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Kultur- und Nachbarschaftszentrum

Buch 2007
 

Zu diesem Buch

Vorwort von Anneliese Löffler

Eines Tages im vergangenen Herbst erging die Bitte, über den Nebel am Ostkreuz zu schreiben. Die Einlader dachten an Geschichten zum Träumen und zum Fürchten, an Wunderbares und an Magisches, und mancher mag auch noch die Schwaden in Erinnerung haben, die uns in alten Kriminalfilmen entgegen wabern.

Die Phantasie der Schreiber bekannte sich zu diesen Erwartungen, weitete sie aus und das leichtfüßige Spiel mit dem neblig umhüllten Ereignis schob sich in den Vordergrund. "Ich stelle mir bei Nebel immer vor", so heißt es in einer Arbeit, "ich wäre in einem fremden Land und müsste die Umgebung um mich herum erstmal erkunden". Das Geheimnisvolle reizte, der Ort selbst trat recht oft zurück, erschien vorwiegend in Zeichen wie Gleisen, Zügen, Bänken und Turm, erzählt wurde der aus der Erinnerung geholte Vorgang, durchsetzt und verfremdet mit dem nebulösen Gewebe.

Die Texte gleichen sich kaum, und diese Eigenart ist als Vorzug der Sammlung hervorzuheben. In einer der Geschichten wird gleich massenhaft künstlicher Nebel erzeugt, weil es wünschenswert ist, einem Bau-Betrüger die Hände zu binden. Anderswo legt sich der Nebel nahezu schmeichelnd über das Gelände, weil zwei sich finden sollen, die — vielleicht — zueinander gehören. Eine andere Geschichte lebt von der Idee, dass es oft doch einer dank des Nebels geheimnisvoll auftretenden Kraft bedarf, um endlich wieder der eigenen Identität zu trauen. Recht oft, so ist zu spüren, will ein Erzählender von ein, zwei, also von nur wenigen Vorgängen erzählen, die sich jedoch, so ist zu spüren, tief in sein Gedächtnis eingegraben haben. Meist ist die Begebenheit nur karg, hat aber tiefe Spuren hinterlassen. Einer Frau will die weiße Hand nicht aus dem Sinn, die zu einem Motorradfahrer gehörte, dessen Leib nach einem tödlichen Unfall verdeckt wurde.

Erstaunlich ist die Vielzahl der literarischen Möglichkeiten, die in den Einsendungen erprobt wurde. Wir lesen von den Tagen und Jahren einer glücklichen Gemeinsamkeit, die der Schreiber seinen Enkeln überantworten will. Ganz anders begegnet uns der Bericht einer jungen Frau, die vor Jahr und Tag in die Welt zog und — zurückgekehrt — ganz neu den ihr gemäßen Ort suchen muss. Dieser mehr von Reflexionen geprägten Schreibart tritt die Story zur Seite, die eher den Fakten der Ereignisse folgt, einen Kriminalfall erhellt oder den Alltag eines eher im Verborgenen lebenden Menschen zu ergründen sucht. Schwerer zu folgen ist einer Darstellung, die darauf baut, das Menschliche durch eine Mensch-Maschine zu ersetzen.

Der Aufforderung, erneut am Schreibwettbewerb rund um das Ostkreuz teilzunehmen, sind so viele Menschen gefolgt wie nie zuvor. Dieser Vorzug verbindet sich mit der Lust und dem Spaß der Schreibenden, sehr vielfältig all jene Mittel zu nutzen, die in der Literatur unserer Tage herausgebildet worden sind. Wir finden die gut durchdachte und komponierte Geschichte ebenso wie die grüblerisch und phantasievoll gepflegte Nacherzählung des eigenen Erlebnisses. Essayistische Streifzüge durch die eigene Welt der Empfindungen und Gefühle sind ebenso vorhanden wie die einfachen Nachrichten über einst oder heute Erlebtes.

Ein besonderer Vorzug der vorgelegten Arbeiten ist der erfreulich oft gehandhabte Umgang mit den Chancen der phantastischen Figuren-, Bild- oder Kompositionswelt der Literatur. Das Märchen scheint die besondere Vorliebe der Autoren zu genießen, märchenhafte Details finden sich in fast jedem Werk der Anthologie. Zwerge, Gnome und andere Fabelwesen tummeln sich zuhauf, und manche Handlung oder Erörterung wird durch einen Ausflug ins Phantastische bereichert.

Ostkreuz, der Bahnhof, wird natürlich auch in dieser Anthologie zum Tummelplatz vielzähliger Ideen und Gedanken. Er zeigt sich als Ort, den Menschen als Kreuzpunkt ihrer Lebensvielfalt erkennen und erfahren. Manchmal ist ein nostalgischer Hauch zu spüren, was kommt, wenn sich der Ort großflächig durch den Umbau verändert, das wird wohl der literarischen Erkundung noch harren, aber zweifelsfrei eine Herausforderung sein.

Literatur zu schreiben, sich also des eigenen Lebens und der eigenen Erfahrungs- und Gefühlswelt zu vergewissern, ist eine der wohl besten Formen, sich selbst zu finden und zu erkennen, wie auch sich dem Menschen neben sich mitzuteilen. Der jetzt vorliegenden Anthologie mögen noch viele folgen.

Berlin, im April 2007

Buch 2007
 

Zu diesem Buch

Vorwort von Anneliese Löffler

Eines Tages im vergangenen Herbst erging die Bitte, über den Nebel am Ostkreuz zu schreiben. Die Einlader dachten an Geschichten zum Träumen und zum Fürchten, an Wunderbares und an Magisches, und mancher mag auch noch die Schwaden in Erinnerung haben, die uns in alten Kriminalfilmen entgegen wabern.

Die Phantasie der Schreiber bekannte sich zu diesen Erwartungen, weitete sie aus und das leichtfüßige Spiel mit dem neblig umhüllten Ereignis schob sich in den Vordergrund. "Ich stelle mir bei Nebel immer vor", so heißt es in einer Arbeit, "ich wäre in einem fremden Land und müsste die Umgebung um mich herum erstmal erkunden". Das Geheimnisvolle reizte, der Ort selbst trat recht oft zurück, erschien vorwiegend in Zeichen wie Gleisen, Zügen, Bänken und Turm, erzählt wurde der aus der Erinnerung geholte Vorgang, durchsetzt und verfremdet mit dem nebulösen Gewebe.

Die Texte gleichen sich kaum, und diese Eigenart ist als Vorzug der Sammlung hervorzuheben. In einer der Geschichten wird gleich massenhaft künstlicher Nebel erzeugt, weil es wünschenswert ist, einem Bau-Betrüger die Hände zu binden. Anderswo legt sich der Nebel nahezu schmeichelnd über das Gelände, weil zwei sich finden sollen, die — vielleicht — zueinander gehören. Eine andere Geschichte lebt von der Idee, dass es oft doch einer dank des Nebels geheimnisvoll auftretenden Kraft bedarf, um endlich wieder der eigenen Identität zu trauen. Recht oft, so ist zu spüren, will ein Erzählender von ein, zwei, also von nur wenigen Vorgängen erzählen, die sich jedoch, so ist zu spüren, tief in sein Gedächtnis eingegraben haben. Meist ist die Begebenheit nur karg, hat aber tiefe Spuren hinterlassen. Einer Frau will die weiße Hand nicht aus dem Sinn, die zu einem Motorradfahrer gehörte, dessen Leib nach einem tödlichen Unfall verdeckt wurde.

Erstaunlich ist die Vielzahl der literarischen Möglichkeiten, die in den Einsendungen erprobt wurde. Wir lesen von den Tagen und Jahren einer glücklichen Gemeinsamkeit, die der Schreiber seinen Enkeln überantworten will. Ganz anders begegnet uns der Bericht einer jungen Frau, die vor Jahr und Tag in die Welt zog und — zurückgekehrt — ganz neu den ihr gemäßen Ort suchen muss. Dieser mehr von Reflexionen geprägten Schreibart tritt die Story zur Seite, die eher den Fakten der Ereignisse folgt, einen Kriminalfall erhellt oder den Alltag eines eher im Verborgenen lebenden Menschen zu ergründen sucht. Schwerer zu folgen ist einer Darstellung, die darauf baut, das Menschliche durch eine Mensch-Maschine zu ersetzen.

Der Aufforderung, erneut am Schreibwettbewerb rund um das Ostkreuz teilzunehmen, sind so viele Menschen gefolgt wie nie zuvor. Dieser Vorzug verbindet sich mit der Lust und dem Spaß der Schreibenden, sehr vielfältig all jene Mittel zu nutzen, die in der Literatur unserer Tage herausgebildet worden sind. Wir finden die gut durchdachte und komponierte Geschichte ebenso wie die grüblerisch und phantasievoll gepflegte Nacherzählung des eigenen Erlebnisses. Essayistische Streifzüge durch die eigene Welt der Empfindungen und Gefühle sind ebenso vorhanden wie die einfachen Nachrichten über einst oder heute Erlebtes.

Ein besonderer Vorzug der vorgelegten Arbeiten ist der erfreulich oft gehandhabte Umgang mit den Chancen der phantastischen Figuren-, Bild- oder Kompositionswelt der Literatur. Das Märchen scheint die besondere Vorliebe der Autoren zu genießen, märchenhafte Details finden sich in fast jedem Werk der Anthologie. Zwerge, Gnome und andere Fabelwesen tummeln sich zuhauf, und manche Handlung oder Erörterung wird durch einen Ausflug ins Phantastische bereichert.

Ostkreuz, der Bahnhof, wird natürlich auch in dieser Anthologie zum Tummelplatz vielzähliger Ideen und Gedanken. Er zeigt sich als Ort, den Menschen als Kreuzpunkt ihrer Lebensvielfalt erkennen und erfahren. Manchmal ist ein nostalgischer Hauch zu spüren, was kommt, wenn sich der Ort großflächig durch den Umbau verändert, das wird wohl der literarischen Erkundung noch harren, aber zweifelsfrei eine Herausforderung sein.

Literatur zu schreiben, sich also des eigenen Lebens und der eigenen Erfahrungs- und Gefühlswelt zu vergewissern, ist eine der wohl besten Formen, sich selbst zu finden und zu erkennen, wie auch sich dem Menschen neben sich mitzuteilen. Der jetzt vorliegenden Anthologie mögen noch viele folgen.

Berlin, im April 2007

Sandra Hübner - Einsteigen bitte

Sandra Hübner
Einsteigen bitte

 

Es ist Morgen, Sonntagmorgen am Ostkreuz. Frühe Reisende lassen die Räder ihrer Koffer klappernde Stepptänze auf den Pflastersteinen aufführen. Das Grau des Himmels spiegelt sich in den Pfützen. Ringsherum hat der November die Knochen der Bäume freigelegt. Fein säuberlich abgenagt starren sie wie die Tentakel einer an Magersucht verendeten Krake aus den Morgennebeln.

Mich hat eine der alten braunen Bänke auf ihren harten Rücken genommen. Sie steht inmitten des stählernen Säulenwaldes des Ostkreuz. Wie Astlöcher prägen all die Nieten das Metall der Säulenstämme. Zwischen den Pflastersteinen wachsen kleine schwarze Pilze, die einmal Kaugummis waren. Und es ist gut, dass es Graffitis gibt. Neben den grünen Notausgangschildern, die direkt zur Stadt hinaus zeigen, sind sie das einzig Farbliche ringsherum.

Ich streite schon eine Zeit lang mit der Bahnhofsuhr, die ganz wenig warmes, mildes Licht über den Bahnhof sprüht. Wenn sie stehen bliebe, könnte ich einfach hier sitzen bleiben, immer und ewig, die Augen geschlossen halten, denn was gibt es zu sehen? Über mich hinweg streicht das sanfte Rauschen der Flügel einer Taube. So ein Hauch von Geräusch nur.

"Eingefahrener Zug nach Ahrensfelde", weht die laszive Stimme der Ansagerin über den Bahnhof. Sie baut überall Hs ein, eigentlich stöhnt sie eher in einem letzten Aufseufzen: "Heingefahrenher Zuhg nach Harensfehlde". Ich weiß nicht, wie sie das macht, so eine herrliche Stimme, ausgerechnet hier, ich höre ihr schon seit längerer Zeit fasziniert zu. Es freut mich, dass sie heute Dienst hat. Sie hat etwas Mütterliches bei all ihrer Stimmenlust. Ich stelle sie mir gern vor, gesehen habe ich sie noch nie. Sie muss rund sein, überall, auch ihre Augen, vor allem ihre Augen, mit schönen, dicken Haaren und weichen Händen und Waden. Immer sehe ich sie liegend vor mir und "Harensfehlde" oder "Whartenbergh" hauchen. Es müsste das elfte Gebot werden: Du sollst auf dem Ostkreuz den MP3-Player ausschalten.

"Harensfehlde", sie macht eine bedeutungsschwangere Pause. Dann fällt das harte Urteil: "Zurückbleiben bitte." Traurig und gesenkten Kopfes stelle ich mir die Leute in den Türen vor, die eben einsteigen mussten, weg von der verheißungsvollen Stimme dieser Frau.

Meine Bank erzittert, jemand hat sich neben mich geworfen, irgendwo an das andere Ende der langen Holzdielen. Eine Bierdose zischt, eine vorübergehende Frau ruft froh "Prost!". Die Bank vibriert ein wenig, offenbar hat man neben mir gnädig zurückgenickt.

Ich genieße all diese normalen Geräusche ringsherum. Stundenlang hat Richard geredet und geschrien, bis unsere letzte Nacht beendet war, weil ich ging. Sie tat mir in den Ohren weh, all diese traurige Wut. Dazwischen war immer wieder der Boden einer neuen Bierflasche herb auf der Glasplatte seines Tisches aufgeschlagen. Im Lauf der Nacht wurde der Aufschlag auf das Glas immer heftiger, so dass ich mit Interesse die Vibrationen des zarten Materials zu beobachten begann. Wäre es zersprungen, nun ja, kitschige Metapher. Aber mit geschlossenen Augen auf einem Bahnhof zu sitzen, nachdem man eben seine tröstliche Winterbekanntschaft verloren hat, ist auch nichts anderes. Der Bahnhof als Ort des Abschieds und des Ankommens, in welcher Reihenfolge auch immer. Ich kann nicht genau sagen, welche Rolle ich im Moment spiele. Ich wollte mich nur kurz ausruhen, erst bei Richard, jetzt auf der Bank. Und da sitze ich nun.

Richard war in gewisser Weise hyperaktiv, alles musste sofort und am liebsten schon gestern sein. Du liebst mich nicht, schrie er. Du hörst mir nicht zu. Du interessierst dich gar nicht für das, was ich tue. Ich hatte ratlos die Schultern hochgezogen. Der Winter kam, das war alles. Es war ständig kalt und neblig, und die Bäume krakelten mit ihren nackten Zweigen hilflose SOS-Morsezeichen in den grauen Himmel, und da war dann Richard mit seinem großen Bett und seinen sechstausend hyperaktiven Küssen pro Minute.

Die Ansagerin haucht hungrig "Whartenbergh". Ich liebe sie. Ich warte ab, bis sie noch einmal "Harensfehlde" stöhnt, und dann gehe ich nach Hause.

