindruck, der Bahnhof ist viel zu klein geworden. Rund um das Ostkreuz gab es viele große Industriebetriebe, mit Tausenden von Beschäftigten, wie auch viel kleine Handwerks- und Gewerbebetriebe, letzteres vor allem im Friedrichshainer Gebiet, dem ehemaligen Boxhagen. Also auch hier das verbreitete Berliner Prinzip: Vorne wohnen, hinten arbeiten, also Handwerk und Gewerbe. Die Großbetriebe waren vor allem direkt neben dem Ostkreuz. Das Berliner Bremsenwerk (BBW), vormals die KNORR-Bremse, traditionsreich und weltbekannt, mit seinen Bremssystemen, besonders für Eisenbahnen, vor und während des Krieges wie die meisten ein Rüstungsbetrieb, danach deshalb enteignet und zurück in den ursprünglichen Fertigungsbereich, unter neuem Eigentümer. Dann gleich nebenan der VEB Elektroprojekt und Anlagenbau, nach dem Krieg neu entstanden, (ELPRO), der zum Teil mit im großen Knorr-Gebäude beheimatet war. In dieses imposante Bauwerk zog nach der Zerschlagung der DDR-Industrie durch die Treuhand die BFA (Bundesversicherungsanstalt für Angestellte) ein, dafür kamen Erweiterungs- und Neubauten hinzu. Und auf dem Platz der heutigen Victoria-Höfe standen die Werkhallen und Produktionsstätten von ELPRO.

Dann war in der Neuen Bahnhofstraße/Gürtelstraße, also gleich um die Ecke vom BBW, der VEB MESSELEKTRONIK, ein großer arbeitskräftereicher Ingenieurbetrieb. Auf der Halbinsel Stralau war das traditionsreiche und bedeutende GLASWERK STRALAU, ferner die Brauerei ENGELHARDT, sowie mehrere Werften und Einrichtungen der Binnenschiffahrt, u.a. die HANSAWERFT. Heute noch sieht man schon von weitem das imposante Gebäude des alten ÖLSAATENSPEICHERS. Über die Spree geschaut,waren da die ELEKTRO APPARATE WERKE (EAW). Die vielen tausend Arbeiter und Angestellten dieses sehr großen Industriebetriebes, die aus den östlichen oder südöstlichen Bezirken Berlins kamen, mußten ja in Ostkreuz umsteigen. Wie auch die Werktätigen, die mit der Ringbahn aus dem Norden Berlins kamen und zum BERLINER GLÜHLAMPENWERK (BGW) wollten, vormals OSRAM und später, ab den sechziger Jahren NARVA, an der Warschauer Brücke. Gegenüber, über die Bahngeleise, befand sich das RAW "Franz Stenzer"(Reichsbahnausbesserungswerk), benannt nach einem antifaschistischen Widerstandskämpfer und Eisenbahner. Außerdem war da noch direkt an der Warschauer Brücke der Großbetrieb VEB KÜHLANLAGENBAU. Nach 1989 war darin das Bezirksamt von Friedrichshain einquartiert. Und nicht zu vergessen, direkt am Ostkreuz die Ingenieurschule für Schwermaschinenbau und Elektrotechnik (ISE) mit ihren Aberhunderten von Studenten. Bei den Großbetrieben galt natürlich nicht das alte Berliner Prinzip "Vorne wohnen, hinten arbeiten". Deren unzählige Beschäftigten kamen ja aus allen Bezirken Berlins, und das zumeist mit der S-Bahn. Und das ließ besonders werktags auch das Ostkreuz "brummen".

Aber nicht nur mit der Zerschlagung der DDR-Industrie nach ihrem Ende sind diese gewaltigen Fahrgastströme ausgeblieben. Auch mit der hermetisch abgeriegelten Teilung der Stadt durch den Bau der Berliner Mauer vollzog sich eine wesentliche Veränderung.

So verlor auch die Nordkurve des Bahnhofs Ostkreuz an Bedeutung und ihr Betrieb wurde 1966 eingestellt.

Die Nordkurve und die Südkurve, die, vom Nordring und vom Südring kommend, beide am Bahnsteig A und seinen beiden Außenbahnsteigen B und C in die Stadtbahn mündend, wobei die Südkurve in beiden Richtungen befahrbar war und bis heute ist, während die Nordkurve nur allein vom Nordring der Ringbahn in die Stadtbahn führte, konnten ihren Betrieb erst recht spät wieder aufnehmen, nach dem Beseitigen der Kriegsschäden und dem mühseligen Wiederherstellen der Bahnanlagen, die Südkurve ab 1946, die Nordkurve ab 1951. Letztere war auch nicht so bedeutend, wie schon erwähnt, war sie nur in einer Richtung befahrbar.

Der Bahnsteig A, der ja der ursprüngliche Kern des Bahnhofs "Stralau-Rummelsburg" war und so bis 1933 hieß und erst dann, als Gegenstück zum "Westkreuz", mit Vollendung des elektrifizierten Vollrings in "Ostkreuz" umbenannt wurde, dieser Bahnsteig A, besonders seine beiden Außenbahnsteige B und C, die durch einen Fußgängertunnel unter dem Bahnsteig A verbunden waren und einen eigenen Ein- und Ausgang zur Sonntagstraße/Revaler Straße hatten, verloren so ihre Bedeutung. Außerdem machte die fortschreitende Baufälligkeit, besonders am Bahnsteig C, die Schließung und Stillegung 1966 erforderlich. Die Nordkurve wurde seitdem gar nicht mehr befahren, die durchgehenden Züge gab es nicht mehr, durch Umstellung des Fahrregimes nach 1961. Und die Züge, von Mitte und Ostbahnhof kommend und schon zu DDR-Zeiten nach "Flughafen Schönefeld" fahrend, rauschten am Ostkreuz ohne Halt durch, beides wie heute auch noch. So hieß es immer in den vorhergehenden Stationen in den Ansagen für den Schönefelder Zug:"Hält nicht in Ostkreuz!"

Träumen am Ostkreuz! Ich kann mich gut erinnern, wie zu Beginn der sechziger Jahre der Bahnsteig A mitsamt seinen beiden Außenbahnsteigen B und C auch sehr belebt war. Allerdings gab es die direkte Fußgängerverbindung vom Bahnsteig A zum Ausgang Markgrafendamm nach dem Krieg nicht mehr. Beim Wiederaufbau der Brücke der Südkurve über den Markgrafendamm durch die russischen Armeepioniere Ende 1945/Anfang 1946 hat es für die Wiederherstellung des Fußgängersteges neben der Stahlträgerkonstruktion der Schienenbrücke nicht mehr gereicht oder wurde für nicht so wichtig angesehen. Auch hier wieder die Beobachtung: Immer nur das Nötigste erledigen! In all den vielen Jahren des Mangels in den Wiederaufbaujahren nach dem Krieg war es von Anfang an so und blieb es auch. Diese Art zu reparieren, wieder instandzusetzen, neu zu bauen zieht sich bis heute wie ein roter Faden durch die Nachkriegsgeschichte des Ostkreuz-Bahnhofs. Nun, nach so vielen Jahren der Verzögerung in Sachen Generalrekonstruktion des Bahnhofs Ostkreuz und dem endlichen Neuanfang dessen soll es ja nun ganz anders und richtig gut werden.

Wer also auf dem Bahnsteig A, wie auch B oder C ausstieg und zum Ausgang Markgrafendamm wollte, mußte erst zu einem der unteren Bahnsteige D oder E die Treppe hinabsteigen und dann die Treppe der großen Fußgängerbrücke wieder hinauftraben, danach die Treppe zum Eingangsgebäude am Markgrafendamm wieder hinunterstiefeln. Wahrlich nicht fahrgastfreundlich! Fahrstühle hat es auf dem Bahnhof Ostkreuz nie gegeben.

Aber die Fußgängerbrücke von Nord nach Süd, quer über den Bahnhof, also vom Eingangsgebäude an der Sonntagstraße zu jenem am Markgrafendamm, war schon sehr beeindruckend. Sie wurde nach den Plänen von Richard Brademann gebaut, dem wohl bedeutendsten Berliner S-Bahnarchitekten. Er lebte von 1884 bis 1965, war ein Baumeister der "Neuen Sachlichkeit". Später bezog er expressionistische Elemente in seine Architektur ein, etwa am Bahnhof "Wannsee". Von ihm stammen auch die beiden genannten Eingangsgebäude im Ostkreuz. Er baute u.a. auch die Bahnhöfe "Bornholmer Straße", den Bahnhof "Humboldthain", den Bahnhof "Wannsee", die Bahnsteige der Nord-Süd-Bahn im Bahnhof "Friedrichstraße", wie auch die Bahnhöfe "Unter den Linden" und "Oranienburger Straße" der gleichen Strecke, das Funktionsgebäude am Bahnhof "Halensee", außerdem auch den weiter außerhalb liegenden Bahnhof "Sundgauer Straße" der Wannseebahn. Seine Bahnhofsbauten waren verbunden und gingen einher mit der Elektrifizierung des Vollrings und der bedeutenden Außenstrecken der S-Bahn, wie beispielsweise der Wannseebahn. Dies alles in der zweiten Hälfte der Zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts.

Was Alfred Grenander für die Bahnhöfe der Berliner U-Bahn (BVG) war, das bedeutete vergleichsweise Richard Brademann für die Berliner S-Bahn. Solche Baumeister müßte es heutzutage wieder geben! Davon kann man träumen, wenn man heute auf der provisorischen Fußgängerbrücke steht, denn die Brademannsche Brücke wurde kürzlich aus Gründen des Baugeschehens und der nötigen Baufreiheit für die Rekonstruktion abgerissen. Sie soll aber originalgetreu wieder aufgebaut werden. Sie war ja nach 1945 sowieso nicht mehr original, denn besonders der südliche Teil des Bahnhofs, also zum Markgrafendamm hin, war stark kriegszerstört. Betroffen war nicht nur die Südkurve, sondern auch das Eingangsgebäude, das fast völlig zerstört war, wie auch die südliche Hälfte der Fußgängerbrücke.

Auch hier, beim Wideraufbau dieses Brückenteiles war das Notwendige zu tun, nur hinreichend zum sicheren Betrieb wiedererrichten, nicht mehr! Das war auch hier das beim Ostkreuz nach 1945 übliche Prinzip. So habe ich mich immer gewundert, daß die solide Überdachung der Brücke direkt am Abgang zum Bahnsteig E (Erkner) abrupt aufhörte, so auch die Holzdielenbeplankung ab hier in Betondielen überging; und der Treppenabgang zum Markgrafendamm auch irgendwie anders war und aus dem Rahmen dieses Brückengebäudes herausfiel.

Die Fußgängerbrücke hieß auch umgangssprachlich "Rennbahn", sicherlich ein sehr treffender Spitzname, denn alle ihre Passanten hatten es immer eilig. "Keine Zeit, keine Zeit, keine Zeit!", so heißt es schon bei Kurt Tucholsky über das Berlin in den Zwanziger Jahren. Beim Zugang von der Sonntagstraße war die jeweilige Situation auf den ebenerdigen (D und E) Bahnsteigen etwas übersichtlicher als beim Betreten vom Markgrafendamm her, man konnte sogleich sehen, auf welchem der beiden Bahnsteige gerade ein Zug einfuhr, und dabei war es ganz egal, ob dieser Zug gerade nach stadteinwärts oder stadtauswärts kam. Die Bedeutung hing davon ab, wohin man selber gerade wollte. Und wenn man den für sich zutreffenden Zug in den Bahnhof einfahren sah, dann galt es, schleunigst und schnurstracks die Treppenstufen der Fußgängerbrücke hinauf zu hetzen, möglichst zwei Stufen auf einmal, oben den Gang entlang hasten, rennen, springen, stürmen, je nachdem, wozu man fähig und gerade in der Lage war, dann den entsprechenden Treppenabgang hinunter stürzen, möglichst wieder zwei Stufen auf einmal, dieses hing von den sportlichen und turnerischen Fähigkeiten des Hastenden ab, um so, wenn man nicht gerade zwischendurch hinstürzte, den begehrten Zug doch noch zu erreichen, bevor einem die Türen vor der Nase zuschlugen und man das Nachsehen hatte. Deshalb die Bezeichnung "Rennbahn".

Es war eine allgemeine Gepflogenheit, daß Passanten, die stadteinwärts fahren wollten und ihren Zug gerade verpaßt hatten, oben im Durchgang der Fußgängerbrücke standen und gespannt durch die Scheiben der recht hoch angesetzten Fenster starrten, um möglichst frühzeitig mitzubekommen, auf welchem Bahnsteig der für sie nächste Zug einfuhr, um dann eiligst die entsprechende Treppe hinab zu hetzen. Und wenn ich einmal selber hin und wieder in solcher kurzen Wartezeit zwischen den beiden möglichen Treppenabgängen stand und auf den für mich nächsten Zug lauerte, und hinter mir so unendlich viele eilige Passanten vorbeihasteten, konnten deren Geräusche und Töne, die sie mit ihren Schuhsohlen und Absätzen auf den Holzplanken des Fußbodens der Brücke hervorriefen, in der vielartigen Unterschiedlichkeit schon sehr leicht träumerisch in eine ferne entrückte Welt entführen. Davon fiel mir oftmals eine mögliche geheimnisvolle Vorstellung von einem fernen vorzeitlichen afrikanischen Urwaldtrommeln längst vergangener Eingeborener ein. Dieses Krachen, Poltern, Wummern, Klopfen, das hämmernde Stakkato der spitzen Pfennigabsätze hochhackiger Damenschuhe, aber auch das behäbige Schlurfen, Schaben und Stampfen weicher Gummisohlen, die es nicht so eilig hatten, war schon wie ein unwirkliches Konzert dieser beinahe wie ein riesiges Instrument tönenden Holzdielen des langen Ganges der Brademannschen Fußgängerbrücke; aber, wie gesagt, nur bis zum Abgang des Erkner-Bahnsteiges (E), also nur im überdachten Bereich der Brücke. Auf den anschließenden Betondielen war nichts mehr von solchen verzaubernden, träumerischen, zuweilen phantasiebeflügelnden Tönen und Geräuschen zu vernehmen. Außerdem wirkte die Überdachung der Brücke über den Holzdielen verstärkend wie ein Resonanzkörper. Der besondere Vorteil der Überdachung ist es gewesen, daß man vor Regen sicher und einigermaßen windgeschützt war, während es oben auf der "Brücke", also dem Bahnsteig der Ringbahn (F) von jeher sehr zugig, naß und ungemütlich ist.