Ich öffne die Augen, um meinen Tabak zu suchen und mir eine Zigarette zu drehen. Eine schwarze Taube mit einem weißen Fleck auf dem Kopf sucht tapfer zwischen den Pflastersteinen. Findet nichts. Ein graublauer, liebeskranker Täuberich bedrängt sie mit seinem Gestelze, er plustert sich auf, gurrt, tippelt wie ein gefederter Flamencotänzer um sie herum. Die Taube fliegt weg. Der Täuberich schüttelt sein Gefieder zurecht und sieht nun selbst zwischen den Steinen nach, ob da nicht noch etwas wäre, das den Morgen wärmt.

Der Blumenladen hat schon geöffnet. Licht dringt aus dem Laden, die bunten Blumen wirken künstlich in all dem Grau des Ostkreuz. Ich weiß, es müsste umgekehrt sein. Ist es aber nicht. Richard hatte einen Strauß Tulpen gebracht, mitten im November. Gelbe Tulpen. Sie taten nichts weiter, als stramm in der Vase zu stehen. Und dann einzugehen, ohne aufgegangen zu sein.

Eine Bahn fährt ein, fast leer. Ein paar Gesichter drücken sich schlafend gegen die Scheiben, hier und da gibt man sich einen hastigen Kuss, dann steigt man aus. Eine kleine Gruppe Jugendlicher stolpert quietschend und kreischend aus einer S-Bahntür, die Jungs schwenken Bierflaschen, die Mädchen ihre winzigen Hintern in niedlichen weißen Hosen. Puppenhaft kleine Handtaschen schleudern an zierlichen, solariumgebräunten Handgelenken. Ihre Stimmen sind in der Nacht in Frequenzen gestiegen, die das Einfahren der nächsten Bahn zu einem Mäusepieps werden lässt. Es hat etwas Schönes, dass eines der Mädchen eine Brötchentüte in der Hand hält.

Hinter mir gleitet ein ICE vorüber. Sich in diese glatte Raupe setzen und mitnehmen lassen.

"Spandau, einsteigen bitte." Wie ist es eigentlich in Spandau? Und in Spanien?

Ich atme den Rauch meiner Zigarette ein und schließe die Augen wieder. Die Lunge streikt ein wenig. Die Nacht war wirklich lang. Der Gedanke an all die kommenden langen Nächte hockt sich böse kichernd in meinen Schoß.

Richard und seine Nervosität in allem. Drei Monate dauert der Winter, erst dann kommt der Frühling. Aber Richard brachte Tulpen im November.

Die hektischen Absätze einer Frau tackern vorüber. Ein Geräusch, als würde man im Innern einer durchgedrehten Uhr sitzen.

"Heingefahrener Zuhg nach Harensfehlde." Da ist sie wieder. Und das Stichwort. Ich öffne die Augen, trete die Zigarette aus und stehe auf. Gehe zu dem roten Backsteinhäuschen. Sehe kurz durch die offene Tür. "Harensfehlde", Pause. "Zurückbleiben bitte", spricht sie eben in das altertümliche Mikrofon. Sie ist vielleicht erst vierzig, aber jemand Uncharmantes würde sie für fünfzig halten. Ihre Züge sind hager und eingefallen. Sie hatte lange keine Zeit mehr für einen Friseur. Ihr Körper wird von den Nähten des Arbeitskostüms kaum noch zusammengehalten. Ihre Augen sind nichts als Müdigkeit.

Langsam lichten sich die Nebel. Ein zerfetzter "Frisch gestrichen"-Zettel hängt am Geländer der Treppe. Ein Maler steht mit seiner Staffelei auf der Stahlbrücke, den konzentrierten Blick gen Morgenstadt, die Schienen entlang, Richtung ewig blinkendem Fernsehturm. Ich schaue zurück auf den Bahnsteig unter mir. Die Leute warten und warten. Stehen und warten. Nach und nach gehen die Lichter auf den Bahnsteigen aus, die graue Helligkeit ist da, die Uhren verlieren mit einem Knips ihr warmes Licht und ticken kaltblütig weiter.

Ein kleiner roter Bagger gräbt sich entschlossen in einen Erd- und Schutthaufen neben dem Ostkreuz. Hinter ihm stehen stumm lauernd viel größere Bagger und schauen dem kleinen zu.

Ich kicke einen Weinkorken vor mich her, der auf dem Beton lag.

Als ich aus dem Ostkreuz trete, beugt sich gerade liebevoll beschützend eine Reihe blasser Straßenlampen über die glänzende Straße. Kurz halte ich den bleichen Mond für eine weitere Straßenlampe, ein wenig schief. Ich gehe durch das matte Licht. Nach Hause. Mit der Hoffnung, dass der Ofen noch warm ist.

Britta Koth - Benebelt

Britta Koth
Benebelt

 

Ost- und Westkreuz treffen sich
bei Nebel heimlich wöchentlich
nach dem letzten Passagier
fahren sie auf ein, zwei Bier.

Nach Kreuzberg mit der Straßenbahn
doch den genauen Nachtfahrplan
hat das Westkreuz heut’ vergessen
sie ham zu lang zusammgesessen.

Jetzt ist es schon dreiviertel drei
die letzte Tram ist grad vorbei
beide ham ihr Geld versoffen
lassen ihre Rechnung offen.

Schnell, kriminell und unerkannt
und zusätzlich noch abgebrannt
müssen sie – wie unbequem –
jetzt zu Fuß nach Hause gehn.

Das Westkreuz ist schon losgegangen
da hat der Schwindel angefangen
sodass das Ostkreuz auf der Stelle
über eine Bodenwelle.

Übel auf die Fresse fällt
und in dieser Nebel-Welt
unerhört um Hilfe schreit
die Nacht ist lang, Erlösung weit …

Seit dieser nebelreichen Nacht
ist der Schmerz im Kreuz erwacht
nun geht das Ostkreuz täglich früh
zur Rücken-Physiotherapie.

Man hört es ohne Ende klagen
es müsse ständig zuviel tragen
all die Stufen, all die Brücken
drücken ihm so auf den Rücken.

Das Gerenne, das Geknäule
schaden seiner Wirbelsäule
und seit vielen Tagen schon
nimmt es dauernd Cortison.

Besucher sind daher gebeten
nicht so kräftig aufzutreten.
Auch die beiden Bahnen
müssen wir hier mal ermahnen:
nicht so rumpeln, nicht so knallen
nicht so auf die Gleise prallen!

Und wenn wieder Nebelwände
ihre weißen Geisterhände
um die Ostkreuz-Trassen wehn –
dann lasst es doch mal saufen gehn!

Annette Ludwig - Kartibubba

 

Annette Ludwig
Kartibubba

 

Allen Katzen dieser Welt gewidmet,
besonders denen meiner Familie: Billy,
Kartibubba, Ottilie, Otti, Krambambuli und Rocky

 

1.

Ich erinnere mich an eine heiße Woche in Sizilien. Ich bin dort mit meinem älteren Bruder und einigen italienischen Freunden verabredet, die wir schon viele Jahre kennen. Wir wollen noch einmal Sonne tanken, bevor mein Studium in Freiburg beginnt. Das letzte Jahr am Gymnasium war ein schweres Jahr. Wir wollen diese letzten Tage genießen, um zu wissen, dass wir nichts verpasst haben.

 

In Sizilien erwartet uns das übliche Programm. Hitze von fast 40 Grad Celsius, dass man sich nur noch an den Strand oder den Pool retten kann und die einzige Erleichterung am Abend an der Bar oder der Disco der Anlage mit dem eigenartigen Namen Kartibubbo. Highlight eines jeden Abends ist das Abendessen. Ein Büffet erwartet uns mit leckeren italienischen Speisen, zwar immer wieder mit dem gleichen Angebot, aber immerhin ist dies die einzige Zeit, wo man die sizilianischen Temperaturen ertragen kann und das Gefühl hat, sich etwas schicker machen zu müssen.

Am Tag sehen wir uns meist etwas an. Die Städte sind klein und wirken trocken. Kein Wunder, denn hinter dem Wasser sieht man bereits Malta am Horizont. Wir fahren in der Mitte der Woche ins zwanzig Kilometer entfernte Marsala um einzukaufen. Wie immer verpassen wir die Ladenöffnungszeiten und haben vergessen, dass ganz Italien zwischen 13 und 17 Uhr schläft, um den Abend  und die Nachtstunden genießen zu können. Wir schlendern durch die staubigen Straßen und holen uns etwas zu trinken und lassen uns irgendwo an einer Bushaltestelle nieder, weil sich ohnehin niemand bei der sengenden Hitze bewegen kann. Mit einem Mal sehe ich vor dem in meiner Nähe parkenden Auto einen weißen Fleck, der sich bewegt. Ich komme näher und erkenne eine Katze. Es muss ein Katzenbaby sein. Sie ist klein und abgemagert. Ich versuche sie unter dem Auto hervor zu locken, aber sie ist scheu und verkriecht sich weiter unter dem Wagen. Mein italienischer Freund hat die Idee, Milch zu besorgen, um sie herausziehen zu können. Im benachbarten Kiosk holt er einen Becher Milch und erregt damit solche Aufmerksamkeit, dass die gesamte Belegschaft daraufhin aus ihrem Laden kommt, um uns zu beobachten.

Wir stellen den Becher seitlich neben das Auto und gehen einen Schritt zurück. Es dauert eine Weile, bis sich die kleine Katze unter dem Auto hervor bewegt. Langsam und humpelnd geht sie auf den Becher zu und beginnt zu trinken. Mit Schrecken sehen wir eine große verschmutzte Wunde an ihrem rechten Hinterbein, die sich von ihrem Kniegelenk bis zu den Zehen zieht. Wir lassen sie trinken und überlegen, was wir mit ihr tun könnten. Sie in der Stadt zu lassen, scheint uns unmöglich für ein verletztes, halb verhungertes Tier. Wir entscheiden, sie mit in unsere Anlage zu nehmen. Immerhin könnten die Touristen sie dort füttern, wenn wir nicht mehr da sind. Dies wäre allemal besser als hier in der Stadt. Langsam nähert sich ihr mein italienischer Freund und nimmt sie vorsichtig am Kragen. Sie bewegt sich nicht. Wir sehen das erste Mal direkt in ihr Gesicht. Augen, so blau wie ein wolkenloser Himmel, so blau, dass sie fast weiß sind, sehen uns an. Ich kann es nicht glauben, dass eine Katze solche Augen haben kann. Ich öffne meine Tasche und lasse sie vorsichtig hinein gleiten. Wir gehen zum Auto und lassen sie aus der Tasche. Die kleine Katze flüchtet sich unter den Beifahrersitz und bleibt dort regungslos liegen. Wir wollen nichts mehr sehen, wollen nur noch aus der Stadt zurück in die Anlage. Zurück nach Kartibubbo.

Wir lassen die weiße Katze aus der Tasche und stellen ihr Wasser und zuvor gekauftes Katzenfutter in einem Plastikteller vor unseren Bungalow. Gierig beginnt sie zu fressen und verschwindet daraufhin in den angrenzenden Büschen. Unsere Tage gehen dahin wie zuvor. Wir schlafen lange und gehen an den Pool, abends an die Bar. Jeden Morgen finden wir die Plastikteller leer vor und sehen die kleine weiße Katze ab und zu durch die Büsche streifen oder mit der großen schwarzen Wunde am rechten Bein zum Futter humpeln. Manchmal nehmen wir sie hoch. Die Ohren sind schwarz von Milben, durchs weiße Fell laufen dicke Flöhe und das Bein droht zu entzünden. Unser Abflug steht bevor. Ich frage mich, ob wir so abfliegen können, ob wir so abfliegen wollen. Mit einem Mal geht alles ganz schnell. Unsere italienischen Freunde besorgen eine Adresse eines benachbarten Tierarztes. Ich nehme die Katze und fahre mit meinem Bruder in den Ort, an dessen Namen ich mich nicht erinnere. Wir können die Praxis nicht finden und telefonieren mit dem Arzt, der uns von der Tankstelle abholt, bis zu der wir es geschafft haben. Ich ziehe die Katze unter dem Beifahrersitz hervor, unter den sie sich wieder verkrochen hat, und stecke sie in die Tasche, um sie zum Arzt zu tragen. Ich sehe, wie mein Bruder das Gesicht verzieht, vor Ekel beim Anblick ihrer Wunde. Der junge Arzt nimmt sie an sich und horcht ihren kleinen Brustkorb ab. Sie atmet schwer. Er tastet ihr Bein ab und röntgt es. Ich kann nicht glauben, was ich höre. Es ist nicht gebrochen. Der Arzt säubert die Wunde und ich sehe sie mir an, bevor er den Verband anlegt. Vom Kniegelenk bis zu den Zehen ist das Bein geöffnet. Ich sehe rohes Fleisch und erkenne die Muskeln. Die Ränder der Wunde sind rabenschwarz. Er spritzt ein Antibiotikum und versucht einen Verband anzulegen. Die Katze wehrt sich und schreit erbärmlich, so dass die Schwester eingreifen muss. Am Ende werde ich dazu gerufen, um sie festzuhalten. So schaffen wir es endlich zu dritt, ihr den Verband anzulegen. Sie hat bei uns allen dreien Kratzspuren hinterlassen. Sie sitzt erschöpft auf dem Arzttisch. Ich versuche sie langsam zu streicheln und höre mit einem Mal einen vertrauten Ton. Ich hatte immer Katzen in meiner Kindheit, kann mir ein Leben ohne sie nicht vorstellen, aber hab es bei dieser nie gehört. Ein Schnurren voller Vertrauen und Augen, so blau, dass man kaum glauben kann, dass sie echt sind, die mich ansehen aus einem so mageren Gesicht, dass man den Schädel darunter sieht. Ich bitte den Arzt um einen Impfpass und ein Gesundheitszeugnis, weil ich glaube, dass es das ist, was wir brauchen, um sie auszufliegen. Genau kann uns das niemand sagen, weder der Tierarzt, noch die deutsche Botschaft, mit der wir telefonieren und die die Verantwortung an den behandelnden Arzt weiterzureichen versucht. Der Arzt gibt ihr eine Spritze, ich weiß nicht einmal wogegen, und überreicht mir den Impfpass und einen leeren Pappkarton, in dem ich die Katze transportieren kann. Ihre Freiheit ist nunmehr vorbei. Der Verband darf nicht unnötig beschmutzt werden.

Wir fliegen am nächsten Tag zurück nach Deutschland. Die kleine Katze mit uns in einem winzigen Katzenkorb, ausgelegt mit Papier. Keiner hat von uns am Flughafen in Palermo Papiere verlangt, die wir so umsichtig vorher besorgt hatten. Das Einzige, was wir tun mussten, war die Entrichtung von 15 Euro für den Tiertransport. Was soll ich mit der Katze machen, geht es mir durch den Kopf. Ich fange in diesem Semester an zu studieren, werde in Freiburg und nicht in Berlin sein und habe über die Unterbringung der Katze nicht nachgedacht, zumal auch meine Verwandtschaft bereits mit Tieren gesegnet ist.

 

2.