Ob bei der wiedererrichteten originalgetreuen Fußgängerbrücke, nach den alten Plänen von Richard Brademann, dem eigentlichen Wahrzeichen vom Ostkreuz, neben dem von 1912 stammenden Wasserturm mit seiner lustigen Pickelhaube, auch wieder solche Holzbohlendielen eingebaut werden, ist wohl durchaus fraglich. Ohne sie, mit ihrem Tönen und Klingen, wird es wohl nicht mehr möglich sein, solcherart zu träumen und seiner Phantasie freien Lauf zu lassen. Aber man wird künftig auch nicht mehr auf den zunächst einfahrenden Zug spitzen müssen, denn die künftigen Bahnsteige D und E werden nach der Richtung eingeteilt, also ein Bahnsteig nur die stadteinwärtsfahrenden Züge (D) und die stadtauswärtsfahrenden auf dem anderen Bahnsteig (E) fahren. Wie schön!

Träumen am Ostkreuz ist gegenwärtig wohl kaum möglich, wo schon seit geraumer Zeit alles nur provisorisch, nüchtern, kahl, zweckmäßig und abrissbedingt häßlich ist. Der morbide Charme dieses ewig unfertigen, immer etwas bröckelnden und abblätternden Bauensembles Ostkreuz, nach dem Krieg immer nur teilweise und notdürftig repariert und nur zweckmäßig funktionstüchtig erhalten, lange schon so stark alternd, wird mit dem neuen, modernen und durch viele Aufzüge so bequemen Bahnhof Ostkreuz für immer erloschen sein.

Schwarze Barbara

 

Günter Dittrich
Die schwarze Barbara

 

Die ältere Frau steht schon fast eine Stunde am Anfang des oberen Bahnsteiges am "Ostkreuz" und schaut in Richtung Bahnhof "Frankfurter Allee". Sie hält sich mit den Händen am Absperrgitter fest. Es sieht von meiner Position so aus, als ob sie sich selbst davor bewahren will auf die Gleise zu treten. Langsam gehe ich auf sie zu. Nur nicht erschrecken, denke ich, sonst rennt sie wirklich los...

Endlich bin ich auf ihrer Höhe. Wir sind beide fast gleich groß und könnten auch gleich alt sein. Die Gesichtszüge der Frau kommem mir bekannt vor. Die grauen Haare nicht aber der kleine freche Pferdeschwanz, der von einer schwarzen Stoffschleife zusammengehalten wird und diese braunen Augen. Sie schaut mich an, spricht gleich los: "Keine Sorge, junger Mann, ich will nicht auf die Gleise und ich will nicht unter die S-Bahn geraten... Ich habe nur so vor mich hingeträumt... habe in das kleine Gleisdreieck geschaut... Hier waren mal Trampelwege zu einem kleinen Garten zwischen den Gleisen..."

Bevor sie weiterspricht ergänze ich: "Das eine Gleis führte in Richtung Warschauerstraße und das andere in Richtung Treptow... und dazwischen hatte Opa Barabasch seinen Garten... nicht größer als eine Vierzimmerwohnung, aber mit kleiner Laube und Außenklo..."

Sie strahlt mich mit ihren immer noch feurig wirkenden Augen an und fragt vorsichtig: "Bist du es wirklich, das kleine Kerle aus der 'Fünf A', der schmächtige blonde Junge mit der Klammer im Haar, weil die störischen Haare nicht sitzen wollten und der Zahnklammer, die nicht wollte wie sie sollte...?"

Langsam nehme ich ihre Hände vom Gitter und halte sie fest: "Klein bin ich immer noch, auch wenn in meinem Ausweis mittelgroß steht und die Haare sind mehr grau als blond... ich bin es, der verrückte Gerd aus der 'Fünf A'... und du bist die Barbara Barabacz mit weichem basch hast du immer gesagt. Die schwarze Barbara!"

Sie winkt ab: "Schwarz war mal... gestern... vor Jahren. Ich habe es vergessen, wie so vieles... Deshalb stehe ich ja hier! Warte auf den Tagtraum! So wie früher!"

"Komm Barbara, lass uns auf einer Bank Platz nehmen. Mir werden die Knie weich. Ich dachte nämlich. Du wolltest..."

"Kerle, wo denkst du hin! Ich bin fünffache Großmutter, da springt man nicht vor die S - Bahn! Ich habe den Garten gesucht, Erinnerungen, Kinderfreundschaften. Alles weg. Es sieht so trostlos aus, seitdem die hier bauen. Reißen alles ab... auch Erinnerungen!"

Es läuft mir warm über den Rücken dieses "Kerle". Ihr Vater hatte es das erste Mal gesagt, hier im Garten: "Na, Schulbub! Du bist ja ein schlankes Kerle!" Und dabei blieb es. Alle Familienmitglieder ihrer Familie nannten mich nur noch Kerle. Irgendwann in dem Schuljahr erzählte mir Barbara, als wir wieder einmal im Liegestuhl Tagträume hatten: "Weißte Kerle, wenn ich einmal Gerd zu dir sagen werde, dann ist das ein besonderer Tag. Bei uns bedeutet das, daß ein Mädchen ihren Bräutigam gefunden hat und irgendwann, wenn die Eltern der Braut es erlauben, auch heiraten darf... Dann schwieg sie an diesem Tag, schaute in den Himmel und summte Melodien, die schwermütig klangen und ich hatte Zeit sie ungestört anzusehen. Sie, die schöne, schwarze Barbara mit ihren schlanken, langen Fingern, den beginnenden runden Schultern... Ich hatte damals nur Augen für sie aber keine Ohren. Ich hätte mehr zuhören müssen. Bei jedem Treffen in diesem Garten erzählte sie ein wenig über das Leben in einer Zigeunerfamilie!  

Meine rechte Hand hält jetzt ihre linke Hand und ich lasse beide Hände kreisen. Fange an zu sprechen: "Wir machen es wie damals, wenn wir bei deinem Opa Barabasch im Garten waren, holen die Liegestühle aus Holz aus der Laube... Pst... Mache einfach die Augen zu! Jetzt siehst du die Liegen oder?"

Sie nickt, hält die Augen geschlossen, flüstert: "Erzähl weiter, vielleicht kommt er, der Tagtraum auf den ich seit Jahren warte!"

Behutsam setze ich das Kreisen unserer Hände fort. Auf dem Bahnsteig sind wenige Fahrgäste, die sind alle mit sich selbst beschäftigt, so daß sie uns nicht beachten bei unseren Traumreise-Vorbereitungen...

"Stell dir vor, es ist herrliches Sommerwetter und wir liegen in den Liegestühlen. Alle zwanzig Minuten knattert eine S - Bahn vorbei aber wir sind schon so weit in den Kinderträumen, daß wir sie nicht hören... nicht die quietschenden Bremsen oder das laute Rufen des Zugabfertigers - Zurückbleiben! Wir sind wieder Kinder oder sind wir schon Jugendliche? Egal! Du siehst aus wie der damalige "Sarotti - Mohr"... Diese Werbefigur auf der Schokoladentafel und ich bin der Blassschnabel, der jedesmal einen kleinen Sonnenbrand bekommt in diesem Garten. Dein Opa läßt uns zwei Stunden alleine, damit wir in Ruhe Schularbeiten machen können... vertreibt sich die Zeit in der S- Bahnklause. Trinkt ein paar Bierchen... Ich schaue mir dein schwarzes Haar an, fasse vorsichtig mit zwei Fingern hinein und höre trotz Schienenverkehr dein Haar knistern. Ich bin stolz, fühle mich riesig, denn ich darf dein Schulfreund sein... platonisch, rein platonisch hat Opa Barabasch uns geraten. Sonst donnert es im Karton... Und du fängst wieder an zu erzählen von dir von deiner Familie... und ich höre zum ersten Mal, was es heißt Zigeuner zu sein."

"Es klappt, Kerle, es klappt!", ruft Barbara: "Ich sehe uns, Opa ist weg, spüre deine Finger in meinem schwarzen Haar. Lass mich jetzt weiterträumen oder war es Wahrheit, damalige Wahrheit? Jedenfalls, bekam ich ein komisches Magengefühl, als deine Finger in meinem schwarzen Haar waren... ach ja... Weißt du noch ... mein erster Schultag in der Fünften. Der Lehrer stellte mich vor die Klasse und sagte: "Das ist die neue Schülerin, Barbara Barabasch, geschrieben mit cz, gesprochen asch. Sie wohnt in einem Wohnwagen am Bahnhof Ostkreuz... Die Eltern sind Schausteller... In Berlin sagt man auch Rummelleute dazu!"

Alle Schüler haben mich angeschaut, einige haben gekichert weil der Lehrer das "asch" so in die Länge gezogen hatte. Du nicht! Du hast auf deine Füße geblickt. Nach dem Unterricht habe ich dich gefragt warum du zu Boden geschaut hast und du hast mir geantwortet, du hättest dich geschämt für den Lehrer... Und dann hast du mich gefragt woher der Name Barabasch kommt und ich habe geantwortet. Das sei ein alter Zigeunername... Nach einer Weile hast du damals gesagt, ach so, das sind die Leute, wo man die Wäsche reinnehmen muß! Und du hast gelacht... Ich war traurig, aber du hast mir erklärt, daß dein Vater wenn er zuviel getrunken hat, auf den Balkon geht und laut ruft : "Leute nehmt die Wäsche von der Leine, die Zigeuner kommen und klauen sie!" Ich habe dich traurig angesehen und gefragt, ob das auch deine Meinung wäre. Du hast geschmunzelt und gesagt. Das wäre alles Quatsch mit dem Klauen, denn Klauen können alle, egal warum und dein Vater hätte den Spruch von den Zigeunern als sie gemeinsam auf Rummelplätzen waren. Lange vor dem letzten großen Krieg, als diese Weltwirtschaftskrise war, dein Vater dadurch arbeitslos wurde, sich übergangsweise mit einer Losbude voller Schokolade zum Beispiel "Sarotti" sein Geld verdienen mußte. Da die Schokolade schon überlagert war, durfte sie in den Geschäften nicht mehr angeboten werden aber für den Rummelplatz war sie noch gut genug... Und ich habe dir erzählt das mein Vater eigentlich Musiker war, wie fast alle Zigeuner, ein Geiger, auch Akkordion war seine Stärke und dann habe ich dich in den Garten eingeladen und deinen Vater und der kam auch... Weißt du noch?"

"Ja, das war an dem Tag, als wir das erste Mal die Liegestühle rausholten. Von einer Zukunft träumten von einer gemeinsamen, dein Vater, mein Vater, mein Opa, du und ich... Es war ein herrliches Jahr... hier im Garten!"

Barbara fährt fort mit ihren Erinnerungen: "Bitte, bitte trenne diesen Traumfaden nicht ab. Lass ihn uns weiterspinnen. Was wäre wenn dein Vater nicht ein Wäschegeschäft eröffnet hätte, sondern sein Klavierspieltalent genutzt hätte, um mit meinem Vater, so wie wir wollten gemeinsam ein kleines Orchester aufzubauen? Was haben die beiden hier im Garten geübt... Hörst du sie, die Melodien von damals, bunt gemischt, mal Schlager, mal Volkslieder, mal Zigeunerlieder und die Leute auf diesem Bahnsteig haben geklatscht, wollten Zugaben... Hörst du sie, die einen, wie sie spielen und die anderen, wie sie klatschen?"

"Ja, Barbara, ich höre sie, die fröhlichen und die schwermütigen Lieder. Sehe deinen Vater dort unten mit der Geige, deinen Großvater mit dem Bass und meinen Vater mit einem Akkordeon, denn das Klavier passte nicht in den kleinen Garten. Es hätte vielleicht nicht das große Orchester werden können aber das kleine Quartett wäre möglich gewesen..."

"Kerle, lass uns noch zehn Minuten träumen. Die Sonne wärmt so schön wie damals. Ich muß dir erzählen, warum wir nicht länger in Berlin geblieben sind, warum wir uns nicht mehr in dem Wohnwagen am Ostkreuz heimisch fühlten. Einverstanden?"

Ich nicke nur. Sie fragte wieder: "Einverstanden?"

Jetzt sehe ich, daß sie die Augen immer noch geschlossen hält. "Ja!", sage ich zu ihr.