Ich bin in diesem Sommer 18 Jahre alt geworden und das erste Mal für längere Zeit von zu Hause weg. Ich habe mich sehr auf mein Studium gefreut, besonders darauf, selbstständig zu werden und nicht mehr unter kritischer Beobachtung meiner Eltern zu sein. Das Studium macht mir Spaß, besonders aber das Studentenleben. Manchmal sind wir nächtelang unterwegs in den Clubs dieser Stadt, so dass wir morgens nicht immer pünktlich in den Vorlesungen sitzen. Manchmal wundere ich mich über meine eigene Kondition und kann mir kaum vorstellen, wie ich dies fünf Jahre durchhalten werde. Allerdings, meine Noten sind gut und es gibt keinen Grund zur Sorge. Wenn wir feiern, sind wir am liebsten unter uns. Wir sind eine kleine Runde bestehend aus vier Kommilitonen, die alle dasselbe studieren. Mit Mädchen haben wir wenig am Hut. Irgendwie gefällt uns nie richtig eine oder wir sind uns tatsächlich selbst genug. Vielleicht sind wir auch einfach noch zu jung um uns ernsthaft zu verlieben. Ich weiß noch nicht einmal wirklich, was mein Typ ist. Gibt es so etwas überhaupt oder ist es eine Einbildung oder Zusammenfassung dessen, was einem im Leben begegnet ist? Ich jedenfalls kann es an niemandem festmachen. Kann ich es nicht? Ich wohne unweit der Uni in einem privaten Apartment, das ich mir mit einem Mitbewohner teile. Jeden Morgen steige ich auf mein Fahrrad, um Richtung Uni zu radeln. Jeden Morgen sehe ich eine Frau in einem roten Opel an der Ampel warten, immer um die gleiche Zeit. Jeden Morgen steigt ein älterer Mann zu ihr ins Auto. Ich kann sie nur durch die Scheibe sehen. Sie muss älter sein als ich, sehr blond, sehr attraktiv. Ich habe oft daran gedacht, sie anzusprechen, habe mir im Kopf Dialoge zusammengestellt, die ich gleich wieder verworfen habe, habe nach Gründen gesucht, es nicht zu tun. Vielleicht wollte ich auch nur ihr Gesicht sehen, das sich immer hinter einer Scheibe versteckt hielt, wollte ihre Stimme hören und sehen, ob danach der Zauber verfliegt.

 

Die Jahre vergehen. Ich stehe kurz vor meinem Abschluss und bin ruhiger geworden. Ich konzentriere mich auf die Prüfungen und mache Pläne, wie es weiter gehen soll, wo ich wohnen werde, wohin mich das Leben führt. Ich fahre längst mein eigenes Auto, gehe mit Mädchen aus, die meine Pläne nicht beeinflussen.

Bis ich zu meiner letzten Prüfung fahre. Ich halte an der Ampel, neben mir ein roter Opel, darin eine blonde Frau. Ich kann mich nicht erinnern, wie lange ich sie nicht gesehen habe. Oder habe ich sie einfach nicht mehr bemerkt oder bemerken wollen? Ich drehe mich zu ihr, sie lässt die Scheibe herunter. Ich sehe das erste Mal genau in ihr Gesicht. Sie sieht mich direkt an. Ich traue meinen Augen nicht. Warum beschleicht mich mit einem Mal dieses Gefühl, das ich nicht einordnen kann, was ist es, das mich plötzlich so traurig macht, warum verstehe ich nicht, was sie mir sagt? Ich sehe nur ihre Augen, so blau, dass sie fast weiß sind, so blau wie der Himmel ohne Wolken an einem Sommertag. Ich sehe wie sich ihre Lippen bewegen und merke, wie sich meine Gedanken überwerfen. Ist es das, wonach ich immer gesucht habe, kann es sein, dass es begründet ist in einem einzigen Wesen, das ich längst vergessen glaubte? Ich weiß nur noch eins. Ich muss zurück nach Berlin.

 

3.

Ich kann es kaum erwarten nach Hause zu kommen. Als ich den Bahnhof Ostkreuz sehe mit seinem vertrauten, schmuddeligen Charme, bessert sich meine Laune. Ich bin angekommen. Den ganzen Weg zuvor habe ich nur an den letzten Tag gedacht. Warum habe ich nichts gesagt, als ich endlich die Gelegenheit dazu hatte, ging es mir durch den Kopf. Warum war ich nicht in der Lage, ihr in die Augen zu sehen, obwohl ich all die Jahre darauf gewartet habe, dass sie mich ansprechen würde, weil ich selbst nicht den Mut dazu gehabt hatte. Weil sie nie allein war, weil sie zu viel Stil hatte, weil sie zu schön war oder weil ich es nicht gewagt hätte, sie mit meiner Gegenwart zu belästigen.

Getrieben von einer inneren Unruhe fahre ich in meine Straße ein und parke mein Auto an meinem gewohnten Platz. Ich gehe die Treppe hinauf und schließe meine Wohnung auf. Ich werfe  meine Tasche in die Ecke und nehme mein altes Telefonbuch aus meiner Schublade. Ich habe es seit Jahren nicht geöffnet und die Seiten sind gelb geworden. Ich suche einen Namen und finde eine Nummer. Langsam wähle ich die Zahlen und habe Angst, es könnte jemand den Hörer abnehmen und ich habe noch mehr Angst, es würde nicht passieren. Etwas drückt unheimlich auf meinen Bauch, oder ist es mein Herz, während ich in den Hörer lausche. Endlich vernehme ich eine Stimme, leise, aber vertraut. Es ist lange her, dass ich diese Stimme gehört habe. Ich habe das Gefühl, als wenn eine jahrelange Last von meiner Seele fällt, so dass ich anfangs kaum sprechen kann, als ich erkannt werde und mich ihre Worte begrüßen. Sie fragt, ob ich zum Kaffee komme, gleich morgen, dann wann ich möchte. Sie freut sich, mich zu sehen. Ich freue mich, sie zu sehen, ich kann es kaum erwarten.

Ich finde nicht gleich ihre Wohnung und muss erst danach fragen. Ich klingele an ihrer Tür und höre müde Schritte, die sich nähern. Ich sehe in ihr alt gewordenes Gesicht, erkenne die vertrauten Züge, sehe in ihre gütigen, liebenden Augen. Sie bittet mich herein und möchte alles wissen, wie ich die letzten Jahre verbracht habe, wie mein Studium gelaufen ist. Ich erzähle ihr von Dresden, von meinem Leben, von meiner Arbeit. Sie hört interessiert zu und ihre klugen Augen sehen mich an. Sie weiß, warum ich gekommen bin, weiß, warum ich mich nicht wage zu fragen, weiß, warum ich mich die ganze Zeit nicht gemeldet habe. Meine Augen suchen die Wohnung ab und ich werde unruhig. Sie bemerkt es und schlurft langsam aus dem Zimmer, lächelt vor sich hin mit ihrem alten wundervollen Gesicht und öffnet eine Tür. Ich sitze wie versteinert in meinem Stuhl, als sich eine kleine Gestalt geschmeidig durch die Tür schlängelt. Sie ist mittelgroß, sehr weiß, der Gang würdevoll, der Kopf erhoben. Sie läuft auf mich zu und sieht mir direkt ins Gesicht. Ich kann es kaum glauben, als ich ihre Augen sehe. So blau, wie ein Himmel ohne Wolken, so blau, dass sie fast weiß sind. Ich versuche sie zu berühren, aber sie zuckt skeptisch zurück. Meine Augen suchen das rechte Bein ab und finden nichts Ungewöhnliches. Ich denke an gestern und beginne zu verstehen. Ist das alles wegen dir? Kann es sein, dass mich dein Gesicht verfolgt und mir keine Ruhe lässt? Bis jetzt. Ich weiß nun, dass ich auf einen roten Opel warten werde, dass ich auf ihn warten muss, dass ich sie diesmal selbst ansprechen kann, weil ich meine Ruhe gefunden habe.

Ich drehe mich zur Gastgeberin und frage nach dem Namen der weißen Katze, meiner Katze. Sie sieht mich erstaunt an und sagt, ich müsse es doch wissen.

Das ist Kartibubba.

Ilse Treue - Sibylle

Ilse Treue
Sibylle

 

Schwer lag der Nebel über dem Ostkreuz, als Sybille die Bahnhofstreppen empor hastete. Pustend oben angekommen sah sie nur noch die Schlusslichter des Zuges. Ärgerlich schaute sie auf die Uhr. Dann zuckte sie hilflos mit den Schultern. Nichts zu machen, sie war zu spät dran. Wird Herbert auf sie warten? Sie hatten sich zu einem Stadtbummel verabredet, wollten durch die Schönhauser Allee schlendern, auch irgendwo etwas essen. Wann war ich das letzte Mal mit einem Mann in einer Gaststätte, überlegte Sybille. Das ist lange her. Sie war nicht mehr die Jüngste. Seit mehreren Jahren lebte sie allein und wollte es auch bleiben. In der Wandergruppe war sie Herbert begegnet. Er konnte interessant erzählen, konnte Pflanzen und Bäume bestimmen. Selbst viele Vogelstimmen waren ihm vertraut. Sie hörte ihm gern zu. Seine ruhige, besonnene Art gefiel ihr. Schnell gewöhnte sie sich an seine Nähe. Als er neulich nicht mitwandern konnte, vermisste sie ihn. Heute trafen sie sich zum ersten Mal außerhalb der Wandergruppe. Mit einer Mischung aus froher Erwartung und innerer Spannung hatte sie sich auf den Weg gemacht – und musste sich so verspäten. Sie wusste, dass Herbert großen Wert auf Pünktlichkeit legte. "Heute, im Zeitalter der Handys, hat man es nicht nötig, Freunde im Ungewissen zu lassen", meinte er oft verdrossen, wenn sich ein Teilnehmer verspätete. Worauf Sybille stets konterte, dass ein Handy nun einmal nicht jedermanns Sache sei. Sie hätte auch keines und vermisse es auch nicht. Doch heute vermisste sie es. Sie war im Betrieb aufgehalten worden, musste dann ewig auf den Bus für den Schienen-Ersatzverkehr warten. Die Krönung war aber die Baustelle vor dem Bahnhof Ostkreuz. Ehe sie den richtigen Weg zum Eingang fand, hatte sie kostbare Zeit verloren und den Pendelzug verpasst. "Es ist schon ein Kreuz mit dem Ostkreuz", seufzte sie. Und das ist erst der Anfang. Was wird da noch alles auf uns zukommen? Doch alles Lamentieren half nichts, davon kam die nächste Bahn auch nicht schneller. Jetzt hieß es warten, warten. Ihr fröstelte. Das neblige Wetter gab ihrer Stimmung den Rest. Das ist aber auch eine dicke Suppe heute! Alles erschien ihr wie durch einen milchigen Schleier. Missmutig schaute sie vom Ringbahnsteig auf die unteren Gleise hinab. Züge, die aus Erkner oder Mahlsdorf kamen, konnte man nur ahnen. Erst kurz vor dem Bahnhof tauchten sie schemenhaft auf. Die summenden Fahrgeräusche verschluckte der Nebel. Gewohnheitsmäßig schweiften ihre Blicke zum alten Wasserturm, dem Wahrzeichen dieser Gegend. Das konnte doch nicht sein! Er war weg, versteckt hinter einer weißen Wand! Angestrengt schaute sie in seine Richtung. Für einen Augenblick wurde ein Spalt sichtbar und ließ die Spitze des Turmes erkennen. Doch im nächsten Moment verschwand sie wieder. Für den kranken Bahnhof hat der Nebel eigentlich etwas Tröstliches, kam es ihr in den Sinn. Er streichelt und kühlt seine vielen rostigen Wunden. Unter seinem Schleier wirkten sie auch nicht ganz so hässlich. Eine merkwürdige Atmosphäre hing in der Luft. In dem wabernden Nebel glaubte Sybille Gestalten zu sehen, die um den Turm schwebten. Ach was, ihre Phantasie spielte ihr einen Streich. Aber nein, jetzt hörte sie ein leises Kichern wie von übermütigen Kobolden. So ein Kobold schien auf ihrem Rücken zu sitzen und ihr die Zeit zu stehlen.

Man erzählte sich, dass in dem Wasserturm die Kobolde und Geister der Bahn schliefen. Nur bei Unwetter und dichtem Nebel verließen sie das alte Gemäuer. Mit den Kobolden hatten die Geister ihre liebe Not, denn für diese begann eine lustige Zeit. Übermütig trieben sie mit den Menschen ihren Schabernack. Jetzt, wo es durch den Umbau des Bahnhofes manches Chaos gab, hatten sie besonderen Spaß. Hektische Passanten ließen sie stolpern, setzten sie in verkehrte Züge oder stellten anderen Unfug an. Schadenfroh belachten sie obendrein ihre Opfer. Dagegen mussten die hilfsbereiten Geister der Bahn pausenlos auf dem Posten sein. Unsichtbar setzten sie sich neben den Triebwagenfahrer und leiteten ihn sicher durch den Nebel. Andere Bahngeister beobachteten die schwer überschaubare Baustelle vor dem Bahnhof. Kinder und hilfsbedürftige Personen nahmen sie unmerklich an die Hand und brachten sie auf den richtigen Weg. Dabei kam es manchmal zum Streit mit den Kobolden, die in ihrem Übermut keine Grenzen fanden. Das bekam auch Sybille zu spüren, die schon den ganzen Tag von Kobolden verfolgt wurde. Zu spät bemerkte ein Bahngeist das. "Diesmal geht ihr aber entschieden zu weit", entrüstete er sich. Wie ließ sich das wieder gut machen? Der Zeitverlust war nicht aufzuholen. Man musste Herbert finden und ihn zur Geduld ermuntern. Eilig schwebte der Bahngeist davon.

Unterdessen wartete Sybille immer noch. Endlich fuhr ein voll besetzter Zug ein, der hier endete und wieder zurück pendelte. Die Fahrgäste schoben und schubsten sich heraus, die Wartenden auf dem Bahnsteig  drängten in die Bahn hinein. Bevor Sybille einstieg, warf sie einen letzten Blick zum Wasserturm. Ihr schien es, als ob die Nebelschwaden sie anlächelten. "Immer positiv denken", redete sie sich zu, obwohl sie kaum noch Hoffnung hatte, Herbert zu treffen. Sie schimpfte auf die Bahn, haderte mit sich selbst und beschwor alle guten Geister, Herbert am Treffpunkt ausharren zu lassen, wenigstens dieses eine Mal. Aber kein Geist hörte sie. Herbert war nicht da. Ratlos stand sie am vereinbarten Platz, blickte in alle Richtungen, doch vergebens. Warum nur hat er nicht auf mich gewartet, ging es ihr durch den Kopf. Konnte er sich nicht denken, dass Schienenersatz- und Pendelverkehr einen Zeitplan durcheinander bringen? Die Vorfreude wich einer Enttäuschung. Es sollte eben nicht sein. Schon bei der ersten kleinen Bewährungsprobe zerbrach ihre aufkeimende Freundschaft. Das tat weh.

Mit bitteren Gedanken trat sie den Heimweg an. Traurig stieg sie am Bahnhof Ostkreuz aus dem Zug. Traurig blickte sie noch einmal zum Turm, der verschwommen aus dem sich sachte lichtenden Nebel herausschaute. Noch immer schwebten Wattefetzen um ihn herum. Wieder kam es ihr vor, als ob freundliche Gestalten herab lächelten. Doch diesmal konnte sie nicht positiv denken. Wie dumm sie war, sich Hoffnungen zu machen. Sie hatte wirklich geglaubt, ihrem Leben noch einmal eine Wendung geben zu können. Der Traum zerfloss im Nebel. Resigniert ging sie das letzte Stück zu Fuß nach Haus.

Mechanisch schloss sie die Tür auf. Mechanisch hängte sie ihre Jacke auf den Bügel. Mechanisch nahm sie den Hörer ab, als das Telefon klingelte. Sekunden später leuchteten ihre Augen. "Wo bist du? Von wo rufst du an?" — "Wie ist das passiert? Brauchst du Hilfe?" — "Gut, ich komme." "Ich konnte dich leider nicht erreichen", entschuldigte sich Herbert. Sibylle war wie ausgewechselt. Herbert hatte sich den Fuß verstaucht. Zum Glück war nichts Schlimmeres passiert. Schnell legte sie eine Flasche Wein in ihre Tasche und machte sich auf den Weg.

Es wurde ein harmonischer Abend. Sie hatten sich viel zu erzählen. Herbert genoss ihre Fürsorge. In Sybille regte sich ein lange nicht mehr gekanntes Gefühl von Geborgenheit. Sie dachte an die Nebelschwaden, die ihr zugezwinkert hatten, und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. "Habt Dank!", sprach sie still zu sich selbst. Gleich morgen wird sie sich ein Handy kaufen. Schließlich schweben nicht jeden Tag freundliche Gestalten um den Wasserturm.

Leise verließ der Bahngeist die beiden. Hier war er nicht mehr vonnöten. Für ihn wurde es höchste Zeit, in den Turm zurück zu kehren. Das Wetter hatte sich gebessert. Die Sicht wurde  klarer. Mit dem Verschwinden des Nebels mussten auch die Kobolde und Geister verschwinden. Wer nicht rechtzeitig zurückfand, wurde vom Wind verweht und später von der Sonne aufgesogen. Erschöpft schlüpfte er in letzter Minute durch einen Fensterspalt, wo er von den anderen Geistern ungeduldig erwartet wurde. Nun, da auch der Letzte heim gefunden hatte, fielen alle in einen tiefen Schlaf. Manch einer lächelte im Traum. Die Kobolde kicherten noch eine Weile miteinander. Dann schliefen auch sie ein. Um den Wasserturm, der jetzt wieder wie eh und je stumm dastand, wehte sanft der Nachtwind. Sobald aber die nächsten Nebel aufziehen, schweben die Bahngeister vom Turm herab und verrichten unerkannt ihre hilfreiche Arbeit.

Peter Grünwald - La belle nébuleuse

 

Peter Grünwald
La belle nébuleuse

 

1

Reisende, die sich mit der Ringbahn dem Ostkreuz von Norden her nähern, befinden sich in luftiger Höhe. Sie überfliegen die Frankfurter Allee, huschen an Fensterreihen, Fabriken, Hinterhöfen und Brandmauern entlang, immer in Höhe der dritten, vierten Etage, und staunen nicht schlecht, wenn der Zug dann hält und sie sich plötzlich von Leuten umringt sehen, die sich auf Augenhöhe mit ihnen befinden.

Ich bin am Ostkreuz. Es ist ein blanker, heller Vormittag, ungewöhnlich für diesen sich allmählich neigenden November. Die Gleise, sonst nur dazu da, den Zügen den Weg leicht zu machen, blitzen und blinken heute, als redeten sie aufgeregt miteinander; sie treffen sich in Knäueln, verabreden etwas, um dann wieder nach allen Richtungen auseinander zu stieben.

Aber ich muss weiter, stadteinwärts, also hinunter, den Abermillionen Füßen, die diese Treppe schon getreten haben, ein weiteres Paar hinzufügend. Ich bin auf dem Weg zu "Meinem Antiquariat". Ich habe es vor ein paar Jahren zufällig entdeckt und bin oft genug wiedergekommen, um es als "Mein Antiquariat" zu betrachten. Es befindet sich in einer kleinen Seitenstraße, eigentlich ist es ein Durchgang, eine Passage, die nur auf sehr guten Berliner Stadtplänen verzeichnet ist. Sie liegt so etwa zwischen Torstraße und Weinmeisterstraße (oder war das die Münzstraße?). Mehr will ich nicht sagen. Es ist ein verschwiegenes Antiquariat in einer verschwiegenen Gasse. Und ich möchte, dass das so bleibt.

Auch das Gebäude, dessen beide unteren Etagen das Antiquariat einnimmt, ist ungewöhnlich für Berlin: schmale Fassade, heiteres, aber solides, üppiges Neobarock aus dem späten Neunzehnten, unverputzter Kalksandstein, unrestauriert, aber völlig intakt. Man wähnt sich plötzlich in Paris, in einer Gasse im Marais etwa. Der Erker über dem Portal wird von zwei Karyatiden gestützt. Im Gegensatz zu den üblichen Atlassen oder Herkulessen, sind es hier aber zarte Frauen, die trotz ihrer Schwerstarbeit die anmutigen Linien wahren und entspannt miteinander zu plaudern scheinen.

Ich bin kein Büchersammler, keiner von denen, die über die Antiquariate herfallen, ständig auf der Jagd nach Inkunabeln und raren Erstausgaben. Es wäre auch viel wahrscheinlicher, auf einem Flohmarkt zwischen all dem Konsalik- und Danella-Altpapier in der Ein-Euro-Wühlkiste auf eine Erstausgabe von Musil, Rilke oder Frisch zu stoßen als hier. Hier kennt man sich mit Büchern aus. Der Besitzer ist ein kleiner alter Mann, freundlich aber wortkarg, so gar nicht wie einer, der am Kaufen oder Verkaufen ein berufsmäßiges Interesse hätte. Und dann ist da noch eine junge Frau, die meistens mit Büchern beladen durch den Laden huscht. Ich vermute, es ist eine Verwandte des Besitzers, vielleicht eine Enkelin. Obwohl ich öfters hier bin, gelte ich wohl nicht als Stammkunde, dazu kaufe ich zu selten etwas. Aber als die junge Frau mir das erste Mal einen Kaffee anbot, vor ein paar Monaten, war das so, als hätte ich die höheren Weihen empfangen, als sei ich aufgenommen worden, nicht als ein Bücherkäufer — was hier wohl eher profan wäre —, sondern als Kenner. Ich genieße die pfeffrige Atmosphäre, die alte Bücher verbreiten, stöbere durch die Reihen, lese mir die Buchrücken vor und nicke zustimmend, wenn ich auf alte Bekannte treffe.

Heute früh wurde mir allerdings durch Lisas überraschenden Anruf klar gemacht, dass "Mein Antiquariat" gar nicht so ganz meins ist, es womöglich nie wirklich meins war. Es ist Lisas Antiquariat, sie arbeitet nämlich dort, wie ich jetzt weiß.  Lisa ist meine Ex-Freundin. Unsere Wege haben sich seit drei Jahren nicht mehr gekreuzt. Es hieß, sie habe einen Langweiler geheiratet und ließe sich nirgends mehr sehen. Aber das hat mich nicht überrascht. Auch andere Frauen haben, nachdem sie mich verlassen hatten, Langweiler geheiratet. Warum das so ist, wage ich allerdings nicht mich zu fragen.

 

2

Ich habe kaum den Laden betreten, da klappt irgendwo eine Tür und Lisa kommt auf mich zu. Lisa sieht aus wie früher. Hat sie sich wirklich nicht verändert oder liegt das an mir, weil ich es so will?

Lisa hält sich nicht lange mit der Begrüßung auf. Sie weist mir den Weg in die Tiefen des Ladens, es geht ein paar Stufen hinauf, und dann sind wir in einem kleinen Büro im Zwischenstock. Es ist ein niedriger Raum mit einem halbrunden Fenster mit Blick in einen kleinen Hof, in dem eine mächtige, einsame Platane steht. Sie steht dort so disparat, dass ihr Anblick mich sofort fesselt, verwundert, ja fast erschreckt. Der Baum ist augenscheinlich sehr viel älter als die Häuser dieses Viertels, die sind aus dem späten neunzehnten Jahrhundert und müssten damals um den Baum herum gebaut worden sein.

"Der Baum ist mein Freund", sagt Lisa, die meinem Blick gefolgt ist, "er erzählt mir vom Wechsel der Jahreszeiten".

Der Raum ist finster, es gibt einen großen Schreibtisch, Regale, Stühle und ein altes Ledersofa. Überall stapeln sich Bücher. Der Computermonitor zeigt wirr anmutende Tabellen, ein anderer Bildschirm zeigt das Innere des Ladens. Lisa deutet auf den einzigen freien Stuhl, ich setze mich. Lisa setzt sich auf eine Bücherkiste und zündet sich eine Zigarette an. Sie raucht immer noch diese maisgelben, dicken Gitanes wie früher. Wo sie die wohl her hat?

"Und du handelst jetzt mit alten Büchern?" Ich merke sofort, dass die Frage herablassend ironisch klingt. Was rede ich da? Was ist mit mir los? Zum Glück geht Lisa gar nicht darauf ein.

"Meine Arbeit ist es, Ordnung und Übersicht in den Buchbestand zu bringen, etwas, was hier schon seit Generationen immer wieder begonnen und ebenso oft aufgegeben worden ist. Aber ich will es schaffen. Ich bin nicht versessen darauf, aber es macht mir Freude. Ich liebe diese Arbeit: Die Bibliothek von Babylon neu erschaffen, als Datenbank. Manchmal stoße ich auf echte Schätze. Und von Zeit zu Zeit macht der Laden mit meiner Hilfe ganz gute Geschäfte. Und dann freuen wir uns alle, obwohl es niemand für wirklich wichtig hält."

"So kenne ich dich gar nicht."

"Ach nein?" Lisa lächelt. "Wer kennt schon wen. Manchmal verirrt sich jemand aus meinem früheren Leben hierher. In der ersten Zeit bin ich dann meistens nach vorn in den Laden gegangen, um ihn zu begrüßen. Das habe ich dann bald aufgegeben. Ich kann mein Leben niemandem erzählen und ich mag es nicht hören, wenn andere mir ihr Leben erzählen. Es sind ja meistens Lügen."

"Aber ich erzähle doch gar nichts."

"Dann ist es ja gut. Wenn jetzt jemand, den ich von früher kenne, den Laden betritt, begnüge ich mich damit, seine Anwesenheit mit einem Blick auf dem Monitor der Überwachungskamera zu registrieren. Ich beobachte ihn eine Weile, lasse ein paar Bilder aus einer fernen Vergangenheit vorbeiziehen und wende mich wieder meiner Arbeit zu. C’est tout."

"Und warum bin ich jetzt hier und nicht auf deinem Monitor?"

"Weil du verrückt genug bist, dich von Geheimnissen inspirieren zu lassen." Sie schlägt das Buch, das sie die ganze Zeit auf dem Schoß gehalten hat, auf, entnimmt ihm einen Zettel und reicht ihn mir. "Sieh mal, was ich gefunden habe."

Es ist ein zweifach gefaltetes Blatt brüchigen bräunlichen Papiers in einem altmodischen Format, Oktav nennt man das wohl, bedeckt mit hebräischen — für mich allerdings völlig kryptischen — Zeichen, geschrieben mit einer Feder und brauner oder braun gewordener Tinte. Im unteren Drittel des Blatts, größer geschrieben und durch Einrahmen hervorgehoben:

52 31 06 N 13 24 36 E 39049,13889

"Ich kenne einen Theologiestudenten, der das Hebraicum hat, ein alter Kunde. Der sagt, diese hebräischen Zeilen ergeben keinen Sinn, wahrscheinlich willkürlich aus irgendwelchen talmudischen Schriften abgemalt. Aber das hier", Lisa zeigt auf die umrandete Zeile, "das hier ist wirklich interessant!"

"N, E. Das sind offensichtlich Koordinaten. Nördliche Breite, östliche Länge, Grad, Minuten, Sekunden…"

"Und weißt du, wo das ist? Ostkreuz! Ein paar Meter südlich der Stadtbahngleise und ein paar Meter westlich von der Ringbahn."

"Und was soll dort sein, eine Böschung mit Unkraut? Ein verfallener Schuppen? Ein keltisches Grab? Die Kiste mit dem Heiligen Gral?"

"Ich wusste, dass es dir gefallen würde", erwiderte sie ungerührt, "genau dort steht der alte Wasserturm!"

"Und die anderen Ziffern?"

"Paulchen, unser Praktikant, hat es herausgefunden: Seit Computer mit dem Datum rechnen, hat für sie jeder Tag, beginnend beim 1. Januar 1900, eine fortlaufende Nummer. Die Nummer 39049 ist demnach der 28. November 2006." Lisa blickt mich triumphierend an. Auf ihrem Gesicht zeigen sich erste hektische Flecken. Allmächtiger, die Frau ist in Fahrt! Und um auch etwas beizutragen, sage ich: "Das ist morgen."

"Ganz recht."

"Verstehe. Und die Ziffern nach dem Komma, das könnte die Uhrzeit sein."

"Genau. Aber der Witz ist, diese Ziffern stellen keinen Wert dar, sondern eine Relation. Prozent, Promille, so etwas. Darauf muss man erst mal kommen!"

"Ah ja. Und 139 Promille von 24 Stunden wären demnach…"

"Drei Stunden, zwanzig Minuten. Ich hab's schon ausgerechnet."

"Die Nachricht ist also: Das Ereignis — was immer das ist! — findet am 28. November 2006 um drei Uhr zwanzig im oder am Wasserturm statt!"

"Ich sehe einmal nach, ob ich die beiden ersten Bände zu dem Ding da noch finde. Geh nicht weg." Und schon, mit wehendem Pferdeschwanz, ist Lisa verschwunden.

Wieso kommt es niemand, mir auch nicht, seltsam vor, auf einem Zettel, der augenscheinlich mindestens vierzig, fünfzig Jahre alt ist, wenn nicht noch älter, ein Comupterdatum zu finden? Ich blättere in dem Buch, das den geheimnisvollen Zettel enthielt. Es ist der dritte Band von "The Sacred Magic of Abramelin the Mage", MacGregor Mathers’ Übersetzung der hebräischen Ausgabe von 1548, verlegt bei John M. Watkins, London, 2. Auflage, 1900, lese ich auf dem Titelblatt. Es enthält seitenweise magische Wortspielquadrate, aus denen, wie es heißt, die Zukunft gelesen werden könne. Falls es zwischen dem Buch und dem Zettel darin einen Zusammenhang gibt, werden wir vor unlösbaren Fragen stehen. Kabbalistische Zahlenmystik ist nun nicht gerade mein Fachgebiet.

Heute früh war mein Leben noch einfach. Es drehte sich um die Frage, ob meine Haushaltskasse es erträgt, wenn ich der Novemberdepression in den Süden entfliehe oder nicht.

Draußen ist es unterdessen dunkelgrau geworden. Die Platane streckt ihr gelbgrünbräunlich geschecktes Gerippe in das Himmelsviereck weit über sich. Es regnet. Und jetzt sind sogar Schneeflocken dazwischen. Vormittage im Spätherbst nach dem ersten Schnee, das erinnert mich an etwas, trägt mich weit fort:

Ich sehe Lisa, Lisa vor sechs Jahren, ihre graugesprenkelten Augen, die immer ein wenig verwirrt schauen, zumal jetzt, wo sie ihre Brille abgenommen hat. Sie klopft sich den Schnee vom Mantel. Für dieses Wetter ist sie wieder einmal viel zu dünn angezogen. Sie hat kalte Hände und eine kalte Nase. Sie trinkt gern Tee "mit etwas drin", auch am frühen Morgen. Ihre Stimme ist leise, auch wenn sie flucht, wie jetzt, auf das Wetter. Manchmal hört man einen nördlichen Akzent heraus. Sie badet gern lange, summt dabei vor sich hin und scheint weit weg zu sein, in ihrer Kindheit vielleicht oder noch früher. Meine Jeans passen ihr gut, beinahe noch besser als mir, jedenfalls sieht sie viel besser darin aus, finde ich. Ihre Brüste sehen immer so aus, als wäre ihnen kalt…

"He! Was ist mit dir? Träumst du?" Lisa ist zurück, ohne Bücher, aber mit einem Zettel in der Hand. Und sie sieht mich an, als wüsste sie genau, woran ich bis eben gedacht habe. Und ich bemühe mich, nicht so auszusehen, als befürchtete ich das.