Sie holt tief Luft und erzählt weiter: "Als ich in die fünfte Klasse kam, dachte meine Familie, daß das Schlimste seit Ende des Weltkrieges überstanden sei. Wir lebten vor dem Ersten Weltkrieg in Ungarn. Wir waren geduldet, weil wir viele waren. Dann wollte Großvater nach Deutschland nach Berlin. Er wollte ein Riesenrad oder eine Achterbahn bauen... entweder hier am Bahnhof Ostkreuz oder in Treptow am Plänterwald. Alle Verwandten hatten zusammgelegt und das Geld war nicht das Problem. Nein, auch nicht der Standort, egal ob Ostkreuz oder Treptow. Das Problem war unsere Herkunft: Zigeuner haben keine Lobby, wie das Neudeutsch heißt und dann kam das Jahr 1929 und Opa Barabasch hatte alles "gut" angelegt. Denkste! Weg war alles Geld! Hatten die Amerikaner verjubelt an der Börse! Opa mußte arbeiten gehen und fing bei der Reichsbahn an. Hier am Bahnhof Ostkreuz... Er arbeitete sich hoch. Vom Hilfseisenbahner, der den Bahnsteig sauber machen muss, zum Fahrkartenverkäufer bis zum oberaufsichtsführenden Eisenbahner am Ostkreuz. Pachtete den Garten und das war´s! Denkste. Meine Eltern waren fast genauso gefährdet wie die Juden im Dritten Reich. Also, raus aus Deutschland, ab nach Amerika!. Nach dem Krieg, also dem Zweiten Weltkrieg kamen wenige wieder und so kam ich in die Klasse. Opa wollte endlich sein Riesenrad am Ostkreuz oder in Treptow, mein Vater wollte seine Kapelle und ich wollte diesen Garten... Schönes Durcheinander was? Weißte, Kerle, manchmal weiß ich nicht mehr, was ich hier geträumt habe in diesem Garten oder in der Nacht oder was nur in meiner Phantasie möglich wäre und dann stehe ich halt am Gitter. Warte auf den Tagtraum... Es ist mir völlig egal ob nun die Wahrheit aus jener Zeit mich erfasst oder ob es Wunschträume sind. Ich weiß nicht mal ob es dich wirklich noch gibt oder ob du nicht auch in den Westen gegangen bist wie so viele aus der Klasse!"

Da sitze ich nun neben ihr, still, fast unbeweglich, immer noch ihre Hand haltend. Meine schwarze Barbara wieder am Ostkreuz! Meine erste Schulfreundin, rein platonisch wie es sich in dem Alter gehört. Ich hätte sie gerne damals mal auf die Wange geküßt. Nur um mal diese braune Haut zu spüren aber ich traute mich nicht. Sie lag so dicht neben mir im Liegestuhl... Alle Jungens aus der Klasse beneideten mich. Einige Mitschüler versuchten uns zu belauschen aber Opa Barabasch zeigte uns unterirdische Gänge im Bahnhof. So konnten wir sie immer wieder abschütteln. Wir lagen in unserem Paradiesgarten und träumten. Wir vertrauten uns gegenseitig Geheimnisse an, die wir bisher keinem Menschen anvertraut hatten. Wir schworen uns nichts aufzuschreiben. Vielleicht ist deshalb vieles an Wünschen und Träumen verloren gegangen bei ihr bei mir?

Sie hält noch immer die Augen geschlossen. Ich frage vorsichtig, um den Tagtraum nicht zu zerstören: "Wohin seid ihr gegangen? In welche Schule bist du gekommen? Seid ihr in Berlin geblieben?"

Barbara schweigt. Ein paar Tränen treten aus den geschlossenen Augen hervor. Ich tupfe sie mit dem Taschentuch weg und sage dabei zu ihr: "Barbara, du mußt mir nicht antworten, wenn es schmerzt nach so vielen Jahren".

Langsam öffnet sie die Augen. Schaut mich an, flüstert fast: "Bei uns darf man schon mit dreizehn heiraten. Nicht mit Hochzeitnacht und so... du weißt schon. Nein, man wird versprochen. Zwei Familien treffen sich und der Sohn der einen Familie und die Tochter der anderen Familie werden per Handschlag der Eltern "verheiratet"... Ich habe mich ein Jahr gewehrt! Keiner war mir gut genug... Ich wollte in meinem Herzen nur dich! Ich schwörs Kerle, bei meiner Großmutter! Aber ich durfte nicht. Mein Vater war sogar bei deinem Vater und wollte dir bei der Gelegenheit auch noch eine neue Mutter zur Seite stellen weil doch deine so früh verstarb... aber dein Vater war nur einverstanden, daß wenn wir erwachsen sind, heiraten dürfen... du solltest erstmal die zehnte Klasse machen oder Abitur und er hätte jetzt selber einen Garten vierzig Kilometer von Berlin entfernt, kein Lärm, keine S - Bahn... nur Wald ringsum und ein kleiner Badesee.

Ich mußte einen Mann aus meiner Sinti Sippe heiraten."

Sie macht eine Pause, atmet schwer und redet leise weiter: "Das Riesenrad kam... Jahre später aber nicht hier am Ostkreuz sondern im Plänterwald in Treptow und Opa durfte Fahrkarten für das Riesenrad verkaufen. Er war jetzt Rentner. Mein Vater ist mit mir nach Hamburg gegangen. Dort spielte mein Vater in einer kleinen Zigeunerkapelle. Oma blieb bei Opa ohne zu murren und meine Mutter blieb in Hamburg. Mein Mann starb auf dem Rummel mit einer Flasche in der Hand... Mehr will ich dazu nicht sagen... und du Kerle was hast du erreicht?... du warst plötzlich weit weg für mich durch unsere ungeschriebenen Gesetze. Kinder habe ich aber die haben immer zum Vater gehalten... und du, bestimmt hast du auch Kinder?"

Wieder nickt ich, denn jetzt hat Barbara die Augen offen.

"Zwei, ein Pärchen und die haben schon wieder selber Kinder und..."

Ich schwieg. Ihr Blick ist nicht nur durch neue Tränen eingetrübt. Da liegt Schmerz drin. Sie fragt nur ganz leise: "Warum lassen uns unsere Träume nicht los. Warum dürfen wir nicht für immer Schulkinder sein und kleine Gärten haben mit Liegestühlen?"

Sie holt ein Taschentuch aus ihrer kleinen Handtasche, die einen kleinen Plastik "Sarotti - Mohr" als Anhänger hat, schnaubt sich gründlich die Nase und fängt wieder zu sprechen an: "Ich mag die kleinen Telefone nicht... es ist kein Menschenersatz... Ich mag auch keine Computer, keine schnellen Eisenbahnen... man sieht keine Landschaft beim Reisen... Ich mag keine Bum-Bum-Musik, dieses elektronische Gekreische... Diese hektischen Menschen auf den Straßen sind auch nicht mein Fall..."

Wieder folgt ein Schneuzen in das Taschentuch: "Manchmal gehe ich zu einer Wagenburg. Sie befindet sich in der Nähe der Modersohnbrücke. Dort ist es fast wie früher, als ob die Zigeuner nur zweihundert Meter weiter gezogen wären... Aber dort wohnen keine Zigeuner, sondern sogenannte Aussteiger der Gesellschaft... schreiben die Zeitungen. Die Menschen haben dort Hunde, weil sie Angst vor Überfällen haben. Auf einigen Wohnwagen sind Sonnenplatten.. ach nein, die heißen Solarplatten, liefern Strom und Wärme... Wir hatten damals Lagerfeuer und kuschelten uns aneinander... Ich glaube, ich passe nicht mehr in diese Zeit... oder?"

Ich nehme wieder ihre Hände, drücke diese sanft, versuche sie mit Worten zu trösten: "Barbara, du solltest rausziehen aus Berlin. Auf den Dörfern ist es ruhig, fast zu ruhig. Für die Gesundheit und die Nerven ideal... Ich könnte mich mal umhören. Vieleicht gibt es Wohnraum, in dem Ort wo wir unseren Garten, besser gesagt eingezäunten Wald haben. Es ist dieses Waldgrundstück, daß damals mein Vater kaufte. Meine Frau ist vor zwanzig Jahren, als die Mauer fiel in den Westen gegangen... Wir haben zwar noch Kontakt aber nur wegen der Kinder und Enkelkinder. Von meinen Träumen hier am Ostkreuz ist auch nicht viel realisiert: Mein halbes Leben habe ich auf Schulbänken zugebracht, um mir dann sagen zu lassen, ich wäre überqualifiziert und sollte lieber vorzeitig in den Ruhestand treten und die Freiheit genießen... Im Laufe der Jahre habe ich meine neuen Ruhepunkte gefunden: Lange Spaziergänge im Wald. Da kann mam laut oder leise Selbstgespräche führen und im Winter baue ich mit meinen Enkelkinder an Modelleisenbahnanlagen oder versuche mich an Computerspielen. Gut, manchmal treibt es mich hierher zum Bahnhof Ostkreuz... aber diese schönen Erinnerungen werden immer kleiner... Übrigens, in meinem eingezäunten Waldgrundstück stehen zwei uralte Holzliegestühle mit Stoff bespannt. Als deinem Opa die Pacht gekündigt wurde, habe ich die zwei Stühle, die in der Laube standen einfach mitgenommen... Du kannst sie ja mal ausprobieren! Hier wird in den nächsten Jahren alles neu gebaut. Da ist kein Platz mehr zum Träumen aber bei mir draußen!"

Barabara schaut mich lächelnd an: "Ach, Kerle, was haben wir beide alles versäumt!"

Ich nicke nur. Denke so für mich: Frühling und Sommer haben wir versäumt aber der Lebensherbst kann auch noch schöne Tage haben und ich bin einer der glücklichen Menschen, die ihre Schulfreundin wiedergefunden haben und nicht enttäuscht darüber sind...

Samten, mein Freund

 

Annette Ludwig
Für Samten, meinen sanften Freund

 

Runder Kopf und fette Beinchen
laufen wankend hin und her
fallen hin und krabbeln weiter
widerstehen fällt so schwer
wenn die blauen Augen lachen
glucksend, jauchzend, manchmal schrill
fragt man sich so tausend Sachen
was wohl die Bestimmung will
träumt sich weg und träumt sich weiter
alles hat nur einen Sinn
wenn dein kleiner sanfter Körper
ist in ihrem Universum drin
keine Frau auf dieser Erde
kann dich lieben so wie keine
und das nehme mit dir fort
es ist die Einzige, die Eine
die in dir sieht Gottes Wort.

deine Mutter

Brainstorming

 

Thomas Rehaag
Brainstorming

 

Die Hegelrunde war zu Ende. Sie standen am Fenster und blickten hinaus. Jeder in seinem Abteil die etlichen Gläser Hanftee und den Riesenjoint schwarzen Afghanen des Schweizer IT - Professional verdauend. Nach und nach waren die anderen Gäste gegangen und sie hatte das Licht gelöscht.

Linkerhand ließ das Neonkreuz des Bahnhofs seinen Laternenfortsatz heraushängen und Big Boy starrte auf den blauen Schriftzug des Allianz – Hochhauses geradezu. Er besaß eine andere Note als die grün eingeebneten Streifen des BASF – Gebäudes rechts neben der Brücke fand er sich abwechselnd drin versenkend. Und sein Trauma leuchtete ihm heim:

Das ins Treppenhaus flackernde Blaulicht der Polizeiwagen vor dem Haus, die glänzenden Stiefel des die Treppe hoch stürmenden Einsatzzuges…  Irgendwelche Kerle über seiner Mutter… Damals musste er circa vier Jahre alt gewesen sein und sein Bett und ihr’s standen im selben Zimmer. Nachher begann er sich plötzlich vor dem Lichtschalter neben seinem Bett zu fürchten, besonders nachts, und vor allem wenn sie "aus" war. Mutterseelenallein schrie und schrie er bis sie ihn irgendwann an die Brust nahm.

Mit steifen Bewegungen zündete er sich eine Camel an, inhalierte und nebelte das Hochhaus ein. Wer die Bullen benachrichtigt hatte und ihn ins Treppenhaus brachte war ihn entfallen. Diskret blickte er zu Eudämonia rüber.

Geistesabwesend stand sie da, den rechten Ellenbogen in die linke Hand gestützt und zog eine durch. Wahrscheinlich träumte sie mal wieder von der Weltrevolution auf dem Weg zu "Alle Menschen werden Brüder".

Er wandte sich wieder ab und nahm das Zwielicht im Augenschein. Daraus erwuchs ihm ein Haus tief im Wald nebst zwei prächtigen Doggen um Gutmenschelnde Wandersleute abzuschrecken, ein Harem pubertärer Schweinigeleien, ein am Himmel hängendes Flugzeugkabinett und ein unendlich leuchtend und funkelndes Modelleisenbahnareal… Der Schub ebbte ab und Eudämonia kam ihn wieder in den Sinn.

Für ihn war sie eine kommunistische Visionärin mit rationellem Kern und eine Hysterikerin deren Temperament des Öfteren mit ihr durchging. Sie hingegen hielt ihn von Anfang an für einen "Frozenmann": Starre Miene und kalte Augen. Trotzdem verliebte sie sich in ihm. Vielleicht war sie ja christlich erzogen worden, dämmerte es ihn im Nachhinein.

Blindlings schnipste er die Kippe in den Ascher. Was soll’s… Unten fuhr nur ab und an noch eine S – Bahn vorbei und ringsum herrschte eine gespenstische Ruhe. Er zündete sich noch eine an und fixierte das rote Nummernschild neben den Eingang des seltsamen Häuschens ein Ende weit rechts.

Schaut aus wie n Abgetarnter Puff, dachte er, aber das rote Licht törnte ihn mehr an als die Nutten drin. Beim näheren Hinsehen wuchs es sich aus zu einem Rummel über dem er wandelte wie durch rot illuminierte Götterspeise, Arm in Arm mit seinem linken Gesichtsfeldverfall, und sich an Zuckerwatte überfraß….

Sich wie ein beseelter Stein fühlend lugte er zu Eudämonia rüber.

Den Kopf leicht gesenkt kräuselte sie die Brauen, rauchte und schien ein quengliges Gesicht zu ziehen. Entweder brütete sie über einer der durchgekauten Fragestellungen aus der "Phänomenologie des Geistes" (Heute war "Das unglückliche Bewusstsein" an der Reihe) oder sie heckte irgendwas aus oder aber sie hob an auf eine völlig andere Art wie er zu träumen, grübelte er und warf einen verstohlenen Blick auf ihre orthopädischen Schuhe, welche Gewehr bei Fuß standen. Irre grinsend hob er den Blick und starrte hinaus.

Urplötzlich erschien direkt vor ihn eine Horde grüner Affen, hangelte sich hinab auf die Gleise und machte Sperenzchen. Und aus den Front– und Heckscheiben der parkenden Autos auf der gegenüberliegenden Straßenseite lugten lauter rußiger Gesichter, und nur weil er sich selbst beim Perplexsein zu sah, wähnte er sich noch bei Verstand. Die Affen verschwanden doch die Gesichter blieben. Er riss sich los und kollidierte mit Eudämonias orthopädischen Schuhen, unheimlich gross und über ihm schwebend. Mechanisch ließ er die Kippe in den Ascher purzeln und duckte sich weg. Meine zwei Sorten Glaukomtropfen plus das Hanfgelumpe, schwante es ihm. Macht die Inkarnation ihres Traumas…

Steifnackig wandte er sich ihr zu. Mit fidel scheinender Miene richtete sie den Blick geradeaus, rang die Hände und knickte ihr linkes Bein ein. Unter den Schuhen verbargen sich die Muttermale ihrer verflossenen Liebe, ihre verkrüppelten Füße. Intelligente Männer bewunderte sie abgöttisch, doch ihr Guru trieb es noch mit einer weitaus jüngeren treudeutschen Landpomeranze. Kurzum es gab einen erbitterten Ehekrieg und eines Tages warf sie sich vor die Straßenbahn. Danach besuchte er sie einige Male in Bonnies Ranch und wenn sich heute zufällig mal ihre Wege kreuzten bekam sie hysterische Anfälle. Ratlos wandte er sich wieder ab und lugte nach oben. Ihr Trauma hatte die Fühler eingezogen wodurch er sich ermutigt fühlte einen Blick Richtung Straße zu riskieren.

Auch die Autos sahen wieder normal aus. Vielleicht geht der Rausch den Bach runter, freute er sich. Zeit ein wenig Eigeninitiative zu entwickeln. Er hob den Blick und fixierte das Allianzgebäude. Selbst der blaue Schriftzug obendrauf verlor seinen Glanz so sehr er auch drauf starrte. Langsam wandte er sich den Bahnhof zu und ließ sich durch den Lampenfortsatz inspirieren. Tatsächlich es klappte.

Da war sie wieder die Mojavewüste durch die er im gleißendem Sonnenlicht mit seinem Möchtegernschulfreunden im Cowboykostüm ritt. Unendlich lange und immer zur selben Melodie: Once Upon A Time In The West… Ein schwarz- weißes Standbild ohne Dame an dessen Rändern sich der Tot brach…

Geblendet wandte sich Big Boy ab, tastete nach den Zigaretten, nestelte eine raus, führte die Packung zum Mund, schnappte sich den Filter, rauchte sie an und ließ den Blick über die Gegend schweifen.

An helllichten Tagen träumte er so gut wie nie. Dafür war er zu skeptisch und abgeklärt. Höchstens während er onanierte. Weil ihm allmählich die Wichsvorlagen ausgingen. Denn in der Typenauswahl war er geschmacklich eine Art reiner Ästhet. Seine nächtlichen Träume hingegen hielten was sie versprachen. Jedoch kurz nach dem Aufwachen hatte er Mühe sie sich zusammen zureimen.

Beim Sex bevorzugte er 3 – 4 Positionen, und zwar immer solche bei denen er den "Partner" bzw. die "Partnerin" unter Kontrolle hatte. Bei den "Partnern" war es eine Position mehr… Taschenbillard spielend kostete er seine Erektion aus. Geradezu trafen sich zwei S–Bahn-Züge und die vorüber huschenden Lichterstränge gaben den nötigen Funken. Seine Erektion piesackend fuhr er fort, es sich alle Register ziehend auszumalen und nach einem Weilchen spürte er seinen Slip feucht werden. Tief einatmend nahm er die Hand raus, genoss seine Camel und dachte über ihr Verhältnis nach.

Vorigen Sonnabend nach der Runde unterhielten sie sich unter vier Augen und sie brachte die Sache mit den "Frozenmann" an. Nichts erwidernd zuckte er mit den Schultern. Durch eine Anzeige im Internet war er dazu gestoßen, weniger aus Interesse, mehr aus Neugierde. Ihm hinterhältig zulächelnd stand sie auf und humpelte aufs Klo. Derweilen schmökerte er in ihrem Konspekt, konsumierte seinen Jagetee und zündete sich eine Camel an. Als sie zurückkam umschlang sie ihm von hinten und rieb ihre Wange an seinen Bartstoppeln. Er hörte auf zu lesen, zog seinen Kopf aus der Affäre und sie musterten sich ein Weilchen. Ihm fiel auf dass sie sich entgegen der Gewohnheit die Lippen und Brauen fett angemalt hatte. Muss wohl daran liegen dass ich vorhin einige Sachen auf den Punkt gebracht habe, dachte er. Obwohl ich die ganze Zeit über wie ein Honigkuchen in mich hinein geschmunzelt habe und meine Ecke hütete, verdamm mich…

Er wusste auch nicht was in ihm fuhr. Plötzlich stuckte er die angerauchte Zigarette in den Ascher, riss sich herum, packte sie bei den Hüften und vergrub das Gesicht in ihrem Schoss. Konnte sein dass es an ihren hautengen Leopardenleggins lag, vergegenwärtigte er sich. Leider trug man sie nur noch selten. Er fuhr einige Male mit der Zunge drüber, nahm den Kopf zurück und sah zu ihr auf. Mit einem wissenden Lächeln reichte sie ihm die Hand. Er erhob sich und sie schlenderten nach hinten ins Schlafzimmer.

An der Tür klebte ein Schildchen mit der Aufschrift "Privat". Nun hat mich also das Gestirn der Runde an der Angel, dachte er, während sie eintraten. Stumm kleideten sie sich aus und er rekelte sich rücklings aufs Bett. Bevor sie sich zu ihm gesellte, zündete sie die Reihe Teelichter auf ihrem Schreibtisch an und löschte das Licht. Er hob den Kopf und schmulte nach ihren Füßen, weil ihm interessierte, was die Tram noch drangelassen hatte. Am linken fehlte die vordere Hälfte und am rechten die Zehen. Er ließ den Kopf wieder sinken, starrte an die Decke und wartete. Kurz darauf vernahm er ihr Humpeln. Sie stieg zu ihm auf und legte sich hin. Zwar wusste er was zu tun war aber nichts von ihren speziellen Vorlieben. Geruhsam wälzte er sich auf den Bauch, ackerte sich runter auf Pelzchenhöhe, spreizte ihre Schenkel, zwängte seinen Kopf zwischen und begann sie zu lecken. Von unten zur Klitoris und wieder von vorn. Sie wurde nass und krallte sich hastig atmend in sein Haar. Er sah kurz zu ihr auf, hob den Hintern und richtete seinen Ständer. Die Füße in seine Lenden stemmend wartete sie ab. Ihre langen Loden fielen schief über das Kissen. Mit drallem Becken und wohlproportionierten Brüsten reichte sie ihm bis zur Schulter. Er griff ihr unter die Oberschenkel und schleckte seinen Radius… Sie begann zu wimmern und nahm ihn bei den Ohren und er spürte wie sie ihr Haupt hin und her wand. Das Tempo erhöhend schöpfte er die gesamte Bandbreite aus. Ab und zu blickte er zu ihr auf. Er sah nur noch ihr Kinn zwischen den sich hebenden und senkenden Brüsten.So mag ich’s besonders, freute er sich und fuhr fort zu schlecken. Zusammen kamen sie. Nach dem sie etwas zu Atem gekommen waren robbte er zu ihr hoch, knutschte ihre Lippen nass, rollte sich auf den Rücken und starrte relaxend an die Decke.

"Huch bin ich Happy!", jauchzte sie plötzlich und schwang sich hoch. "Ich geh dann mal noch ein bisschen an meinen Hegel…" Hastig knetete sie seine Eier, stieg aus dem Bett, zog sich ihren Bademantel über und wetzte nach vorne zu ihren Büchern. Nach einer Weile quälte er sich hoch und ging pissen.

Auf dem Weg zur Kloschüssel überflog er wie immer die an den Wänden klebenden Comicbilder mit den Debor- und Marxsprechblasen, schlenderte weiter, nahm seinen Schwengel zwischen die Finger und drückte als ob er an Verstopfung litt.

Den Tag darauf zog er bei ihr ein, behielt aber seine Wohnung in der Boxe.

Wegen der Weltwirtschaftskrise bekamen sämtliche kommunistischen Zirkel regem Zulauf und Eudämonia war der Ansicht um Marx zu begreifen müsste man sich zuerst mit Hegel befassen. Bevor er sich zu der Runde gesellte hatten sie bereits seine zwei Bände Logik durchgearbeitet und rundum musste jeder von ihnen das nächste Kapitel zusammenfassen. Aber in die "Phänomenologie des Geistes" vernarrte sie sich nach Strich und Faden und mit den Werken von Marx war sie regelrecht verheiratet.

Zum Frühstück aßen sie täglich zwei frische Käse – oder Wurstbrötchen, tranken einen Milchkaffee und rauchten ihre erste Zigarette. Währenddessen sie das folgende Kapitel der "Phänomenologie" konspektierte griff er sich Descartes’ "Abhandlung über die Methode" und vergrub sich drin. Ab und zu sahen sie auf und küssten sich.

Die Hauptwerke von Kant, Descartes, Schopenhauer, Hegel, Marx, Engels, Lenin, Mao, Freud, Reich, Lukacs, Debor, Dutschke und Adorno hatte er bereits die Jahre davor konspektiert: Immerhin der beste Zeitvertreib um Geld zu sparen, die tägliche Sinnlosigkeit zu strukturieren sowie sich mental zu wappnen, war er der Ansicht. Gegen Mittag legten sie eine produktive Pause hinten in ihrem Privatgemach ein, in welcher er Position zwei und drei testete und danach die ganze Sache wieder von vorn anging.

Aber gestern Abend kriegte sie einen ihrer spleenigen Rappel. Sie ließ ihre Bücher sein, stand auf, schlüpfte aus dem Bademantel, wetzte zum Bett, haute sich neben ihn hin, schmiegte sich an ihn und säuselte: "Ich bin ein ganz kleines Mädchen, hmmmm… Ein klitzekleines Mädchen." Und schließlich pflanzte sie sich auf seinen Podex und begann ihn zu massieren. Jedoch anstatt sich zu regen schrumpfte sein Geschlechtsorgan auf Murmelgröße. Er schloss die Augen und markierte den toten Mann.

Nach einer Weile verlor sie die Geduld, sattelte ab und brüllte: "Ich muss fließen verstehst du!? Aber du willst das ständig dominieren! - Ach leck mich doch du Volltrottel!" Wutentbrannt schwang sie sich vom Bett, wetzte zur Tür und riss sie auf. "Ich schieb denn mal ne Kassette von Herman van Veen ein! Ich kenne doch deine geheimsten Träume!" fuhr sie fort zu brüllen und startete Richtung Vorderzimmer durch.

Vorigen Dienstag hatten sie sich nämlich bei einer Flasche Kokinelli in Anwesenheit ihres vollbärtigen altachtundsechziger Verehrers die Bälle zu geworfen und der Freak gab seinen psychoanalytischen Senf zu…  

Wie gelähmt mit dem Bettzeug verwachsend und mächtig geschockt ließ er’s über sich ergehen: Ihre Brüllkanonade erinnerte ihn an die Ausbrüche seiner Mutter, deren Grabstellenlimit nächstes Jahr ablief.

Noch am selben Abend packte er seine Tasche, ging an den Kühlschrank, riss ihn auf, langte nach der angebrochenen Pulle Aquavit, kiekte ihn wieder zu, stahl sich aus der Wohnung und lötete sich unterwegs nach Hause zu.

Gestern gegen Mittag rief sie ihn überraschend an und bat ihn weiterhin an der Runde teilzunehmen. Wir können zwar ab und zu noch miteinander vögeln aber die theoretische Arbeit erachte ich als wichtiger… Ich endlieb mich eben auch rasch wieder", machte sie ihm klar und legte auf.

Beinahe quarzte er den Filter heiß. Hastig ließ er die Kippe in den Ascher fallen und checkte die Aussicht. Affen und Gesichter schienen endgültig verschwunden zu sein. Auch die unterschiedlichen Noten des Blaulichts gaben nichts mehr her. Steiflastig wandte er sich Eudämonia zu. Blindlings trafen sich ihre Blicke. Instinktiv musste sie auf denselben Riecher gekommen sein. Vorige Nacht in einem seiner Träume, besann er sich seltsamerweise, hatte sie sich in einem weinenden Phallus verwandelt, der sich mit einer Grabwespe stritt während er dazwischen stand und lauschte. Schließlich stieg die Wespe auf, attackierte ihn von hinten und stach ihm in die Kranzfurche. Er sank nieder und statt seiner erschien vor Big Boy’s Füssen urplötzlich eine sterbende mit den Flügeln schlagende Fledermaus… Rasenden Herzens und konfus wachte er auf und fuhr hoch.

Eventuell war’s ja mein herausgerissenes Herz oder das Trauma wahrer Liebe, fantasierte er sich zu Recht, kam wieder von ab und versuchte die Sache mit gewohnter Skepsis anzugehen, derweilen Eudämonia und er sich im Fadenkreuz behielten.

Vielleicht bestand der Liebreiz aus nichts weiter als unterschwelligen Schönheitsnormen, Mutteridolen, sexuellen Erwartungshaltungen oder Gewohnheiten sowie aus verdrängter Agoraphobie, mutmaßte er, ohne mit der Wimper zu zucken. Eudämonia schien sich eins zu feixen.

Big Boy jedenfalls hoffte so schnell wie möglich fündig zu werden. Zwecks der drei bis vier Positionen auf der Endlosschiene. Kunststück es so zu gestalten das es nicht langweilig wurde, schloss er, ließ ein Zahntriefendes Grinsen stehen, wandte sich dem Fenster zu, nestelte eine Camel aus der Packung und rauchte sie an. So ne Art dreckiger Sisyphosarbeit, schwante es ihm. Donner Schock aber auch… Weise schmunzelnd hörte er sie davon humpeln. Aber wenn ich so meine Laterne hebe wird’s langsam aber sicher genauso sinnlos von zu träumen…

Die Lulle im Mundwinkel drehte er sich um und schlenderte Richtung Flur. Die Tür zu ihrem Privatgemach stand sperrangelweit offen und die brennenden Teelichter verbreiteten eine anheimelnde Atmosphäre. Er ließ sie links liegen, zog sich seinen Ledermantel über und machte dass er raus kam.