"Die fehlenden Bände gibt es nirgends", sagt Lisa, "aber ich habe mit Sophie Brouillard telefoniert. Sie wird heute Nacht am Ostkreuz sein. Du triffst sie dort. Sie kennt sich aus und weiß, worauf bei Dingen, die, nun ja, ungewöhnlich sind, zu achten ist. Außerdem kennt sie Matt."

"Das wird ja eine richtige Zusammenkunft: erst eine Sophie und dann auch noch Matt. Was sind das für Leute?"

"Sophie ist Sophie, du wirst schon sehen. Und Matt, den sie kennt, das ist Matthias Matulke. Matt gehört der Turm."

"Die Deutsche Bahn hat diesem Matt den Ostkreuzturm verkauft?"

"Nein, er hat ihn besetzt. Und die Bahn tut nichts dagegen, so lange er für sich bleibt und sich unauffällig verhält. Ein komischer Kauz, durchgeknallt, früher mal Ethikprofessor gewesen. Er soll für die DDR in der UNO-Kommission mitgemischt haben, die eine internationale Konvention zur Vorgehensweise bei Kontakten mit Außerirdischen ausgearbeitet hat, in den Siebzigern. Aber das tut jetzt nichts zur Sache. Matt ist unser Mann, falls du in den Turm hinein musst."

 

3

Der S-Bahn-Zug fährt wie durch Watte. Das Ostkreuz sehe ich nur als Namen, als leuchtend durchlaufenden Schriftzug im Innern des Waggons. Draußen ist nichts. Nichts außer Nebel. Es ist kurz vor drei. Lisa hat mir drei Dinge mitgegeben: den Abramelin ("Falls es doch mit dem Buch zusammenhängt."), ihr Mobiltelefon ("Halte mich auf dem Laufenden!") und eine Packung von ihren Gitanes Maïs ("Damit du durchhältst!"). So also werden einsame Krieger für eine heikle Mission ausgerüstet! Ein wenig erinnert mich das an unsere Kinderspiele, Lisas und meine. Da ging es auch immer darum, Geheimnisse zu lüften oder zu bewahren. Unsere ersten erotischen Geheimnisse waren dann auch so geheim, dass ich sie nicht einmal meinem Tagebuch anvertraut habe, sondern ein zweites, noch geheimeres anlegte, ein Schattentagebuch sozusagen, das ich sogar vor mir selber versteckte. Ich habe es später nie wieder gefunden.

Der Nebel ist undurchdringlich. Ich sehe die Bahnsteigkante erst, wenn sie eine Handbreit vor meinen Füßen auftaucht. Der Nebel dämpft alle Geräusche, kein Zuggeklapper mehr, keine Stimmen. Und dennoch kommt es mir laut vor, dieses Scharren, Schlurfen, Wispern überall. Das ist wohl so, weil die Blindheit meine Ohren geschärft hat.

Ein schmaler Schatten, der sich kaum merklich von dem ihn umgebenden milchigen Grau unterscheidet, schwebt auf mich zu. "Bist du bereit?", flüstert eine Frauenstimme dicht an meinem Ohr. Das muss Sophie sein.

"Klar bin ich bereit. Aber wofür?" Meine Worte sind nur noch ein Selbstgespräch, denn der Schatten ist schon wieder verschwunden.

Manchmal reißen die Nebelschwaden auf und ich kann die Mütze vom alten Wasserturm sehen. Was mag er enthalten, jetzt, da die Züge schon lange nicht mehr mit Dampf fahren?

Zwei tanzende Schatten tauchen vor mir auf, gestikulierend debattierende junge Männer.

"Wenigstens kann ich behaupten, mich immer wie ein Gentleman benommen zu haben", sagt der eine.

"Aber vielleicht warst du auch nur ein Trottel!", sagt der andere.

Dann sind sie wieder fort.

Ich höre einen tiefen, Sekunden anhaltenden Ton. Dann Stille. Dann wieder dieser Ton. Das ist ein Nebelhorn! Matt hat ein Nebelhorn auf seinem Turm!

Und jetzt erscheint wieder Sophie — ich halte diesen Schemen für Sophie — aus dem Nebel: "Haben Sie das Buch? Ich brauche das Buch!"

Die beiden Schattenmänner kommen zurück.

"Das Leben ist anstrengend. Und ist es einmal nicht anstrengend, ist es langweilig", sagt der eine.

"Ja ja, immer so zwischen Stress und Tristesse verrinnt das Leben", sagt der andere.

Sophie huscht an mir vorbei und zischt: "Das Buch! Und gehen Sie weg!" Dann ist sie wieder fort, vielleicht wegen des dicken alten Mannes, der plötzlich neben mir steht, wirres Haar, nachlässig übergeworfener Mantel, darunter, sehe ich, trägt er einen Schlafanzug. Ein Typ aus der Nachbarschaft? "Hören Sie das", krächzt er, "da ist es wieder! Dürfen die das überhaupt? Ich kann nicht schlafen! Jedes Mal bei ein bisschen Nebel dieses verdammte Getute! Ich werde sie verklagen!"

Ich find’s schön, so ein Nebelhorn. Es erinnert mich ans Meer. Ich bedauere manchmal, dass Berlin nicht an einem Meer liegt.

Durch einen Riss im Nebel kann ich für Augenblicke bis zum Turm sehen. Dort, irgendwo zwischen den Gleisen, sehe ich Sophie stehen. Oder schweben, denn ihre Füße sehe ich nicht. Sie ist schön, sehr schön sogar, so weit ich das sehen kann, und wütend, das sehe ich ganz deutlich. Sie spricht zu mir. Ich verstehe nichts, kann aber von ihren Lippen Wörter wie "Das Buch!" und "Idiot!" ablesen. Dann ist sie verschwunden.

Sophie. Das kommt von Sojia, das ist Griechisch und bedeutet Weisheit. Welch eine Ironie!

 

4

Zwei Tage später erfahre ich, dass das Gelände um den Wasserturm seit vorgestern mit Drahtgitterzäunen umstellt wäre. Den Leuten habe man etwas von "archäologischen Fundstätten" erzählt. Andere behaupten, der Turm wäre in jener Nacht plötzlich giftgrün gestrichen gewesen und ein Trupp vom Grenzschutz hätte die ganze Nacht geschrubbt, um das Zeug bis zum Hellwerden wieder wegzubekommen. Und was die echten Verschwörungstheoretiker dazu meinen, kann man sich leicht ausmalen.

Hin und wieder, wenn ich das Ostkreuz passiere, steige ich aus, setze mich für ein paar stille Minuten auf eine Bahnsteigbank und starre den Turm an. Näher heran komme ich nicht, gleich hinter den Gleisen beginnt ein hoher Metallgitterzaun. Ich habe den Abramelin bei mir, allerdings in der Guthschen Übersetzung von 2006. Es ist ein krauses Buch, aber mehr auch nicht. Es ist viel zu neu, um magisch zu sein. Niemand weiß etwas von Matt. Und Sophie? Als Feenerscheinung war sie umwerfend, als Göttin der Weisheit eine Enttäuschung.

Und dann dieser Turm da. Irgendwann werde ich den Dingen auf den Grund gehen und hinaufsteigen. Ja, so ist das, manchmal muss man hinauf, um auf den Grund zu kommen. Aber nicht heute.

Katharina Triebe - Die Gunst der Stunde

Katharina Triebe
Die Gunst der Stunde

 

"Hallo, ihr Lieben, recht schönen guten Morgen!" Gut gelaunt tönte Plackmüllers Stimme durchs Büro. Einige Kollegen nickten ihm zu, andere waren schon eifrig am Telefonieren. Die Sekretärin klapperte fröhlich mit dem Kaffeegeschirr und balancierte schwungvoll das Tablett an ihm vorbei ins Büro des Chefs. Plackmüller schlenderte zu seinem Schreibtisch, schob den Aschenbecher zur Seite und stellte die Aktentasche ab. Eigentlich war seit fünf Minuten Arbeitszeit in der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, kurz BfA, höchste Zeit also, sich der Akten anzunehmen, aber bevor er richtig loslegte, musste Plackmüller unbedingt noch eine Sache loswerden. Er tippte seinen Kollegen an. "Na, Bernhard, schon Pläne für’s Wochenende?" Der legte seine Listen beiseite und blickte auf. "Ja, aber bestimmt nicht so aufregende wie du!" Plackmüller grinste. Er war als Frauenheld bekannt und hielt mit seinen Bekanntschaften auch nicht hinter dem Berg. Er war ein flotter Kerl, konnte amüsant  plaudern und das Geld saß ihm locker in den Taschen. Wenn er von seinen Errungenschaften erzählte, ruhte im Büro die Arbeit und alle lauschten seinen Histörchen. Der einzige, den sie unberührt ließen, war Heinevetter. Ein hoffnungsloser Fall in punkto Frauen, der, obwohl bereits Mittdreißiger mit schwindender Haarpracht, bis vor kurzem noch bei seiner Mutter gewohnt hatte. Er galt als schüchtern, hielt zu niemandem Kontakt und vergrub sich am liebsten völlig in seine Arbeit. Mit verbissenem Eifer blätterte er auch heute wieder in seinen Unterlagen, markierte hier eine Zeile, unterstrich dort einen Absatz.

Plackmüller hatte inzwischen flugs ein Foto aus seiner Aktentasche gezogen, glättete liebevoll die Ecken und zeigte es stolz für alle sichtbar hoch. "Sie heißt Sylvia!" Nicht nur Bernhard, auch die anderen traten nach und nach näher. Das Foto war schon etwas ramponiert, zeigte eine üppige Blondine mit prächtigen Locken und verdammt hübschen Beinen, die auf einer Parkbank saß. "O lala, wo hast du die denn aufgegabelt?", rief einer bewundernd. Plackmüller lächelte geschmeichelt. "Aufgegabelt ist zuviel gesagt, wir sind heute Abend um 20 Uhr am Bahnhof Ostkreuz verabredet. Ich habe sie über eine Annonce kennen gelernt." Er tat höchst geheimnisvoll und kostete die Aufmerksamkeit der Kollegen genüsslich aus. "Als Erkennungszeichen werde ich eine rote Rose tragen und mein grünes Samtjackett anziehen." "Gott, wie romantisch!" Die Sekretärin kicherte und schaute sich das Foto neugierig an. "Na, dann viel Spaß!" Plötzlich ging die Tür auf und der Chef trat ein: "Meine Damen und Herren, gibt es etwas Wichtiges, was Sie von der Arbeit abhält? Es ist bereits zwanzig Minuten nach neun!" Mit scharfem Blick hatte er das Foto erspäht und war zornig errötet. Rasch zerstreute sich der Kreis und alle begaben sich möglichst unauffällig zu ihren Plätzen. Der Chef hasste lange Privatgespräche, außerdem stand die Festsetzung der jährlichen Prämienhöhe vor der Tür, wer wollte sich da schon unbeliebt machen? Kurze Zeit später war nur noch das Rascheln von Papier zu hören.

 

Es war wie verhext; ausgerechnet heute, wo Plackmüller zeitig Feierabend machen wollte, um zu seinem Rendezvous zu eilen, schüttete ihn der Chef mit Arbeit zu. Stapelweise Akten mit Beschwerden von Bürgern türmten sich auf seinem Tisch, zu denen dieser noch am gleichen Tag Stellungnahmen wünschte. Fast sah es so aus, als wolle sich der Chef an ihm rächen wegen des Auftritts am Vormittag. Nervös blickte er auf seine Armbanduhr. "Es hilft alles nichts, notfalls muss ich gleich von der Arbeit aus zum Bahnhof Ostkreuz fahren, eine Rose kann ich dort immer noch kaufen", murmelte er vor sich hin. Das Büro hatte sich inzwischen geleert, selbst Heinevetter machte heute zeitig Feierabend. Als der Zeiger der Uhr schon bedrohlich nahe an die Acht gerückt war, klappte Plackmüller mit lautem Knall den letzten Ordner zu. "Geschafft!" Mit wehenden Haaren rannte er die Treppe der BfA hinunter. Zwar waren es nur zehn Autominuten bis zum Ostkreuz, aber er musste ja noch rasch zum Blumenstand.

Draußen empfing ihn dichter Nebel. Nasskalte Schwaden hüllten ihn ein, aus denen nur die Lichter der vor ihm fahrenden Autos rot und gelb hervorschimmerten. Was war heute nur los? Erst ging es nur im Schritttempo voran, dann standen sie ganz. Vorne am Eingang zum Bahnhof Ostkreuz musste etwas passiert sein. Undeutlich erkannte er eine dunkle Menschentraube. Kurz entschlossen wendete er und fuhr einen Schleichweg. Bei diesen Sichtverhältnissen musste man schon ausgesprochen ortskundig sein, um sich zurechtzufinden. Plackmüller kannte sich aus. Auf dem Bahnhof Ostkreuz herrschte reges Gedränge, wegen des Nebels hatten viele Züge Verspätung und die Wartenden schimpften. Auf Bahnsteig D gab es einen Blumenkiosk – nur leider waren ausgerechnet rote Rosen ausverkauft, gelbe gab es und rosafarbene, aber rote nicht. "Bei dem Nebel sieht Ihre Freundin die Farbe sowieso nicht richtig", ulkte der Verkäufer und fügte hilfsbereit hinzu: "Versuchen Sie es doch mal am Kiosk Ausgang Sonntagstraße." Also wieder runter vom Bahnsteig D und hin zum Ausgang. Tatsächlich, dort hatten sie noch rote Rosen. Die Uhr war inzwischen auf Viertel nach acht vorgerückt. Hoffentlich wartete sie noch.

 

Diesmal würde es klappen. Sylvia verspürte gleich beim Aufstehen ein gutes Gefühl. Sie hatte extra einen freien Tag genommen, um nur ja genug Zeit für die Vorbereitungen zu haben. Als sie gegen Mittag vom Frisör zurück kam, stieg langsam Unruhe in ihr auf. Immer besorgter wurde ihr Blick aus dem Fenster. Der Nebel draußen wurde dichter und begann schließlich als Nieselregen herab zu fallen. Für ihre Frisur konnte das Wetter nicht ungünstiger sein. Die ganze  Pracht würde in sich zusammenfallen. Andererseits war Nebel wieder gut, um etwas zu kaschieren. Um ehrlich zu sein, war Sylvia nicht mehr ganz so jung wie auf dem Foto, die Figur weniger straff, der Teint nicht mehr ganz so frisch. Doch was half es, niemand wurde mit der Zeit jünger. Lange vor der verabredeten Zeit brach sie auf. Der Nebel war dicht und die Sicht reichte höchstens fünfzig Meter. Kurz bevor sie in den Eingang zum Bahnhof einbog, sah sie die Bescherung. Jemand hatte einen Schäferhund überfahren, der nicht angeleint gewesen und einfach auf die Straße gerannt war. Er war tot. Ringsumher standen Leute, gafften und hielten den Verkehr auf. Sylvia lief weiter, rein in den Bahnhof. Auf Bahnsteig B stellte sie sich gut sichtbar in Positur und wartete aufgeregt. Ihr Blick eilte immer wieder zur Uhr.