Als er aus dem Hauseingang trat knurrte ihm der Magen. Im "White Trash Fast Foot" in Mitte gab’s um Mitternacht ein Konzert der Band "Rummelsnuff". Er sah auf die Uhr. In gut dreißig Minuten, dachte er. Mit ner Droschke müsst es eigentlich dicke zu schaffen sein. Er wandte sich nach links und marschierte los. In der Nähe des Bahnhofs winkte er sich ein Taxi heran, stieg ein und gab die Adresse an.

Weg zum See

 

Barbara Skop
Auf dem Weg zum See    

 

Kaum hatte ich die schwere Messingklinke unserer Wohnzimmertür, mit dem geriffelten, tropfenförmigen Knauf, der mich an das Haus einer Weinbergschnecke erinnerte,  herunter gedrückt, stand ich auch schon im hohen Flur unseres Mietshauses.

Die Türklinke reichte mir zu jener Zeit bis zu den Schultern.

Ich hatte weiße Kniestrümpfe an, die immer ein wenig ins Fleisch schnitten, weil der Gummi am Rand zu straff war. Am Abend zeichnete sich an meinen Waden ein Muster ab, und genau an diesen Stellen juckte es dann jedes Mal unaufhörlich. Der weinrote, karierte Plisseerock, den ich an diesem Tag trug, war am Bund zweimal umgekrempelt. Er war noch etwas zu groß; ich hasste Röcke. Aber er galt als besonderes Kleidungsstück und sah jederzeit schick aus. Flecken sah man so gut wie nie, und er knitterte nicht. Ich konnte ihn den ganzen Sommer über tragen. Er war von Tante Elli- fast jedes Kind hat so eine Tante Elli-, die gar nicht meine Tante, sondern eine entfernte Verwandte war. Wir nannten sie nur so. Sie schickte uns ab und zu ein Packet mit sehr schönen Sachen.

 

Damals wohnten wir im ersten Stock, und ich hatte kaum Mühe, die steile Treppe in wenigen Sätzen hinab zu springen. Viel anstrengender war es, nach wildem Spiel die hohen Stufen, die entweder fürchterlich staubig waren oder aber alle vierzehn Tage nach Bohnerwachs rochen, zu bewältigen. An der Haustür war eine glatte, unförmige, langweilig moderne Aluminiumklinke angebracht, bei der sich hin und wieder der Stift löste. In diesem Fall schob Frau Fischer, eine aufgedonnerte Witwe und unsere Vermieterin, einen riesigen, herrlich robusten Holzkeil, aus dem grobe Splitter herausragten, unter die Tür. So stand die Haustür meist den ganzen Tag offen. Abends wurde sie dann abgeschlossen. Jede Mietpartei hatte einen solchen Schlüssel und war dazu angehalten worden, die Tür Punkt neun abends, im Winter aber schon vor Anbruch der Dunkelheit, zu verschließen.

 

Vor mir lag nun die Straße. Sie war mit einer unebenen, langen, nacheinander angeordneten Steinplattenkette gepflastert, die aber immer vor den Toreinfahrten endete und in ein mit verschiedensten Holpersteinen befestigtes Durcheinander mündete. An dieser Stelle mussten wir Kinder unsere Rollschuhe entweder abschnallen oder vorsichtig hinüber staksen. Zu beiden Seiten waren kleine Steinwürfel in mühevoller Arbeit eingehämmert worden. Ich ging rechter Hand die Steinstraße hinunter. Die leichte Neigung widersprach irgendwie meinem Vorhaben.

 

Ich wollte behutsam, ja feierlich, in Vorfreude auf das Kommende, meinem Ziel, das sich letztendlich in zwei zeitlich und bildlich zutiefst widersprüchlichen Erlebnissen ausdrückte, entgegen schreiten.

 

Zeit misst man ja nicht nur; auch fühlt man Zeit- als quälend endlos, herrlich weit, mit Leichtigkeit und Genuss verrinnend oder zu schnell dahinjagend.

Und wie fühlt man sich gegenüber der Zeit? Man fühlt sich ihr machtlos ausgeliefert. Man fühlt sich ohnmächtig und verzweifelt, aber auch beruhigt - wegen ihrer Unaufhaltsamkeit, wegen ihrer Flüchtigkeit, wegen ihrer Fähigkeit, sich uns einfach zu entziehen, sich schmerzhaft schnell uns zu entreißen oder sich uns aufzudrängen, aber auch uns die Verantwortung für das Vergehen abnehmend…

 

Ich liebte nun zum einen diesen überwältigenden in Zeitlupe herannahenden Augenblick, in dem das trostlose Bild der heruntergekommenen Fischbänkenstraße in Bruchteilen von einer Sekunde in die lebende mal sanfte- mal tobende Idylle umkippte - und dann wieder mit einer Zuverlässigkeit die ungeheure zeitliche Weite bot, die der Ruppiner See für mich war.

Der Anblick entführte mich in ein "Überglücklichsein". Immer abwechselnd atmete ich bis an die Grenzen tief ein/aus und hielt dann den Atem an…, bis ich das Gefühl hatte, mit der Natur eins zu sein; ja, bis ich das Gefühl hatte, mich wieder zu haben.

 

Nun wollte ich doch dorthin nicht geschubst werden! Ich wollte noch Zeit haben, um mich auf diesen glückseligen Zustand vorzubereiten.

Ich wollte wirklich bereit sein, um in diese Stimmung eintauchen zu können, ja die verstreichenden Momente leibhaftig zu spüren. Ich wollte jeder Sekunde, jedem kleinsten Augenblick eine Empfindung entgegensetzen, ein bestimmtes Gefühl zuordnen können.

Ich wollte das erstrebenswerte Verhältnis zwischen den Dingen und der nötigen Zeit dazu finden - die Zeit greifbar machen, die diese Dinge brauchen, wenn sie diese Zeit und die Erinnerung verdienen -, um deren Augenblicke tief ins Gefühl und damit ins Gedächtnis zu brennen.

 

Niemand wird bestreiten, dass die Dinge, die wir erlebt haben und die mit einem riesigen Gefühl verbunden waren, niemals mehr vergessen werden.

Hingegen die Dinge, denen wir nicht genügend Gefühl entgegenbringen und eine gewisse Andacht, Bedächtigkeit, Demut, Konzentration verweigern, sind im Nu in uns hinabgestürzt.

Natürlich muss unbedingt vieles in uns hinabstürzen.

Aber die Dinge, die wir uns bewahren wollen, sollen wir mit unserem ganzen Dabeisein in uns aufnehmen, einatmen.

Wir Erwachsenen erleben diese intensiven Momente so selten. Die uns begrenzenden Alltäglichkeiten, die unser Leben auszufüllen scheinen, zeigen sich mitunter so überzeugend, dass wir selber daran glauben, ja daran glauben wollen. Manchmal sind sie aber auch unentbehrlich, weil sie für die Wunden in unseren Herzen lebenswichtiger Balsam sind.

 

Es war nicht so, dass ein Tag einfach linear so vor mir lag; so und so viele Erlebnisse für mich hatte, das ahnte ich spürbar, sondern es waren zahllose miteinander verstrickte, sich mit aus anderen Zeiten verbindende und sich verselbstständigende Eindrücke, Gefühle, Empfindungen, durch die sich der Tag in mir niederschrieb.

Diese Erlebnisse brannten sich unter meine Haut, in mein Gehirn, in meine Seele, denn ich hatte und nahm mir die den Erlebnissen entsprechende notwendige Zeit und erlebte mit allen Sinnen.

So konnte ich das in mir Aufgenommene als Lebenslust, Bestürzung, grenzenloses Glück -und was auch immer- wieder freilassen und zurückgeben.

 

Nach so einem Tag hatte ich keine Lust mehr, die zwar nur leicht aber stetig ansteigende Straße zu bezwingen. Ich war erschöpft.

Ich mochte es überhaupt nicht, zu irgendetwas gezwungen zu werden. Ich wurde dann immer ungelenk. Alles stand sich in mir selbst im Weg, so dass ich für die einfachste Tätigkeit riesige Kräfte aufbringen musste.

Geblieben von all dem sind die Erinnerungen an diese tiefen Empfindungen und Gefühle, die ich jetzt begreife und vor allem mir erklären kann.

 

Es gab eine Reihe möglicher Wege, auf denen ich an mein Ziel gelangen konnte. Nur drei davon aber kamen in die engere Wahl. Andere waren entweder zu weit oder aber war es mir verboten worden, diese allein zu gehen.

Dann später übrigens, auf dem Heimweg, benutzte ich, mir unverständlicherweise, wie von Geisterhand geführt, immer dieselbe Straße; eine mittelalterliche Gasse, die wie aus einer anderen Welt geschaffen war, als ob ich nun selbst nach der Berührung mit meinem See, auch einer anderen Welt entsprang. Jedenfalls schien sie zusammengeflickt; kein Stein, kein Strauch, kein Baum passten zueinander. Vielleicht stimmte sie aber auch deshalb in sich in ihrem Ungeordnetsein. Sie führte an der zerfallenen Stadtmauer, auf der unzählige Glasscherben eingemauert waren, die vor Eindringlingen zu Zeiten der Burgen und Schlösser die Stadtbewohner schützen sollte, entlang, und sie barg die Gefahr, einem "Kinderschänder" zu begegnen. Doch sicherte sie mir auf dem Heimweg das Alleinsein, das ich nach meinen Abenteuern und Erlebnissen suchte und genoss. Ich hatte zwar manchmal Angst, dennoch siegte der Drang, das Erlebte ungestört in mir nachwirken zu lassen. Es steigerte mein Lebensbewusstsein, es steigerte mein Lebensgefühl- und wog alle Gefahren auf.

 

Doch jetzt zog es mich ja an einen meiner Lieblingsorte, zum See an der großen Wichmannlinde.

 

Ich beschloss, die mir bekannteste Route einzuschlagen. Sie gehörte zu dem Karree, das für uns Kinder aus der Nachbarschaft immer eine Rollschuhrunde bedeutete. An der zweiten Ecke war ein klitzekleiner Konsum, der von einer dicken, schwerfälligen, unfreundlichen Mittefünfzigerin beherrscht wurde. Ich ging fast jedes Mal, wenn ich vorbei kam, in diesen unscheinbaren Laden, um herauszufinden, warum die Verkäuferin so mürrisch, ja bärbeißig war. Aber egal, wie ich mich verhielt, sie wirkte immer übel gelaunt. Ich kaufte Lebensmittel nur dort; ich wollte ihr zeigen, dass ich es ernst meine und keine freche Göre bin; dass ich mich nützlich machen kann, meistens keine Grimassen schneide und ihr auch nicht "alte Kuh" hinterher rufe, weil noch niemand von uns Kindern sie je freundlich sah. Später aber gab ich meinen guten Willen auf und ignorierte sie beim Einkaufen, sprach nur das Notwendigste, packte die Sachen ein und ging.

 

Als es sich unter uns Kindern herumsprach, dass es woanders Stieleis und den von uns heiß begehrten "Kalten Kuss" gab -das war ein sahnehaltiges, in Silberpapier eingewickeltes Vanilleeis, das zu einem Großteil mit einer dünnen Schicht Halbbitterschokolade überzogen war und damals 35 Pfennig kostete-, wechselte auch ich den Lebensmittelladen. Neben der gläsernen Tür des Konsums, die mit einer quer angebrachten, immer kühlen Metallstange versehen war, thronte eine freundliche, immer zu einem Spaß aufgelegte Verkäuferin. Sie war wohl auch so um die fünfzig und hatte graues, leicht dauergewelltes, nach hinten gekämmtes Haar, das sie versuchte, mit zwei großen, gelbbraun melierten, leicht gewölbten Hornkämmen, wie ich sie auch von meiner Großmutter kannte, zu bändigen. Hinter ihrer randlosen Brille lauerten zwei freundliche, stets spitzbübisch dreinblickende, blaue Augen.

Die andere Verkäuferin, die hier beschäftigt war, hatte glattes, rabenschwarzes Haar und war übermäßig stark geschminkt, so dass sie von weitem etwas finster wirkte, aber in Wirklichkeit burschikos, witzig und auch sehr freundlich war. Sie schaute mir manchmal, wenn der Laden nicht so voll war, hinterher, was ich bedeutend fand. Einige Jahre später verdiente ich hier in den Ferien mein erstes Geld, wovon ich mir den ersten, heiß ersehnten Plattenspieler kaufte.

 

Aber mein eigentlicher Weg führte mich an diesem Tag weiter quer über den Rollschuhplatz. Links davon lag der kleine Spielplatz mit den Kettenschaukeln und die Heißmangel, die von einem kinderlosen, älteren Ehepaar geführt wurde.

Etwa einmal im Monat belud meine Mutter den kleinen Holzhandwagen, der mit festen Gummirädern ausgestattet war, mit unserem schön geflochtenen Wäschekorb, in dem sich die draußen durch Wind und Sonne getrocknete, duftende Wäsche befand. Ich durfte den Wagen bis vor die Tür der Heißmangel kutschieren. Dann aber kam der ältere Herr und holte den Korb in den Parterre gelegenen, feuchtwarmen Raum. Hatten wir einen Termin, konnten wir die Wäsche gleich dort mangeln. Manchmal war es sehr still, wunderbar still, und die Arbeit ging voran, als ob wir uns in einer Geheimsprache verständigt hätten. Das Arbeitstempo schrieb uns die monoton, träge vor sich hin drehende Heißmangel vor, so dass wir uns nicht vorwerfen konnten, eventuell zu langsam zu arbeiten. Meistens ging es sehr heiter zu. Sie trieben sehr oft ihre Späße mit mir, und ich wusste manchmal nicht, was ich davon ernst nehmen sollte. Wenn sie mich so nachdenklich sahen, lachten sie über mich- aber nie bösartig. Ich war ihnen sehr zugetan.

Der Ablauf beim Wäschemangeln war ziemlich einfach. Meine Mutter und ich falteten zum Beispiel ein Bettlaken erst auseinander, hielten jeder die zwei Ecken der jeweils kürzeren Seite, gingen soweit auseinander, bis sich das Laken straffte und kräuselten es dann längst zusammen. Das geht so: Man lässt die Finger und den Daumen der rechten und der linken Hand mit dem gestärkten Wäschestück aufeinander zulaufen, bis sich beide Hände treffen, spannt sie zu zwei Fäusten und reibt sie schnell, immer abwechselnd aneinander, aber im gleichen Rhythmus wie sein Gegenüber. Nach dem Auseinanderfalten streicht man das geschmeidige Wäschestück glatt und legt es vorsichtig auf gleicher Höhe an die heiße, ständig rotierende Walze, die sich das Wäschestück greift, es verschlingt und immerfort drehend gegen die Heizplatte presst. Nach wenigen Augenblicken wird es, kaum noch wieder zu erkennen, auf der anderen Seite der Mangel sichtbar.

 

Rechts, neben dem Rollschuhplatz, der zwischenzeitlich auch als Autoteststrecke und im Winter als Schlittschuhbahn genutzt wurde, lag da diese Fischbänkenstraße. Sie bestand aus winzigen, zerfallenen zweistöckigen sich aneinander schmiegenden und sich gegenseitig haltenden Häuschen, die mich heute an dickbauchige Trickfilmhütten erinnern. Man hat wohl vergessen, sie abzureißen oder rechtzeitig instand zu setzen, denn sie drohten schon beim Betrachten einzustürzen. Nun musste man sehr vorsichtig über die Straße gehen. Nicht, dass hier riesiger Autoverkehr herrschte, es war wohl eher eine ruhige Straße, aber ab und an krachte ein russischer Militärwagen vorbei, der einen in Angst und Schrecken versetzte. Die Soldaten fuhren sehr beherzt und sahen auch die Bordsteinkanten nicht als wahres Hindernis. Sie waren mir nie so ganz geheuer. Man erzählte sich viel. Sie behausten am See eine riesige Kaserne, vor der eine unscheinbare Mauer hochgezogen war. Im so genannten "Russenmagazin" durften auch Deutsche einkaufen. Es gab dort wunderbare Sorten verschiedenster Waffelpralinen, die in glänzendes Papier eingewickelt waren. Man konnte sich eine bunte Mischung zusammenstellen lassen. Die Pralinen wurden dann in eine hellgrüne oder graue, stumpf wirkende, spitze Papiertüte hineingeschüttet. Das Überraschende für uns Kinder war dann immer, dass man aus so einer ollen Papiertüte, die herrlichsten Pralinen der Welt herauszaubern konnte. Auch gab es da mal Bananen oder Apfelsinen oder Mangosaft, wenn es in allen übrigen Läden nichts Vergleichbares gab. Trotzdem war ich als Kind immer sehr froh, wenn wir wieder aus dem Backsteinbau heraus waren. Es war ein Gebiet, das man lieber mied. Soldaten sah man kaum. Nur manchmal liefen zwei Uniformierte eilig umher, um das riesige Eisentor zu öffnen. Ein Militär-LKW kam in der Regel dann herausgedonnert. Ich zuckte jedes Mal höllisch zusammen. Im Winter sah man die Soldaten gelegentlich mit freiem Oberkörper und barfuss durch den Schnee preschen. Im Sommer profitierten sie von der Lage am See. An dem klitzekleinen Strand, an dem sonst die Schwäne hoch gewatschelt kamen, schoben sie ihre Fahrzeuge ins Wasser, um sie kostengünstig zu reinigen. Einmal bin ich nachts aufgeschreckt. Da kam die Feuerwehr. Die Offiziere hatten lange gefeiert und gesoffen. In der Kaserne loderte ein Lagerfeuer bis tief in die Nacht. Am Morgen war der Dachboden heruntergebrannt. Das Haus wäre sicher längst abgerissen worden. Aber man schreibt das Jahr 1996, es ist inzwischen viel geschehen. Und - das Land hat neue Herren.

 

Noch unzählige Male machte ich mich in meiner Kindheit und Jugend auf den Weg zum See. Zwei der entscheidendsten und unglaublichsten Glücksmomente erlebte ich als Kind, wenn ich in Vorfreude, mit genauen Vorstellungen vom letzten Mal und aber auch neuen Erwartungen durch die Straßen diesem Ort entgegenlief, dann genau dort innehielt, wo das Bild dieser vergessenen Gasse in eine nie erwartete Idylle umkippte; wo dieses Bild mir die Möglichkeit offenbarte, dass sich das menschliche Leben mitunter ebenso verhielt, dass vielleicht die für einen stehenden Dinge manchmal in einem winzigen Augenblick ebenso umkippen und sich ins Gegenteil verkehren konnten. Dieses Gefühl gab mir eine gewisse Zuversicht und Vertrauen zu meinem Körper und in die Natur der Dinge, Vertrauen -aber auch eine gewisse Wachsamkeit- zu dem sich außen abspielenden Leben und zu dem Sinn einer scheinbaren Unordnung.

Und obwohl ich diesen wundervollen Ort schon so oft genossen hatte, stand ich letztendlich doch immer wieder fassungslos, staunend und gierig alles in mich aufnehmend vor diesem mich tief beeindruckenden Fleckchen Erde.

 

Hier konnte ich meinen Gedanken, meinen Gefühlen und vor allem meinen und meinem Sinnen freien Lauf lassen. In dieser Urlandschaft fühlte ich, wie Energien in meinen Körper zurückströmten, die mir der Alltag gnadenlos abzapfte, wie sich der Stau in meinem Kopf löste, wie ich die Kraft meines Körpers wieder fühlte, wie sich die Teile in mir wieder zu einem harmonischen und übereinstimmenden Ganzen zusammensetzten.

 

Hier, an meinem See, hatte ich erstmals den Verdacht, dass dies eine Möglichkeit ist, durch ein für sich selbst aufgedecktes und geklärtes, tief gefühltes Zeit-, Gedanken- und Gedächtnisgeflecht das eigene Leben zu verlängern.

Hier erlebte ich den Verdacht, dass uns vielleicht statt eines linearen Denkens ein räumliches Denken ein tiefes und lang gefühltes Leben ermöglicht.

 

Auch heute noch führen mich die Sehnsucht nach Lebenstiefe und die Suche nach Antworten und der nie abreißende Strom von geklärten und ungeklärten Momenten - scheinbar in meinem wohlbehüteten Rucksack verstaut - immer wieder auf den Weg zum See. Ich habe in meinem unglaublichen "Glück" Synonyme für meinen "Weg zum See" gefunden, die ich als göttliche Schlüssel des Sehens, eines entwirrenden Sehens empfinde, so dass es mich immer wieder erneut in einen Zustand des "Mit mir im Reinen sein" führt.

Ich denke, das ist Glück! Ich denke, das ist "Ich- Glück". Und wenn das jeder für sich finden könnte…!

 

Es ist ein Genuss, und es ist befreiend, die schmerzhaft kurzen Momente, nochmals nachzuerleben, sie zu konservieren und dabei die ungetrübte Hoffnung zu haben, keinen Moment wirklich zu verlieren,

die schmerzhaft langen Momente, endlich abzustreifen und einzumotten,

die glücklichen Momente, auf verschiedenen Ebenen und in Nuancen wiederholt zu erleben,

die traurigsten Momente des Lebens, endlich zu verarbeiten und die Trauer ausleben zu können.

 

Es ist ein wahres und hohes Fest des Verstandes und des Geistes und der Seele, all die geklärten und ungeklärten Momente aus verschiedenen Zeiten des eigenen Lebens fruchtbar zu verknüpfen, dieses wertvolle Geflecht aus Sinn und Sinnen, Gedanken und Gedächtnis, Gefühlen, Orten, Zeitebenen, in das eigene Herz zu brennen, sich großzügiger zuzulassen und ein schönes "Ich" daraus zu formen.

 

Vielleicht wird uns ja auch im Laufe unseres Lebens die Lebenszeit dann nicht immer schneller und schneller davonrennen. Vielleicht werden uns dann die erlebten Momente dicht an dicht zugänglich sein. Vielleicht fliegt uns so dann das Leben nicht davon.

 

Na ja, inzwischen wurde "mein Weg zum See", der mein Leben so wunderbar geprägt hat, zu einem anderen, "modernen" Leben genötigt.

Er hat sich nicht selbst prostituiert. Und er konnte sich bisher nicht wehren.

Aber irgendwann vielleicht können die großen Geister aus ihrer Verbannung mit einem neuen Weltbild zurückkehren.

Der ewig Gestrige

 

Kerstin Janke
Der ewig Gestrige

 

Er war hoch gewachsen. Stets bedacht darauf, den Rücken gerade zu halten. Immer aufrecht. Seine Augen in ständiger Bewegung. Aufmerksam beobachtete er die Welt um sich herum. Das graue Haar gepflegt, adrett geschnitten. Sein langer schwarzer Mantel war altmodisch zwar, doch tadellos in Faltenwurf und Form. Sein Revier: Bahnhof Ostkreuz. Gemeinsam waren sie in die Jahre gekommen.

Fast täglich wandelte er umher, sog den Duft ein, den die Reisenden aus allen Himmelsrichtungen hierher brachten und vermischten. Oft stand er reglos auf dem Bahnsteig, die Hände auf dem Rücken verschränkt, forschend. Diese Geschwindigkeit, diese Rastlosigkeit. Das war früher anders. Damals kam man auch irgendwann an.

Oft half er älteren Damen die Treppen hinauf, stützte sie oder trug ihr Gepäck. Wenn sich eine dieser Damen bedankte, machte er eine dezente Verbeugung. Dies sei ja wohl das Mindeste, was er für eine solch edle Lady tun könne. Entzückt waren die Damen von ihm, allesamt.

"Hat der charmante Gentleman einen Namen?" fragte ihn einmal eine jener Frauen.

"Nennen Sie mich Paul", antwortete er, jedes Wort deutlich aussprechend, und küsste ihre Hand.

Immer dann, wenn sich der Berufsverkehr auf den Bahnsteigen drängelte, zog Paul sich ein wenig zurück. Zu hektisch geriet das Treiben dann, es machte ihm ein wenig Angst. Damals, als er so jung war, wie diese Umherpendelnden, war S-Bahn fahren noch etwas ganz Besonderes. Der Fahrschein war für ein Vermögen von zehn Pfennig zu haben. Für die Fahrt selbst putzte man sich heraus, Schuhe und Hut extra gesäubert. Die Kinder sprachen tagelang von nichts anderem. Überpünktlich stand man dann aufgereiht in knisternder Vorfreude auf dem Bahnsteig, grüßte mit einem Kopfnicken nach rechts und hob den Hut in linker Richtung. Ratternd fuhr das neumodische Ungetüm ein, Kinder jauchzten, Erwachsene gerieten in Aufregung. Meist ging die Reise dann an den Stadtrand ins Grüne, Sonntagspicknick.

Ja, früher, daran dachte Paul oft, während er versuchte, den vorbeieilenden Gesichtern einen Ausdruck, ein Gefühl zu entlocken.

Jeden Abend wartete er, bis allmählich ein wenig Ruhe am Ostkreuz einkehrte. Späte Reisende waren stets langsamer, gar glücklich manchmal. Still wandelte er umher, beobachtete, half einem Stadtstreicher seiner in zahllosen Plastiktüten verstauten Habe Herr zu werden. Die Nacht kroch die Bahnsteige entlang, ergriff Besitz von ihnen.

Die Frau vom Blumenhäuschen schloß ab und winkte ihm zu. Bedächtigen Schrittes trat er auf sie zu:

"Wie darf ich Ihnen behilflich sein, Lady?"

"Ach Mensch, Herr Paul", sagte sie, "ob ick Se wohl mal umen Jefallen bitte dürfte?"

"Immer gern", antwortete er in gewohnter Eleganz mit sanfter Stimme.

"Sie sinn doch eh immer hier. Ob Se wohl immer maln Blick uff mein Häuschen werfen könnten. Irgendwer hats letzte Nacht beschmiert. Ick jeb Ihn ochn bissl Jeld oder nen Blumenstrauss gratis."

"Ehrenwerte Lady ich helfe gern. Aber bitte keine dinglichen Almosen." Er verneigte sich ein wenig. "Verlassen Sie sich auf mich."

Die Blumenfrau war hingerissen, Dankesschwüre murmelnd ging sie davon.

Bedächtig lief er um das Blumenhäuschen herum. Er verstand diese Jugend von heute nicht. Was sollte es für einen Sinn ergeben, ein kleines Blumenhäuschen zu verschandeln? War dies moderner Kunst zuzurechnen, deren Zugang sich ihm verwehrte? Was war das nur für eine Welt geworden, in der solche Respektlosigkeiten stattfinden konnten.

Die Stunden verstrichen, der Nachtschwärmer wenige nur waren noch unterwegs. Paul nutze einen Moment, in dem der Bahnsteig verlassen dalag und durchsuchte mit geübtem Griff die Mülleimer. Er zog zwei Pfandflaschen heraus und steckte sie geschwind unter seinen Mantel. Peinlich berührt sah er sich um. Nein, zum Glück hatte niemand etwas bemerkt. Wäre dies eine gewöhnliche Nacht, ginge er jetzt auf einen anderen Bahnsteig, um dort ebenso nach zurückgelassenen Werten zu suchen. Doch heute würde er hier verweilen, er hatte der Blumenfrau sein Wort gegeben.