Da kam er ja! Sie strahlte. Auch er hatte sie erspäht und winkte mit der Rose. Seine Augen leuchteten vor Freude. Ein genauerer Beobachter hätte darin auch eine Spur von Triumph entdecken können, aber dafür war es wohl zu neblig an diesem Abend.

 

"Tach!" Brummig betrat Plackmüller am Montagmorgen das Großraumbüro. "Na, wie war’s?" "Was?" "Na, euer Treffen am Freitag am Ostkreuz, mit Sylvia, du weißt schon!" Neugierig starrten jetzt alle auf Plackmüller. Der winkte bloß ab. "Vergiss es, erst kam ich zu spät aus dem Büro raus, dann stand ich im Stau wegen eines Unfalls und dann hat sie entweder nicht gewartet oder ich habe sie nicht gefunden. Dämlicher Nebel." Damit war für Plackmüller das Thema erledigt. Hastig zündete er sich eine Zigarette an, blies den Rauch aus und machte sich mit unterdrücktem Zorn an die Arbeit. Ihn versetzte man nicht so ohne weiteres. Das ärgerte ihn maßlos, ging hier aber Keinen etwas an. Mit vielsagenden Blicken machten sich die Kollegen wieder an die Arbeit, teils schadenfroh, teils gleichmütig. Nur Heinevetter schaute versonnen lächelnd aus dem Fenster. War doch ein verdammt netter Freitagabend mit Sylvia gewesen. Wie clever von ihm, schnell nach Hause zu laufen, sein grünes Jackett anzuziehen und im Süßwarengeschäft eine Marzipanrose zu kaufen. Sylvia hatte das besonders originell gefunden. Und der Chef war ihm auch dankbar gewesen für den Tipp, Plackmüller die Bürgerbeschwerden abarbeiten zu lassen. Wie gut der Nebel doch war, so hatte Sylvia auf den ersten Blick gar nicht erkannt, dass der Mann, auf den sie wartete, einige Jahre älter war als gedacht. Bis der Nebel sich verzog, hatte längst die Sympathie gewonnen und das Äußerliche in den Hintergrund gedrängt. Heute würden sie sich wieder sehen. Heinevetter rieb sich vergnügt die Hände. Es lebe der Nebel!

Holger Hermann - Der Türsteher

Holger Hermann
Der Türsteher

 

Thomas, der Wert darauf legt, nur Tom genannt zu werden, blickt an diesem Samstagnachmittag im Winter 2007 aus dem Fenster seines Wohnzimmers; seit letzter Nacht ist er 32 Jahre alt.

In dem Raum stehen ein großes graues Metallbett, eine abgewetzte schwarze Ledercouch, ein neues TV-Gerät und eine alte Kommode, die völlig mit Fitnesspräparaten in XL-Abpackungen und Colaflaschen zugestellt ist. Die dunkelbraunen Tapeten an den Wänden sind durch den Rauch von Toms Zigaretten und die Ofenheizung vergilbt und stammen wie die mit Sportsachen übersäten Fußbodendielen noch aus Vorwendezeiten.

Die ganze Wohnungseinrichtung ist eigentlich nur noch hässlicher Sperrmüll, aber Tom hat das noch nie wirklich wahrgenommen.

Tom ist 194 Zentimeter groß, hat einen kräftigen, gut modellierten Körper, dazu ein Gesicht mit einem ausgeprägten Kinn und stahlblauen Augen. Die Jungs auf der Arbeit nennen ihn deshalb den schönen Tom, was Tom mag, denn er ist sehr eitel.

Sein Blick schweift über den ewig tosenden Autoverkehr, der von der Elsenbrücke kommend auf die Stralauer Allee einbiegt zu den alten Kränen des Behala- Osthafens. Sie liegen regungslos da, daneben fließt träge die Spree. Heute ist sie graugrün bis schwarz, völlig leer ohne irgendeinen Vogel, nicht ein einziges Schiff befindet sich auf ihr. Bis zum Frühling, wenn das angeregte Geschnatter der Passagiere auf den unzähligen Ausflugsdampfern sie wieder zu neuem Leben erweckt, hat sie immer etwas Trostloses an sich, wie Tom findet.

Auf der anderen Uferseite stehen die riesigen Treptowers und verkünden ihren Glauben an wirtschaftliche Macht. Obwohl auch das Badeschiff der Arena, die Designerläden von Berlin-Labels, MTV und die Universal Studios nur ein paar hundert Meter von hier entfernt liegen, ist die Gegend hier absolut nicht hip.

Kurz gegenüber seiner Wohnung liegt in einem genauso von Autoabgasen gezeichneten, schmutzig hellgrünen Haus, wie die ganze Ecke hier, die Kneipe, wo schon am Vormittag die immer gleichen Typen die immer gleichen Geschichten erzählen, um ihre Zeit totzuschlagen. Die Kneipe spielt entweder gar keine Musik, Siebziger-Jahre-Schlager oder alte laute Rockmusik. Wer dann noch das Bedürfnis nach einem Gespräch hat, muss brüllen. Doch die meisten sitzen hier so lange das Geld reicht und sie sich auf dem Hocker halten können, alleine mit ihrem Bier da.

Ein paar Mal war er nach der Arbeit zum Frühstück ab sechs Uhr dort und hatte Glück, sie spielten jedes Mal von Rammstein "Mein Herz brennt", was er mag. Vielleicht hat die Betreiberin der Kneipe aber auch einfach nur eine begrenzte CD-Sammlung, wundern würde es Tom nicht.

Weil er aber überhaupt keinen Alkohol trinkt, bemerkte er, dass er irgendwie nicht dazu gehört. Tom der nicht einmal einen Kühlschrank besitzt und jeden Tag lange zum Frühstücken ausgeht, läuft seitdem wieder zu den Cafés in der Sonntagstraße oder der Simon-Dach-Straße.

Es ist schon dunkel, als er seinen 14 Jahre alten Mischlingshund Jerry (ja, sie heißen beide wie die Figuren aus der Zeichentrickserie) zur Verabschiedung streichelt, der dabei wie immer leise jault und sich an Tom immer näher herandrängt. Der herzkranke Hund  wird aufs Alter immer anhänglicher und merkt, wann Tom nur kurz oder lang ihn alleine lassen wird. Wenn Tom die alte Holztür zu seiner Wohnung abschließt und sich auf den Weg zur Nachtschicht in die Kulturbrauerei macht, weiß er, dass Jerry sich hinter der Tür schlafen legen wird.

Tom ist einer der wenigen Hausbewohner, die noch einer regulären Arbeit nachgehen, wie er mitbekommen hat, seit er vor zwei Jahren hier in eines der unsanierten Altbauhäuser am Markgrafendamm eingezogen ist. Egal wann er kommt oder wann er geht, mehrere seiner Nachbarn sitzen immer drüben in der Kneipe.

Während Tom die Wohnungseinrichtung völlig kalt lässt, legt er auf sein eigenes Aussehen viel Wert. Seine Kleidung ist fast immer neu, ansonsten lässt er seine Sachen waschen, die Hemden bügeln, seine Schuhe sind immer geputzt, seine Frisur ist immer perfekt, alle 14 Tage geht er zum Frisör.

Heute hat er einen grünen Militär-Parka angezogen, sein schwarzes Haar ist kurz geschnitten und leicht gegelt und er war gestern Mittag ein wenig zu lange im Solarium, wie er jetzt merkt, denn seine Haut spannt trotz Gesichtscreme immer noch.

Tom ist Türsteher, heute Abend steht er an der Tür des S-Clubs in der Kulturbrauerei. Aber vor welchem Club er steht, ist ihm ziemlich egal, dafür hat er schon in zu vielen Clubs der Stadt gearbeitet. Das ist auch gut so, wenn man in einem Club richtig Stress hatte mit jemandem von den Gästen, geht man halt erstmal in einen anderen Laden.

Ob die Clubs im neuen Bezirk Mitte liegen, in Prenzlauer Berg, wie die in der Kulturbrauerei, oder die Clubs an der Warschauer Brücke, er kennt fast alle in diesem Teil des ehemaligen Ostberlin.

Sein Chef Sergei, ein Russe, vermittelt Tom und die anderen Türsteher in seinem Gebiet überall hin. In Berlin ist das Geschäft an der Tür der Clubs streng aufgeteilt, zwischen den ehemaligen Ost- und Westbezirken verläuft eine Mauer, als hätte es die Wende nie gegeben.

Der S-Club läuft im Gegensatz zu vielen anderen Clubs immer noch gut. Das Publikum besteht zum großen Teil aus Schülern und Studenten aus der (westdeutschen oder ostdeutschen) Provinz. An der Tür zu den Clubs kann man die wirtschaftliche und soziale Lage einer Stadt besser ablesen als an jeder statistischen Erhebung. Seit der Jahrtausendwende geht es für die meisten Clubs Berlins bergab. Die Leute verlieren ihre Jobs oder verdienen so wenig, dass sie, wenn sie mal weggehen, kaum noch etwas ausgeben wollen. Toms Aufgabe an der Tür ist es deshalb, darauf zu achten, dass das wenig betuchte Publikum aus den Plattenbaubezirken des Ostens oder die türkischen oder arabischen Jugendgangs aus Neuköln, Wedding oder Schöneberg zum großen Teil vor dem Laden bleiben. Damit man den Clubs von Sergei keine rassistischen Vorurteile bei der Abweisung von Gästen vorwerfen kann, ist die Hälfte der Türsteher grundsätzlich nicht deutscher Herkunft. Wer nach Umsatz aussieht, kommt dagegen fast immer rein. Denn es geht nur ums Geschäft und nicht um die Black Music, die im S-Club hauptsächlich gespielt wird. Wer die Tür zu einem Club hat, bestimmt nicht nur was für ein Publikum hereinkommt, sondern auch zum Teil, wer dort Drogen verkaufen darf, wer Spirituosen einschmuggeln darf oder wer es versuchen kann, die Provinzhühner mit Alkohol oder KO-Tropfen abzufüllen, um seinen speziellen Spaß mit ihnen zu haben.

Obwohl Tom gestern Geburtstag hatte, war er wie jeden Freitagmittag im Fitnessstudio. Vier Mal die Woche geht er in den großen Fitnessclub am Bahnhof Ostkreuz.

Eigentlich mehr ein Laden für die Büroangestellten der Umgebung, die nach ihrer Arbeit einen verzweifelten Kampf gegen ihr zunehmendes Gewicht und den Verfall ihrer erschlaffenden Körper führen. Tom gehört zu der kleinen Gruppe der Muskelmänner, die sich die etwas exklusivere Umgebung leisten wollen. Eigentlich verachtet Tom die schlaffen Büroangestellten auf ihren Trimmrädern und Laufbändern, ist aber immer gut drauf und zu jedem freundlich und so ziemlich beliebt bei allen. Besonders die jungen Büromiezen himmeln ihn an und baggern ihn oft ziemlich direkt an.

Er selber macht sich jedoch weder besonders viel aus Sex noch aus Liebesbeziehungen. Durch das Training und die vielen Nachtschichten ist er eigentlich immer nur ausgelaugt. Wenn es hoch kommt, hat er einmal im Jahr Sex, meist mit einer Tussi aus dem S-Club, versagt dann im Bett aber meist total. Bis vor ein paar Jahren ging Tom grundsätzlich nur in die reinen, billigeren Bodybuilding Läden, um auch mal in Ruhe ein Kampftraining für die Tür machen zu können, aber die verschwinden hier immer mehr, seit an der Rummelsburger Bucht immer mehr teure Eigentumswohnungen gebaut werden, und so muss er in die so genannten Lifestyle-Fitnessclubs gehen.

Beim Training selber stemmt er jedes Mal in der gleichen monotonen Reihenfolge stundenlang die Gewichte, bis die Muskeln brennen. Zum Schluss schwimmt er ein paar Bahnen in der Schwimmhalle oder geht in die Sauna, danach immer ins Solarium.

Sein Weg, nachdem er sein Wohnhaus verlassen hat, führt ihn fast immer am Markgrafendamm in Richtung S-Bahnhof Ostkreuz. Vorbei an Autohäusern und kleinen Automärkten, an zweistöckigen, langsam verfallenden Gewerbegebäuden wie dem Altpapierankauf, wo er, als er in seine Wohnung einzog, die Unmengen an Katalogen und Zeitungen aus dem Keller seines Vormieters für fünf Cent das Kilo verkaufte. Zum Schluss quetscht er sich auf dem engen Fußweg an der alten Klinkerbrücke entlang, höllisch darauf achtend, nicht von den unzähligen Autos überrollt zu werden, wenn er auf die andere Straßenseite zum Eingang Hauptstraße des Bahnhofsgeländes will. Ob sie diesen engen Fußweg irgendwann mal verbreitern werden, denkt er dann oft.

Die lange angekündigten Bauarbeiten am Rostkreuz haben vor kurzem endlich begonnen, viele alte Bäume sind schon verschwunden, kahl liegt die Gegend nun da, der Blick ist nach allen Seiten frei.

Die nächsten Stunden wird Tom warten, darauf dass die S-Bahn kommt, dass die Nacht an der Tür zum S-Club ruhig vergeht und darauf, dass die S-Bahn für den Heimweg kommt. Im Lauf der Jahre ist er an der Tür immer ruhiger geworden. Wenn Leute ihn beleidigen oder anspucken, reagiert er schon lange nicht mehr, wenn sie ihn anfassen, rastet er jedoch aus. Toms kleines Geheimnis um Ärger vorzubeugen ist, dass er viel redet, am liebsten mit Tussis.

Da jedoch die Abgewiesenen, besonders wenn sie in Gruppen auftreten, im Laufe der Jahre immer aggressiver werden, ist er schon froh, wenn er den Abend ohne ernsthafte Schlägereien überstanden hat.

Eigentlich hat Tom einen Abschluss in BWL, was man gar nicht glauben würde, wenn man den Schrank in seiner typischen Türsteher-Aufmachung sieht.

Aber was er auch an Geschäftsideen hatte, ob in die Filmbranche einzusteigen, wie halb Berlin, oder bildleserreportermäßig in den Clubs Prominente zu fotografieren und die Bilder dann zu verkaufen,  brachte nie regelmäßig das gewünschte Geld, und so macht er weiter die Tür. Unter den Türstehern ist die Konkurrenz groß, viele arbeiteten wie Tom zu unregelmäßig, um damit alleine richtig Geld zu verdienen. Freundschaften gibt es nicht, nur oberflächliches Palavern und gegenseitiges Belauern, wer sich mit Sergei am besten versteht.

Als er sonntags gegen 5.30 Uhr nach seiner Schicht müde am S-Bahnhof Ostkreuz aus seiner Bahn aussteigt, denkt er nicht mehr an die Tussis oder den Stress an der Tür, sondern nur an Jerry, der ihn sicher schon sehnsüchtig erwartet. Der Hund will dann immer sofort raus, seine volle Blase entleeren und noch ein wenig Gassi gehen.

In letzter Zeit schafft es Jerry immer schlechter durchzuhalten bis Tom da ist. Ohne zu murren reinigt dann Tom die Wohnung und tröstet Jerry. Ansonsten geht der Hund am liebsten zum Ufer hinter der S-Bahnbrücke auf Stralau spazieren, wo am Tage die Kinder der Umgebung lachend spielen. Dort und auf den immer weniger werdenden unbebauten Brachen sind Jerrys Lieblingsstellen zum Schnüffeln.

Der große Muskelmann und der kleine alte Hund bieten dann ein Bild, das viele Passanten zum Lächeln veranlasst, wenn sie an ihnen vorbeigehen.

Der Bahnhof ist in einen dichten Nebel getaucht, vermischt mit der Trübe und Dunkelheit wie sie nur Winternächte haben, man kann selbst auf dem beleuchteten Bahnsteig nicht sehr weit sehen. Wie immer macht er sich beim Laufen kurz vor der Treppe zur Hauptstraße eine Zigarette für den Heimweg an. Da auf der Bahnsteigseite, wo er aussteigt, kurz vor der Treppe, seit Tagen gebaut wird, muss er auf die andere Seite ausweichen und bemerkt, mit dem Anzünden der Zigarette beschäftigt, so zu spät jemand, der ihn aus dem Nebel von der Seite so heftig anstößt, dass er das Gleichgewicht verliert und auf das Gleis fällt, wo gerade der Gegenzug Richtung Gesundbrunnen einfährt.

 

Tom hat keinerlei Chance. Als der Zug Tom überfährt, rollt nicht sein ganzes Leben ab, wie er es oft im Kino gesehen hat, er denkt nicht an seine Eltern, seine Kindheit, Schulzeit oder seine Exfreundin, er fragt sich nur, wann jemand Jerry, der nun alleine ist, aus der Wohnung befreien wird.

 

Die Untersuchung des Vorfalls ergab keine Anzeichen für Selbstmord oder Fremdverschulden. Der Zugfahrer des einfahrenden Zugs sah nur Tom fallen und konnte nur noch mehr bremsen, als er es ohnehin bei einem Halt macht, die Kameras auf den Bahnsteig waren zum Tatzeitpunkt wegen einer technischen Störung nicht in Betrieb.

Zeugen, die etwas Verdächtiges gesehen hatten, fanden sich nicht. Es gab auch keine Hinweise darauf, ob Tom Streit im S-Club mit Gästen, anderen Türstehern in der S-Bahn oder auf dem Bahnsteig hatte.

Das Ergebnis lautete "Tod durch selbstverschuldeten Unfall".

Inka Engmann - Das Märchenbuch

Inka Engmann
Das Märchenbuch
Fortsetzung der Geschichte vom alten Wasserturm

 

Ich bin jetzt immer ein bisschen traurig, wenn ich am Ostkreuz auf die S-Bahn warte. Es ist leer hier, seit mein Freund, der alte Wasserturm, auf Reisen gegangen ist. Er fehlt mir! Und die Eule ist auch weg, niemand hat je wieder ihren Schrei gehört. Die beiden fehlen mir so sehr, dass ich viele Stunden meiner Freizeit damit verbracht habe, im Internet die Boulevardmeldungen der ganzen Welt zu durchforsten. Mein Englisch ist dadurch besser geworden, aber den alten Wasserturm und seine Bewohnerin, die Eule, habe ich nicht gefunden.

Ich warte am Ostkreuz, will zu meiner Freundin fahren. Es ist Sonntagmorgen, es ist kühl und neblig. So ganz dicker, fetter Nebel, wie in einem alten Schwarzweiß-Gruselfilm. Ich starre in die graue Suppe. Plötzlich springe ich auf. Das kann doch nicht sein! Aus dem Nebel tauchen undeutlich die Umrisse des alten Wasserturms auf… "Du bist wieder da!", juble ich und renne los. Ich stolpere, falle fast die Bahnhofstreppe runter, fange mich wieder, renne auf die Straße, Bremsen quietschen, jemand schimpft hinter mir her, ich pralle atemlos gegen einen Zaun.

Nichts zu sehen. Nur dichter, undurchdringlicher Nebel. Trotzdem klettere ich über den Zaun und taste mich vorwärts. Ich stolpere fast in das gähnende schwarze Loch, das nach dem Verschwinden des alten Wasserturms übrig geblieben ist. Traurig lasse ich mich am Rand des Loches auf den Hintern plumpsen. Kein Turm da. Aber was war das vorhin? Eine Fata Morgana? Oder krieg’ ich schon Halluzinationen?

Verstimmt schlurfe ich zurück zum Ostkreuz. Vor mir taucht eine dunkle Gestalt aus dem Nebel auf. Mein Herz klopft schneller. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich heute Morgen noch keinem Menschen begegnet bin. Die Gestalt kommt auf mich zu, drückt mir blitzschnell etwas in die Hand und ist schon wieder im Dunst verschwunden.

Ich zittere. Dieser Nebel kann einen schon auf komische Filme schicken! Ich betrachte den Gegenstand in meiner Hand. Ein Buch. "Die Märchen der Brüder Grimm" steht drauf. Warum gibt der mir ’n Buch? Vielleicht sind da Drogen drin und ich werde gleich verhaftet? Erschrocken lasse ich das Buch fallen und gehe ein paar Schritte weiter. Aber keine Polizeihundertschaft stürmt den Bahnhof, nur die S-Bahn kommt endlich. Ich laufe zurück, suche fieberhaft auf dem Boden herum, greife das Märchenbuch und springe schnell in die S-Bahn. Dort holen mich Wärme, Beleuchtung und die Fahrgäste in die Wirklichkeit zurück. Aber ist schon ’n komischer Morgen heute – erst die Wasserturm-Halluzination und dann der gruselige Fremde. Warum hat der mir das Buch gegeben? Ich schlage es auf und beginne zu blättern. Der Froschkönig, Rotkäppchen, Aschenputtel – alles altbekannte Märchen. Die Illustrationen überraschen mich, sie erinnern an die Bilder, die man in uralten Handschriften findet. Neugierig blättere ich zurück, ich will wissen, wer der Künstler ist. Aber nur "Die Märchen der Brüder Grimm" steht auf der ersten Seite. Kein Herausgeber, kein Verlag, nichts. Ich gucke auf die letzte Seite, aber da steht auch nichts. Hm. Komisch. Ich blättere weiter in dem Buch herum, bin jetzt bei Rapunzel. Plötzlich schreie ich laut auf. Starre auf die Illustration. Der Rapunzelturm mitten in einer blühenden Landschaft ist – mein alter Wasserturm!

Es besteht kein Zweifel, haargenau so hat er ausgesehen! Und da fliegt ja auch die Eule durch die Luft! Liebevoll streichle ich über das Bild. "Wo seid ihr?", flüstere ich.

 

Meine Freundin ist unzufrieden mit mir. Ich kann mich aber auch gar nicht auf unsere Gespräche konzentrieren, die rätselhaften Begebenheiten von heute morgen und das geheimnisvolle Märchenbuch gehen mir nicht aus dem Kopf. Meiner Freundin erzähle ich nichts davon, sie würde nur sagen: "Jetzt geht wieder deine Fantasie mit dir durch!" Auch der Nebel, der sich den ganzen Tag nicht lichtet, trübt die Stimmung.

Ich fahre schon am frühen Nachmittag wieder los. Am Ostkreuz steige ich aus. Aber ich gehe noch nicht nach Hause — irgendetwas hält mich hier fest. Ich setze mich auf eine Bank. Der Nebel ist immer noch undurchdringlich. Ich starre ins Nichts. Plötzlich spüre ich ein Rauschen, wie Flügelschläge eines großen Vogels… Ich höre einen Eulenschrei… Aus dem Nebel tauchen undeutlich die Umrisse des alten Wasserturms hervor…

Ich umklammere mein Märchenbuch und wage kaum zu atmen. Jemand setzt sich neben mich, aber ich wende meine Augen nicht vom alten Wasserturm. Ich weiß, wer neben mir sitzt.

"Du hast die Bilder in dem Buch gemalt", flüstere ich.

Der Fremde schweigt.

"Du weißt, wo sie hingegangen sind", flüstere ich.

Der Fremde schweigt.

"Kann ich mitkommen?", hauche ich kaum hörbar.

Der Fremde schweigt. Er steht plötzlich vor mir. Er trägt einen schwarzen Mantel, sein Gesicht ist unter einer Kapuze verborgen. Er macht eine Bewegung mit dem Kopf: "Folge mir!", soll das wohl heißen. Mein Herz rast. Ich zögere, der Fremde ist so unheimlich…

Er dreht sich um und droht im Nebel zu verschwinden. Eine Sekunde lang ringe ich noch mit meiner Angst, dann springe ich auf und folge ihm.

Thomas Kunze - Wundersames am Ostkreuz

 

Thomas Kunze
Wundersames am Ostkreuz

 

Etwas lief gehörig schief in den letzten Wochen im Bahnhof Ostkreuz: Züge fuhren zwar ein, kamen aber nicht wieder hinaus; Ampeln sprangen willkürlich von Grün auf Rot und umgekehrt; die Schilder der Zugrichtungsanzeiger schlugen wie wild und unaufhörlich nacheinander um, so dass es fortwährend rasselte; Menschen schüttelten ungläubig den Kopf und brummten leise vor sich hin; "Ich muss doch zum Bahnsteig D, warum bin ich auf A gelandet? Ich kenne mich nicht mehr aus, das ist doch unglaublich!" Ansagen im Lautsprecher waren entweder gar nicht zu vernehmen oder dröhnten so laut, dass man sich die Ohren zuhalten musste. Doch nicht an allen Tagen gab es diese Merkwürdigkeiten. An manchen ging alles reibungslos und das Ostkreuz funktionierte so wie in den letzten 120 Jahren: S-Bahn-Züge fuhren pünktlich ein, Menschen stiegen aus, andere ein oder um, Züge fuhren davon, neue kamen. Am unheimlichsten (man kann auch sagen am schönsten) aber war es an jenen Tagen, an denen das Ostkreuz ruhig wie ein stiller, von keinem Lufthauch bewegter See da lag, nur den wechselnden Schattenspielen von Sonne und Wolken ausgesetzt, die mal bedrohliche, mal heiterlustige Bilder auf Bahnsteig und Gleis warfen. Ich stand dann lange und unbeweglich auf Bahnsteig F, der hoch über allen Gleisen thront, sah die Gräser sich in das Sonnenlicht räkeln, vernahm das Rascheln von wildem Kleingetier im hier üppig sprießenden Gesträuch, duckte mich vor dem mächtigen, schwarz drohenden Wasserturm, schaute nach Osten auf das konturlose Lichtenberg, dann nach Westen auf den Fernsehturm, bevor sich mein Blick ganz in der Ferne verlor. Irgendwann kam ich wieder zu mir, ging zum Bahnhofsvorplatz und kämpfte um einen der raren Plätze in den Omnibussen des Ersatzverkehrs.

Das alte Ostkreuz sollte als einer der letzten großen Berliner Stadtbahnhöfe umgebaut werden. Die Planungsphase, die sich über mehr als zehn Jahre hingezogen hatte, war beendet, die einst so wilden, undurchdringlichen Randböschungen abrasiert und die ersten Bau- und Montagewagen aufgefahren. Man hatte lange hin und her überlegt, ob man den Bahnhof vollständig schließen könne, doch für einen der größten und bedeutendsten mit über hunderttausend Fahrgästen täglich war dies für unmöglich befunden worden. Da nicht nur der Zugbetrieb unregelmäßig oder gar nicht vonstatten ging, sondern auch die Umbauarbeiten immer wieder auf unerklärliche Weise gestört wurden, war die Situation seit Wochen äußerst angespannt und kritisch. Es wurde ein Krisenstab eingerichtet, der heute dies, morgen das beschloss, ohne allerdings damit die Bauarbeiten um mehr als einen Jota voranbringen oder einen regelmäßigen Zugverkehr gewährleisten zu können. Man kann sich denken, dass es an Unmutsäußerungen von aufgebrachten Fahrgästen nicht mangelte. Wütende Leserbriefe erreichten die Lokalredaktionen, von den Berliner Verkehrsbetrieben forderte man die Entlassung der Manager, selbst der Verkehrssenator stand zur Disposition.

Eines frühen Morgens erkundete ich wieder die Lage auf dem Bahnhof, schaute mich um und stellte verdrossen fest, dass kein Zug sich bewegte. Ich wollte gerade zum Ausgang gehen, als ich auf dem Gleisbett direkt vor einer S-Bahn etwas Kleines hin und her laufen sah. Es blieb stehen, schaute an der Schnauze der Bahn hoch, nickte zufrieden, verschwand darunter, dann erklang ein nicht sehr lauter doch deutlich hörbarer metallischer Klang wie beim Schlagen eines Hammers auf ein Eisenrad, kurz darauf kam diese kleine Gestalt wieder hervor und ging gemächlich den Strang entlang. Verdutzt rieb ich mir die Augen: Mäuse, Ratten, Marder, Igel sogar Füchse hatte ich schon oft am Ostkreuz gesehen, doch ein Wesen auf zwei Beinen, mit zwei dürren Armen, mit einer Mütze auf dem Kopf? Das musste ich mir einbilden. Ich folgte oben auf dem Bahnsteig schnell seiner Richtung, rief: "Holla, was ist das denn?", worauf sich das Wesen umblickte und im Nu irgendwohin verschwand. War es eine optische Täuschung, vom Dunst des Morgens geformt? Oder war es eines der hier lebenden Kleinsttiere, das ich in meinem Ärger und Verdruss zu einem winzigen Männlein gemacht hatte? Ich musste mich setzen und sann über diese Ostkreuz-Fata- Morgana nach. Ein Spruch aus meinen Kindertagen fiel mir ein, den meine Großmutter – sie lebte viele, viele Jahre am Ostkreuz – mir immer dann ins Ohr geflüstert hatte, wenn wir auf dem Bahnsteig standen und ein Betriebsausfall gemeldet wurde. Sie sagte dann stets, das war das Ostkreuzmännlein und man müsse es nur höflich bitten, dann ließe es die Züge wieder fahren. Ich hielt das natürlich für Reste eines im Volk verankerten Aberglaubens. Doch komischerweise war jedes Mal bald darauf die Störung behoben und die Züge verkehrten wieder. Der Spruch kam mir aus dem Gedächtnis und ich sagte ihn laut vor mich hin:

"Ostkreuz-Männlein, Ostkreuz-Männlein
Haselnuss und Sträucherei,
Ostkreuz-Männlein, Ostkreuz-Männlein
Gib die Strecke wieder frei!"