So schritt die Nacht voran, die Zeit hielt niemals an. Ehe man sich versah war das Heute schon zum Gestern geworden. Und das Gestern lange Vergangenheit. Die Nacht blieb so ruhig wie eine Ostkreuz-Nacht eben so war. Am Ausgang saß eine Gruppe Obdachloser, ihr Erscheinungsbild als Provokation. Sie zwangen die Fußgänger auszuweichen, pöbelten und feierten, so wie jede Nacht. Paul hatte sich mit ihnen arrangiert, man grüßte einander gar. Einst hatte einer von ihnen Paul eine leere Flasche hingehalten. "Hier Opa", hatte er gesagt. Paul hatte dankend abgelehnt. Eilig war er davon geschritten.

Als der Morgen dämmerte, wurde Paul von einem vorbeiratternden Zug geweckt. Er musste eingenickt sein, hier auf der Bank. Schnell stand er auf, ging um das Blumenhäuschen und, zum Glück, alles in Ordnung. Zusehens belebte sich der Bahnhof, Frühaufsteher trafen auf Nachtschwärmer. Auch die Blumenfrau kam früh und war nicht wenig verwundert, als sie Paul sah.

"Herr Paul, Se ham doch nich etwa die janze Nacht hier jesessen?"

Er hob die Hand zum Gruße. "Aber natürlich Madame, so war es versprochen." Untertänig neigte er den Kopf und zwinkerte ihr zu.

"Es hätte gereicht, wenn Se immer mal geguckt hätten, so lang Se eh hier sind. Dit kann ick nie wieder jut machen", sagte die Blumenfrau und fingerte ihr Portemonnaie aus der Manteltasche. "Nehmse doch wenigstens ein paar Cent."

"Werte Dame, bitte kein Geld", intervenierte er. "Ihr Dank ist mir Belohnung genug."

"Sie sin mirn komischer Kauz", rief sie kopfschüttelnd und widmete sich ihren Blumen.

Indes Paul war müde, er trat den kurzen Heimweg an. In seinem bescheidenen Heim angekommen hängte er seinen Mantel auf einen Bügel und strich ihn sorgfältig glatt. Ein wenig peinlich berührt nahm er die zwei Flaschen aus den Innentaschen und stellte sie zu einigen anderen auf die Flurkommode. Gedankenversunken betrachtete er sie. Was war nur aus ihm geworden? Er, der einst so weltgewandt und gebildet zur vornehmen Gesellschaft gehörte. Er, der damals eine viel beachtete Doktorarbeit verfasste, die halbe Welt bereist hatte und es liebte über Politik und Wirtschaft zu philosophieren. Heute stocherte er in anderer Leute Müll für acht Cent pro eroberten Pfandwertstück. Einen tieferen Punkt gab seine Skala des Lebens nicht her.

Langsam und behutsam legte er die graue Decke zurecht, die seinen alten Schaukelstuhl etwas gemütlicher machte. Dieser fristete ein einsames Dasein, nur ein kleiner Couchtisch leistete ihm Gesellschaft. Den Rest des Mobiliars hatte Paul schon vor langer Zeit verkauft. Damals hoffte er noch, dass diese Finanzspritze für den Start in ein anderes Leben reichen würde. Traurig setzte er sich nieder, wie so oft ganz von Melancholie befallen. Er griff das Foto, welches das Tischchen schmückte. Seine Frau war darauf, damals noch jung, so hübsch und fröhlich. Ja, damals gehörte sie auch noch zu ihm. Er betrachtete es und träumte sich in die Vergangenheit, in eine bessere Zeit. Gemeinsam hatten sie die Stadt durchstreift, Ausstellungen besucht, gemütlich in Cafes gesessen, sich geliebt. Gemeinsam hatten sie die Spree und ihre Ufer genossen, die Stadtluft geatmet, den Winter gehasst. In seinen Erinnerungen sah er sich immer und immer wieder mit ihr am Ostkreuz stehend darüber diskutierend, welchen Bahnsteig sie zu benutzen hatten, um an dieses oder jenes Ziel zu gelangen. Meist hatte sie Recht behalten, stets kam ein "Siehst Du, Du alter Zausel, Du kannst mir glauben" über ihre lächelnden Lippen. Dann kauften sie sich zwei Fahrscheine vom bereits zu Hause abgezählten Kleingeld und fuhren nach Hoppegarten, Erkner, Bernau. Eine schöne Zeit. Vergangenheit.

Sie war weg. Und mit ihr war das verschwunden, was für ihn das Leben war. Er zog sich mehr und mehr zurück, langsam entglitt ihm der Alltag. Unfähig seinen alten Weg fortzusetzen und gleichsam zu schwach einen neuen zu beschreiten, verrichtete die Zeit ihr retuschierendes, vertuschendes Werk. Heute, so schien ihm, lebte er mehr als Schatten denn als reale Person, strich umher, keine Arbeit, kein Geld, kein Sinn. So war er zum Beobachter, zum Tagträumer geworden, der die Allgegenwärtigkeit der Gegenwart kaum ertrug, der die Tage nicht mehr zählte, sondern nur deren Vergehen ersehnte. Der Bahnhof diente ihm als Tor zu seinen Gedankenreisen in die glückselige Vergangenheit.

Paul war eingenickt. Als er erwachte, war die Last des Gestern von seinem Schoß gerutscht; das Bild lag auf dem Boden, die Glasscheibe zerbrochen. Mühsam erhob er sich, sah einen Moment lang traurig die kleinen Splitter an und wand sich ab. Wie jeden Tag nahm er seinen Mantel und ging zum Ostkreuz. Was sonst sollte er tun?

So stand er wie er es immer tat auf einem Bahnsteig und sah den Menschen zu, die eilig ein- und ausstiegen, drängelten, schimpften. Ein kleines Mädchen hüpfte fröhlich über den Bahnsteig, zog seine Mutter hinter sich her.

"Du sieh mal, Mama", rief es. "Das ist der Opa, von dem ich Dir erzählt habe." Sie zeigte auf Paul. "Der mit den Flaschen." Sie zog ihre Mutter zu sich herunter und fügte flüsternd hinzu: "Er schämt sich deswegen ein bisschen." Paul fühlte sich zutiefst gekränkt, erniedrigt, erwischt. Hastig sah er sich um, Passanten blickten ihn an, so viele hatten es gehört. Er senkte den Kopf und wünschte nicht da zu sein, ach dieser Bahnhof, dieser Ort brachte ihm einfach kein Glück. Diese Schmach, er wusste nicht was er tun sollte, stand wie angewurzelt. Zu allem Überfluss steuerten das Mädchen und ihre Mutter auch noch direkt auf ihn zu. Die Mutter reichte ihm eine Plastiktüte voller leerer Flaschen und sagte leise:

"Die hat die kleine Maria für sie gesammelt."

Paul fühlte sich plötzlich unglaublich alt. Er hatte sich geirrt, als er sich sicher glaubte, nicht tiefer sinken zu können.

"Nein, nein", wehrte er verzweifelt ab. "Das kann ich nicht annehmen."

"Aber Sie würden Ihr eine große Freude machen. Sie will Ihnen helfen."

Maria sah Paul mit ihren großen, strahlenden Augen an.

"Ich kann noch mehr sammeln", flötete sie fröhlich. "Ich mache Dich reich. Und dann brauchst Du auch nicht mehr heimlich in den Mülleimern zu gucken."

Paul schloss die Augen. Das durfte einfach nicht wahr sein. Das war einfach mehr, als er ertragen konnte. Er nahm die Tüte wortlos, dies schien ihm der geeignete Weg zu sein, dieser unsäglichen Situation so schnell wie möglich zu entkommen.

"Darf ich Opa zu Dir sagen?" Marias helle Stimme drang wie aus großer Ferne an sein Ohr, Paul brachte keinen Ton heraus.

"Wir müssen jetzt gehen, Maria", sagte die Mutter endlich.

"Bis morgen", rief die Kleine noch, dann waren sie verschwunden.

Paul stand noch immer versteinert, wie im Schock, er musste sofort weg hier, er würde niemals wiederkehren. Wie ein gehetztes Tier schlich er nach Hause, warf seinen Mantel in eine Ecke und sank erschöpft in seinen Sessel. Warum war das Leben so grausam zu ihm?

Tagelang quälte er sich, konnte nichts essen, sank immer wieder in einen flachen Schlaf, versuchte vergebens Trost in den Gedanken an bessere Zeiten zu finden. Wütend zertrat er eines Morgens die ohnehin kümmerlichen Überreste des Bildes seiner Liebsten. Immer wieder dachte er an Maria, welch süßes Mädchen, wie fröhlich, wie unbedarft im Umgang mit der Welt.

Und dann wusste er, was er tun musste. Er zog seinen Mantel an, vergaß in der Eile, den Stoff zu glätten und eilte zum Ostkreuz. Bei der Blumendame kaufte er eine Osterglocke, stellte sich vor neugierigen Blicken geschützt unter eine Treppe, von wo er jene Stelle beobachten konnte, an der die eigentümliche Begegnung mit Maria stattgefunden hatte. Und tatsächlich, um dieselbe Zeit wie Tage zuvor, lief die Kleine mit ihrer Mutter dort entlang. Er trat ihnen entgegen, beugte sich hinab und sagte:

"Kleine Dame, diese wunderschöne Blume ist für Sie."

Maria jauchzte, jubelte und fiel Paul um den Hals.

"Danke, Opa", rief sie. "Und ich dachte schon, Du wärst für immer vereist."

Paul schämte sich ein wenig ob seines plötzlichen Rückzuges.

"Verzeih", antwortete er leise. "Ich bin ein vielbeschäftigter Mann."

"Macht nichts", rief die Kleine und winkte zum Abschied. "Bis morgen, Opa."

Überpünktlich stand Paul am nächsten Tag mit penibel geglättetem Gewand an eben jener Stelle und wartete geduldig. Auf Maria. Er hatte einen Krokus am Wegesrand gepflückt und hielt ihn stolz dem Mädchen hin. Ebenso stolz überreichte Maria ihm eine Tüte mit leeren Flaschen. Er bedankte sich mit einer Verbeugung und einem Handkuss, sie lachte.

Beinahe täglich wiederholte sich nun dieses Ritual, bis Marias Mutter eines Tages fragte, ob er nicht Lust hätte, die beiden auf den Spielplatz zu begleiten und sich ein wenig zu ihnen zu setzen. Er zögerte, wagte jedoch nicht, erneut die Flucht zu ergreifen, so ging er mit.

Am Spielplatz nahmen sie Platz auf einer Bank. Paul war unsicher, blickte nervös um sich, wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Maria löcherte ihn mit Fragen und lauschte neugierig seinen zunächst knappen, dann immer ausführlicheren Antworten. Woher er komme, wie alt er sei, warum er immer auf dem Bahnhof umherging, Maria wollte alles wissen. Und so erzählte er von seinem Leben, von seiner Liebsten, von der Vergangenheit. Je mehr Maria wissen wollte, umso mehr geriet er ins Schwärmen, begann seine Geschichten auszuschmücken und lebendig zu zeichnen. Maria staunte, fragte weiter, versuchte zu verstehen. Die Stunden verstrichen, die Dämmerung mahnte den Heimweg an.

Sie verabschiedeten sich und versprachen einander sich wiederzusehen.

"Darf ich Dich noch ein was fragen?" bat Maria zum Abschied und sah ihn mit ihren großen Augen an.

"Natürlich, kleine Dame, was brennt Dir auf der Seele?" fragte er zurück und lächelte sie ermunternd an.

"Warum träumst Du eigentlich nicht mal von morgen?"

W+O+I

 

Roman Kieß
W+O+I

 

Sie war zierlich, blass und Walter bewunderte ihr Durchhaltevermögen. Jeden Morgen trafen sie sich auf dem Bahnsteig der Ringbahn. Ingrid, um den "Straßenfeger" an den Mann zu bringen. Er hingegen war einfach nur so da. Nun ja, zugegebenermaßen war er nicht nur so da. Das Ostkreuz war sein Arbeitsplatz.

Gewesen.

Die Aufsicht zu führen war nicht besonders ereignisreich, aber man hatte Verantwortung. Und Walter war damals froh, mit Mitte 40 nochmal einen Job zu bekommen. Nur einen Zeitvertrag versteht sich. Aber er hatte gehofft, sich durch Fleiß und vorbildliches Verhalten unentbehrlich zu machen. Als sein Arbeitsvertrag auslief und die Deutsche Bahn Walter trotzdem für entbehrlich hielt, ging er dennoch jeden Morgen zum Ostkreuz. Er wusste einfach nicht, wie er es seiner Frau hätte beibringen sollen. Und hoffte auf eine Eingebung.

Erst waren es Wochen, dann Monate. Eines Tages, knapp zwei Jahre später, musste Walter nichts mehr verheimlichen. Seine Frau war gegangen.

Vor zwei Monaten hatte sie ihn zum ersten Mal angesprochen. Walter hatte sie schon viel länger beobachtet, aber nicht den Mut gehabt, sich ihr zu nähern. Sie wirkte etwas zerzaust und hatte einen harten, sehr abweisenden Zug um ihren Mund. Nein, die ließ man besser in Ruhe.

Es kam auch nur ein flapsiger Spruch. Aber der traf Walter nicht weiter und zumindest hatte er schon mal ihre Aufmerksamkeit gewonnen. Am Donnerstag darauf traf er sie wieder auf dem oberen Bahnsteig vom Ostkreuz an. Walter nahm all seinen Mut zusammen und bot ihr einen Kaffee aus seiner Thermoskanne an. Zu seiner Verwunderung nahm sie – freudig überrascht – die Plastetasse an. "Jar nich ma schlecht, dein Muckefuck", frotzelte sie. Etwas irritiert schaute er ihr in die Augen. Ihre Lachfältchen ließen sie jung und unbeschwert aussehen, aber er spürte, dass dies nicht die ganze Wahrheit sein konnte.

Wie jeden Tag packte Walter seine Thermoskanne und zwei Butterstullen aus. Zuerst war Ingrid sehr zurückhaltend gewesen. Doch so nach und nach stellte sie fest, dass Walter völlig harmlos war und freundete sich mit ihm an. "Mensch, Walter, du sollst dir doch nich imma so in Unkosten stürzen", sagte sie zwischen zwei Bissen und stieß ihm freundschaftlich mit ihrem Ellenbogen in die Rippen. Walter reichte ihr einen Becher mit Kaffee.

"Und?", ihr Blick heftete sich fragend auf sein Gesicht.

"Nein, wieder nichts."

"Dit jibt es doch jar nich." Sie schüttelte ihre zerzauste Mähne. "Du kannst doch nich tagelang jar nüscht jeträumt haben."

Inzwischen war es sowas wie ihr Erkennungszeichen geworden, die Frage nach dem Traum.

Walter schaute in die Ferne, drüben sah man den Turm von der alten Stralauer Fabrik.

"Und bei dir? Du hast bestimmt auch nichts geträumt."

"Ja, leider. Seit fast eenem Jahr ist da nüscht, an det ick mich morgens erinnern könnte", musste Ingrid eingestehen. Sie schmiegte sich an ihn: "Mir ist kalt." Sie zog einen Schmollmund. Walter wurde verlegen. Während er noch grübelte, ob er seinen Arm um sie legen sollte, war sie schon aufgesprungen. Sie mache mal einen Rundflug und sprang flugs in die 42, als schon der Warnton sein durchdringendes Möp-Möp abbrach.

In den Monaten, bevor er Ingrid kennen lernte, hatte er philosophiert, tagelang die Leute beim Ein- und Aussteigen beobachtet, sich Notizen über das Wetter gemacht. Einfach die Zeit totgeschlagen. Was hätte er sonst tun sollen? Einmal hatte er in einer liegen gelassenen Zeitung einen Artikel über Neuseeland gelesen. Plötzlich verspürte er eine Sehnsucht. Dort könnte man sein Glück finden. Für Walter war dies ein Traum. Hier war der leuchtende Pfad, den es nur zu beschreiten galt. Sicher war es schwierig, die Brücken hinter sich abzubrechen und neue Wege einzuschlagen.

Aber es konnte ja nicht ewig so weitergehen. Außerdem wusste er nicht so recht, für wen er das Spiel am Ostkreuz noch veranstaltete.

Allerdings gab es substantielle Hindernisse. Sein Schulenglisch war gelinde gesagt lausig. Startkapital war von Nöten, doch Walter hatte alle Reserven aufgebraucht.

Egal, er hatte wieder ein Ziel!

Sie pries den "Straßenfeger" an wie sauer Bier, aber heute wollte echt niemand was vom Obdachlosenmagazin wissen. Ein schwieriges Geschäft. Na, immerhin, auf einem Rundflug mit der Ringbahn war sie meist vier oder fünf Exemplare losgeworden.

Es war immer wieder ein Erlebnis die Gesichter der in der Bahn Angesprochenen zu sehen. Gleichgültigkeit, Schamgefühl, Ablehnung, manchmal sogar Mitgefühl, alles an menschlichen Gemütsregungen war vertreten. Vereinzelt wurde sie sogar belästigt, aber mit etwas Chuzpe und vorlautem Mundwerk hatte sie sich bisher immer retten können. Gott sei Dank.

Aber nach einem dreiviertel Jahr dieser meist gleichgültigen oder ablehnenden, zu Masken erstarrten Gesichter, konnte sie es fast nicht mehr ertragen. Erst träumte sie noch davon, dann gar nichts mehr.

Die Wärme und linkische Freundlichkeit Walters waren Balsam für ihre Seele. Dennoch wusste Ingrid, es musste sich etwas ändern. Sie musste raus aus diesem Film, bevor es zu spät ist. Er träumte zumindest noch von etwas. Erst vor Kurzem hatte er ihr von seinem Lebenstraum Neuseeland erzählt. Völlig utopisch, fand sie. Er würde nie genug Knete zusammen bekommen, geschweige denn dahin fahren.

Sie machte sich nichts mehr vor. Nach drei Jahren Talfahrt hatte sie keine Illusionen mehr.

Sie war müde, das lag nicht nur am Schlafmangel, es war eine allgemeine Erschöpfung die sich langsam in ihren Körper fraß. Walter hatte sicher noch etwas warmen Kaffee in seiner Thermoskanne.

Der Bahnsteig war inzwischen zu seiner Heimat geworden. Zu Hause schien alles so eng, er fühlte sich eingesperrt. Walter verstand nicht, wie andere Leute abends ihre Rollläden schließen konnten und sich damit völlig von der Außenwelt abschotteten.

Er hätte sofort das Gefühl gehabt, zu ersticken.

Ein warmes Gefühl wie heiße Lava schoss durch seinen Bauch als er Ingrid aus der 42 auf sich zukommen sah. Trotz ihrer zauseligen Mähne fand er sie sehr attraktiv.

Anfangs hatte ihre Kodderschnauze ihn etwas verunsichert, aber bald spürte er, dass dies auch ein wenig Fassade war und unter der – vorgeblich – harten Schale durchaus ein weicher Kern steckte.

Das Angebot, in sein Stullenpaket zu greifen, nahm sie sichtlich erfreut an. Allerdings kaute sie etwas lustlos auf der Stulle rum.

"Und, hast du heute etwas geträumt?"

"Ja, ähm, nein, diesmal weiß ich nicht mehr, um was es ging." Es war für ihn unverständlich wie sehr sich Ingrid für Träume interessierte, aber selbst keinen Lebenstraum hatte.

Für Walter war es unvorstellbar keine Ziele, keinen Traum mehr zu haben. Aber es hatte bei Ingrid ganz den Anschein, als wenn ihr die Zukunft egal wäre. Sicher konnte man mal antriebslos sein, aber doch nur für eine gewisse Zeit.

Das tat ihm Leid und er nahm sich vor, Ingrid dazu zu bringen, wieder an etwas zu glauben. Aber ihm schwante, dies würde keine leichte Aufgabe.

Die ersten Wochen war es nur kurzes Geplänkel zwischen ihnen. Obwohl es Walter drängte, endlich alles rauszulassen, zeigte er sich verschlossen. Er musste sich erst daran gewöhnen, wieder jemanden zum Reden zu haben. Ingrid hingegen gab sich wie ein offenes Buch. Doch nach einigen Tagen kam Walter dahinter, dass es unsichtbare Grenzen gab, die sie nicht überschritt. Sie schien ihm etwas vorzuspielen. Zuerst war er verletzt, doch dann fragte er sich, welche Gründe sie dazu bewogen. Allein aus dem Erzählten konnte er sich so manches zusammen reimen. Sie hatte wohl schon mehrere heftige Enttäuschungen im Leben erlitten.

Deshalb stellte sie immer ihre harte Schale zur Schau, um ihre Verletzlichkeit zu verstecken.

"Doch wie bringe ich sie wieder dazu zu träumen? Sich Ziele zu stecken, auch wenn sie unerreichbar scheinen, wie die Sterne am Firmament?", fragte er sich.

Walter spürte, sie war etwas ganz Besonderes. Doch dann verließ ihn der Mut. Er fühlte sich überhaupt nicht besonders. Er hielt sich für durchschnittlich, unauffällig, grau. Was sollte sie an ihm finden? Außerdem war sie deutlich jünger. Er fühlte die Frustration in sich hoch kriechen.

Am nächsten Morgen wirkte sie weniger fröhlich als sonst. Sie kam auf ihn zu und ließ sich schwer auf die Bank fallen. "Ick hab die Schnauze sowas von voll. Jetzt drohen die, mich rauszuschmeißen." Ingrid erzählte, wie sie es geschafft hatte, Jahre nach der Wende, sich in einen alten Ostmietvertrag einzuschmuggeln. Sie lebte in der Wohnung einfach unter dem Namen von Frau Schandrach, der 82-jährigen Vorbesitzerin, die sie für einige Hilfeleistungen bei sich aufgenommen hatte. Leider war Frau Schandrach wenige Wochen später verstorben. Aber Dank der weit entfernten Hausverwaltung war es ein Leichtes gewesen, alles beim Alten zu lassen.

Die hatten gar nicht mitbekommen, dass ihre Mieterin verstorben war. Und Ingrid hatte kein Interesse daran, dies zu ändern. Jetzt, Jahre später, waren sie ihr auf die Schliche gekommen.

"Halsabschneider, elende...", fluchte sie grimmig vor sich hin.

Walter wusste nicht, wie er sie beruhigen sollte. "In der Zeitung lieste immer, wie lange es dauert, irgendwelche säumigen Mieter aus der Wohnung zu bekommen. Innerhalb von zwei Tagen hatte ick 'nen Jerichtsvollzieher am Hals."

Sie musste dringend eine andere Bleibe finden. Aber für die paar Flocken, die sie sich mit dem Straßenfeger hinzu verdiente, war nichts zu bekommen, nicht mal Neubau in Buch.

Walter hatte ihr angeboten, bei ihm unterzukommen. "Bitte sei mir nicht böse, Walter. Aber dit is mir nüscht", sagte sie treuherzig. Er war enttäuscht, wenngleich er sie verstand. Ihre Unabhängigkeit war mehr wert als Bequemlichkeit.

"Ick möchte nur meine Ruhe haben. Jeder will was von mir und das macht mich immer noch müder. Ick kann kaum mehr schlafen vor lauter Müdigkeit. Hört sich blöde an, wa?"

"Verstehe schon, doch damit habe ich glücklicherweise keine Schwierigkeiten."

Walter überlegte: "Meinst du nicht, das kommt von der unsicheren Lebenssituation in der du dich befindest?"

Da lachte Ingrid: "Hast du 'ne Ahnung in was für "unsicheren Lebenssituationen" ick mir schon befand und da hab ick jeschlafen wie 'n Baby."

Ein Schulterzucken war seine Antwort.

Am Freitag Abend wollte Walter schon zusammen packen. Den ganzen Tag hatte er vergeblich auf sie gewartet. Da sah er sie aus der Ringbahn taumeln, im Gesicht blutverschmiert. Er sprang erschrocken auf, rannte ihr entgegen und fing sie in seinen Armen auf. Ingrid schluchzte und zitterte und er wusste gar nicht, was er zuerst tun sollte. Beruhigen, erstmal beruhigen, dachte er sich, und dann ablenken.

Am Besten mal das Blut aus ihrem Gesicht waschen.

"Um Himmels Willen, was ist dir denn passiert?", fragte er und geleitete sie zur Bank. Walter zückte ein Taschentuch und goss den letzten Rest Wasser aus seiner Plastikflasche darauf. Dann tupfte er behutsam ihren blutverschmierten Mundwinkel ab.

"Diese Schweine", sie zitterte vor Wut „da war so'n Scheiß-Fußballspiel." Sie brach ab. Ingrid atmete ein paar Mal tief durch. "Diese Dreckskerle mit ihren weiß-roten Schals. Sie hatten mich in eine Ecke jedrängt, mich beschimpft. Als ich einen davon anspuckte, hat er mir eine mittenmang ins Jesicht verpasst." Sie zitterte immer noch.

"Ich dachte, jetzt hat mein letztes Stündlein jeschlagen", berichtete sie atemlos. "Ein zweiter Schlag, mir schien es als ob mein Kiefer jebrochen wär. Ick kieke also an den Mistkerlen vorbei und rufe ´Ah, Herr Kontrolleur, helfen Sie mir bitte!´ Die Idioten schauten sich tatsächlich alle um, ick hab mir losjerissen, meinen Ellenbogen in irgendjemanden jerammt, der mir im Wege stand und bin durch die offene Tür auf den Bahnsteig jeflüchtet, die Treppe runter und weiter, immer weiter, bis ick nich mehr konnte." Ingrid durchlebte das Ganze noch einmal und sie starrte um sich wie ein gehetztes Tier.

Dann saßen sie eine Weile, sie hatte sich an Walter angelehnt und er dachte angestrengt nach. "Mein Rucksack ist weg, mit den janzen Zeitschriften, meinem Portemonnaie und dem Wohnungsschlüssel", fügte sie kleinlaut hinzu. "Walter, kann ick heute Nacht bei dir schlafen?"

"Selbstverständlich", ihm hüpfte das Herz vor Freude. Sie hatte Zutrauen zu ihm gefasst.

Eine weitere Stunde verging und sie saßen immer noch eng umschlungen da. Ingrid wendete ihren Kopf, blickte ihm tief in die Augen und küsste ihn auf die Wange. Er versuchte sie zu beschwichtigen: "Mach dir keine Sorgen. Wir kümmern uns morgen um deinen Rucksack. Vielleicht ist er abgegeben worden. Wir fragen beim Fundbüro nach." Es war dunkel geworden. Die Neonlampen am Bahnsteig verbreiteten ein diffuses Licht. Die Sichel des zunehmenden Mondes war über Stralau zu sehen.

Und plötzlich wusste Walter, was zu tun ist.

"Warte kurz, ich muss noch schnell etwas erledigen, dann gehen wir heim." Er erhob sich von der Bank, kramte in seiner Jackentasche nach seinem Schweizer Armeemesser und ging zu einem der Eisenträger der Dachkonstruktion. Nach kurzer Zeit klappte er zufrieden grunzend das Taschenmesser zusammen, ließ es in die Jackentasche gleiten und kam zurück.

"Komm, Ingrid, lass uns gehen. Morgen ist ein neuer Tag. Neuseeland soll ganz grün sein..."

Walter nahm seine Tasche, schlang den Henkel über die Schulter und gab Ingrid seine Hand. So schritten sie die Treppe hinunter.

Ein Pendler hatte die Sache verfolgt und fragte sich, was Walter wohl an dem Eisenträger gemacht hatte. Nachdem er sich etwas seitlich postierte, damit Licht auf die Stelle fiel, sah er, dass dort etwas in großen Lettern eingeritzt war. Er schmunzelte. Da stand "W+O+I".