Ich hatte kaum ausgesprochen, da erklang von irgendwoher ein mürrisches "Nein, niemals!" Ich blickte erschrocken zur Seite und sah ein kindsgroßes Wesen mit langer Nase, grauem Spitzbart und Zipfelmütze neben mir auf der Bank sitzend. Es hatte eine kurze, braune Joppe an, eine geflickte, derbe, rotkarierte Hose und ließ seine Beine unwillig von der Bank baumeln. "Warum hast du mich gerufen, was willst du von mir? Und wenn schon, egal, du bekommst es doch nicht!" "Wer bist du denn?", entrang es sich mir, starr vor Schreck. "Frag nicht so dumm", entgegnete das Männlein gereizt, "hast mich gerufen, wirst es schon wissen". "Ich habe dich nicht…" – doch ich hielt inne und besann mich. "Dann bist du das Ostkreuz-Männlein, dich gibt es wirklich und es war keine Flunkerei meiner Oma?" "Papperlapapp – deine Großmutter jedenfalls war noch eine echte Ostkreuz-Anwohnerin, vertraut mit dem Zauber dieser Gegend, dem Charme des alten Bahnhofs, den Geheimnissen seiner Gleise… Jetzt treiben sich nur noch Hinzugezogene hier herum oder Touristen, die die Köpfe schütteln, wenn sie unsere verfallene Anmut erblicken, Heutzeit-Menschen, die stöhnen, wenn sie die paar Stufen mit ihren schweren Koffern hinauf und wieder hinunter müssen. Sollen sie sich doch nicht so beladen", sagte es vorwurfsvoll und in ungerechtem Tone. Hätte mich der Grimm, der seinen Worten entströmte, nicht so stark wie ein realer Schmerz ergriffen, ich hätte geglaubt, ich spräche mit mir selbst. Doch neben mir saß tatsächlich dieses Männlein, scheinbar hervorgekommen vom Ostkreuz-Grunde, einem Reich, das uns Menschen unzugänglich ist. "Du bist ungerecht." Ich fühlte mich gekränkt. "Ich selbst wohne mein ganzes Leben am Ostkreuz und die Touristen, das ist eben die neue Zeit!" "Papperlapapp", spuckte es aus, "das weiß ich, dass du von hier bist, nur einem Angestammten, der die Verse aufsagt, darf ich mich zeigen und auch nur, wenn ich will. Und 'die neue Zeit, die neue Zeit' — was soll das heißen? Ich mag die neue Zeit nicht, sie vertreibt uns", sagte es mit der Bitterkeit eines Menschen, der in eine düstere Zukunft blickt. "Aber warum…", hub ich zu sprechen an — doch da war der Platz neben mir schon leer und das Männlein verschwunden. Gleich darauf vernahm ich das dunkel raunende Geräusch sich aufladender S-Bahnen, die Signalanlagen schalteten auf Grün und aus dem Lautsprecher ertönte eine befreit klingende Stimme mit der Durchsage, dass der Fahrbetrieb fortgesetzt werden könne. Ich dankte im Geheimen dem Männlein, stieg ein und fuhr zur Arbeit.

Als ich am nächsten Morgen zum Ostkreuz kam, lag es wieder in christlicher Stille – kein Zug rauschte heran, die Signallichter schliefen noch und die Menschen strömten zurück zu den Bussen, die rings um das Ostkreuz bereitstanden und alle Straßen verstopften. Ich kam an einer Gruppe von Bauarbeitern vorbei, die am nördlichen Teil des Bahnhofes mit dem Umbau begonnen hatte. Unmutig sprachen sie mit zwei Architekten oder Technikern und beklagten, dass sie heute wieder nicht arbeiten könnten, da kein Kran sich drehe, der Haufen Schottersteine für das Gleisbett verschwunden sei, die neuen Bahnschwellen verstreut auf dem Gelände umher lägen und der frisch gemischte Beton sich nicht ausbreiten lasse, da er sofort erstarre. "Es ist wie verhext, es scheint kein glücklicher Stern über dem Ostkreuz zu liegen!", hörte ich einen von ihnen sagen. Ich wandte mich ab und sprach leise die Worte: "Ostkreuz-Männlein, Ostkreuz-Männlein…".

"Was willst du schon wieder?", erklang es mürrisch hinter mir. Das Männlein sah müde und abgekämpft aus, so, als habe es die ganze Nacht gearbeitet. "So kann es nicht weitergehen!", sagte ich vorwurfsvoll. "Du unterbrichst den Zugverkehr, behinderst die Umbauarbeiten, lädst den Menschen täglich neue Mühen auf und bereitest ihnen viel Kummer. Von den finanziellen Kosten ganz abgesehen, die durch dein störrisches Verhalten schier ins Unermessliche getrieben werden!" Meine Worte schienen ihn getroffen zu haben, er wurde rot vor Zorn, plusterte sich auf, wuchs ins Riesenhafte und schrie drohend von oben herab: "Wer bereitet wem Kummer? Wer macht sich daran, unser hundertjähriges Leben hier am Ostkreuz zu zerstören? Wer will uns vertreiben, uns unser Heim nehmen?" Ich war erschrocken, bat ihn, nicht so laut zu schreien, blickte vorsichtig umher, niemand aber schien Notiz von dem aufgebrachten Männlein zu nehmen. "Komm, komm wieder herunter, mach dich klein, damit ich mit dir reden kann." Es schrumpfte auf Knabengröße herab, ließ die Schultern hängen und senkte den Kopf. "Weißt du", erklang matt seine Stimme, "ich und meine Familie leben hier seit über hundert Jahren, seit den ersten Tagen des Ostkreuzes. Wir sind Eisenbahngnome, entstanden mit den ersten Gleisen, Zügen und Bahnhöfen, gehören seit jeher dazu, sind so etwas wie die Beschützer und guten Seelen von Transport und Verkehr auf den Schienen. Wir haben alles gesehen, hier am Ostkreuz miterlebt, selbst mit angepackt: die Inbetriebnahme des ersten Bahnsteigs 1882, 1902 das Errichten der gusseisernen Stützen und der Bahnsteigüberdachung, den 50 Meter hohen Wasserturm, von 1909 bis 1912 erbaut, das Wahrzeichen des Ostkreuzes. Auch zwei Kriege haben wir hier erlebt, das Ende 1945, dann beim Wiederaufbau mitgeholfen. Eine schöne, hoffnungsvolle Zeit vieler gemeinsamer Hände. Doch auch die Zeiten davor waren aufregend: Männer in Sakkoanzügen, weißen Hemden, Trenchcoats und Filzhüten. Die Frauen in weiten Hemdkleidern und Pelzmänteln auf dem Weg ins Varieté oder Ballhaus. Dann die Sechziger, Siebziger, Achtziger – zwar überfüllt, doch lebendig und der wichtigste Verkehrsknoten des Ostens. Ich und meine Familie hatten immer genug Raum zum Leben – im löchrigen Gleisbett mit vielen unterirdischen Höhlungen, in den wildromantischen, für Menschen undurchdringlichen Haselnuss-, Rosen- oder Weidensträuchern, in denen wir mit Fräulein Kaninchen, Herrn Ratte, Frau Maus oder Herrn Fuchs viele schöne Feste gefeiert haben, unter den großen, Schatten spendenden Bäumen an der Nordringkurve, in den Schutz bietenden Böschungen – Ostkreuz ist der grünste und naturbelassenste Bahnhof Berlins —, in den vielen Werkzeugschuppen und Lagerbaracken, in denen der Mensch nur selten war und wir uns so aufs Beste einrichten konnten. Dies alles wird bald verschwinden und nach der Komplettsanierung wird ein steriler, von Glas, Stahl und Beton dominierter, riesiger Einkaufspavillon mit nichts mehr an den alten, freien, offenen und charaktervollen Bahnhof von einst erinnern." Es hielt einen Augenblick inne. "Ich musste in den letzten Jahren eine Reihe meiner Verwandten – sämtlich Exilanten vom Spandauer oder Lehrter Bahnhof, vom Alexanderplatz, der Papestraße oder Gesundbrunnen — hier bis an unsere Kapazitätsgrenze aufnehmen. Bald droht uns dasselbe Schicksal, der erzwungene Exodus, weil wir zwischen Hochglanzfassaden, undurchdringlichen Gleisbetten, spärlich bewachsenen Hängen und dichten Fußbodenplatten nicht mehr leben können." Es schaute auf, doch sein Blick blieb leer, in eine unbestimmte, endlose Ferne gerichtet. Ich verspürte Mitleid mit ihm, wollte ihn trösten. "Aber es wird doch…" "Kein aber", unterbrach mich das Männchen barsch, "unsere Macht ist zu gering, unsere Kräfte nur angepasst an ein Zeitalter, in dem der Atem des Erfindergeistes wehte und mit einfacher Mechanik die Industrialisierung vorangebracht wurde. Alles hier am Ostkreuz erinnert daran, ist Zeugnis dieser grandiosen Epoche. Doch das Verhältnis hat sich verkehrt: Wissenschaft und Technik sind mittlerweile Bereiche mit eigener, innerer Logik, die nichts weiter kennt als das Fortschreiten, mächtiger Werden und Vervollkommnen. Der Mensch ist nur noch Mittel zu diesem Zweck, schwaches Anhängsel mächtiger Triebkräfte. Und in dem Maße, in dem diese unsichtbaren und unheimlichen Kräfte den Menschen beherrschen, schwächen sie ihn und damit uns Gnome, die guten Geister der Gründerzeit." Und obgleich ich ganz anderer Auffassung war als das Männlein, tat es mir in seiner Resignation leid. "Was wollt ihr jetzt tun?", fragte ich. Es schaute in die Ferne. "Wir werden uns wohl dem großen Treck nach Osten anschließen müssen, Gebiete vor und hinter dem Ural aufsuchen und Bahnhöfe besiedeln, auf denen noch Süßgräser durch die Bodenplatten des Perrons wachsen und wo man das Warten auf den Zug nicht durch Shopping verkürzen kann. Doch noch ist es nicht soweit", sagte es kämpferisch und verschwand.

Die nächsten Tage am Ostkreuz waren weiter durch Ausfälle und Störungen aller Art gekennzeichnet. Und obwohl ich am Schicksal der Ostkreuz-Gnome wirklich Anteil nahm und sie mich dauerten, war ich allmählich diese Misslichkeiten leid und beschloss, zum Krisenstab zu gehen und dort vom Ostkreuz-Männlein und seinem Wirken zu erzählen. Man kann sich vorstellen, wie viel Glauben mir geschenkt wurde. Man schaute sich gegenseitig mit einem mitleidigen Lächeln an, gab mir den Rat, in nächster Zeit etwas auszuspannen und schob mich ungeduldig zur Tür hinaus.

Doch das Ostkreuz-Männlein ließ in den nächsten Wochen und Monaten in seiner Aktivität nicht nach, ja forcierte sie sogar: kein Zug verließ mehr den Bahnhof, die Bauarbeiten kamen völlig zum Erliegen und die Menschen waren am Ende ihrer Geduld und Kräfte. Mittlerweile war auch die Bauleitung entlassen, doch die neue agierte ebenso glücklos wie die alte. Ich selbst war in dieser Zeit häufig auf dem Bahnhof und beschwor jedes Mal das Ostkreuz-Männlein; vergeblich, es erschien nicht mehr und oft war mir, als hörte ich nur ein sardonisches Lachen irgendwo vom Grunde des Bahnhofes.

Eines Morgens traten drei Männer der neuen Leitung vor mich hin. Sie sahen fahl aus, ihre Wangen waren eingefallen, die Augen ausgehöhlt, die Stirn in hundert Falten gelegt. Sie wandten sich an mich. "Alles, was Sie damals von diesem Gnom, diesem Ostkreuz-Männlein, unseren Vorgängern erzählt hatten, ist unwissenschaftlich und liegt außerhalb unserer Vorstellungskraft, und es ist überflüssig zu sagen, dass wir Techniker, Architekten oder Baustatiker kein Wort von dem glauben. Doch gewisse, seit Monaten anhaltende unerklärliche Vorgänge hier auf dem Gelände zwingen uns dazu, nichts unversucht zu lassen, die prekäre, nicht mehr ertragbare Situation zu ändern. Was immer Sie wahrgenommen haben wollen, pardon, was immer Sie gesehen, mit wem auch immer Sie gesprochen haben, helfen Sie uns. Wir bitten Sie inständig – unser Ruf, ja unsere ganze berufliche Zukunft steht auf dem Spiel." Sie sahen betrübt zu Boden und alles an ihnen drückte erbarmungswürdige Hilflosigkeit aus. Ich wollte ihnen helfen, wollte uns alle von den nach und nach Nerven zersetzenden Zuständen befreien. Ich überlegte. Sollte man in einer Nacht alle möglichen Schlupflöcher verstopfen, jedes Gebüsch, jeden möglichen Winkel ihres Aufenthaltes, jeden alten Schuppen zerstören, versiegeln, platt machen, um den Gnomen auch die letzten Refugien ihres Hierseins zu nehmen? Sollte man in einer konzertierten Aktion und mit entschlossener Gewalt die Erdlinge in ihre Löcher zwingen, um sie so lebendig zu begraben? Ich dachte an die Klagen des Ostkreuz-Männleins, dachte daran, dass sie als gute alte Geister dieses Bahnhofes über hundert Jahre lang hier zufrieden gelebt und zum Wohle aller Fahrgäste gewirkt hatten. Nein, auch wenn ihre Zeit abgelaufen war, das hatten sie nicht verdient, das durfte man ihnen nicht antun. Doch was dann? Darauf warten, dass sie ihren Widerstand aufgeben, noch weitere drei, fünf oder acht Monate täglich mit ihnen um jeden Zentimeter ringen? Ich sagte zu den mit ihren Füßen auf den Bodenplatten scharrenden Männern, ich wüsste wirklich nicht, wie hier zu helfen wäre, doch eine Idee hätte ich, eine einzige, man könne es ja versuchen. Ich teilte sie ihnen mit, doch noch ungläubiger und mit kaum mehr Hoffnung als sie gekommen waren, verließen sie mich.

Am anderen Morgen – ich hatte es mit ihnen so abgesprochen – waren über einhundert Ordnungskräfte um das Ostkreuz gruppiert, die Busse in der Nacht abgefahren und die Straßen frei. Jedem der verwunderten, die Busse suchenden Fahrgäste wurde ein kleiner Zettel in die Hand gegeben und alle wurden gebeten, sich auf den Bahnsteigen einzufinden. Stumm, mit einem Achselzucken, neugierig nachfragend oder lauthals ablehnend – es kamen doch fast alle der Bitte nach, so dass sich nach rund zwei Stunden siebzigtausend Menschen im und um den Bahnhof versammelt hatten. Man kann sich die Unruhe und Ungeduld vorstellen, mit der die vielköpfige, wogende Masse darauf wartete, dass etwas geschehe. Nun war ich dran. Ich ging zum Mikrophon der provisorisch über den ganzen Bahnhof aufgestellten Lautsprecheranlage. "Ich bitte Sie", sprach ich laut und gut vernehmbar, "gleich mit mir den Text zu sprechen, der in Ihren Händen liegt. Fragen Sie nicht, warum, Sie würden es doch nicht glauben. Doch das ist unsere einzige Chance",  lautete mein sibyllinischer Schluss. Ich gab das Zeichen und aus zehntausenden von Kehlen erscholl klar, kraftvoll mit dem Mut der Verzweifelten:

"Ostkreuz-Männlein, Ostkreuz-Männlein
Hast gelebt hier hundert Jahr.
Hast uns manchen Streich gespielt,
Vieles schien uns wunderbar.
Ostkreuz-Männlein, Ostkreuz-Männlein
Alles ändert sich im Leben.
Wenn’s auch schwerfällt. Lebe wohl!
Musst dir jetzt den Abschied geben."

Alles verstummte einen Augenblick, kein Laut war im ganzen Areal zu vernehmen, alle hielten den Atem an, niemand wagte sich zu regen. Ich weiß nicht, ob es eine halbe, drei oder zehn Minuten der völligen Ruhe waren, die wir so verharrten. Doch dann ein Zischen in den Elektroführungen, ein Brummen in den Batterien, die Signalanlage schaltete auf Grün, die S-Bahn-Türen öffneten sich, die erste Durchsage erklang, kurz – der Fahrbetrieb konnte wieder aufgenommen werden. Er wurde an jenem und an allen folgenden Tagen nicht mehr unterbrochen. Die Umbauarbeiten gingen zügig voran und bald schon zeigte sich der Bahnhof Ostkreuz in neuem Glanze.

Noch sehr oft denke ich an das kleine, freundlich-grimmige Ostkreuz-Männlein und wünsche ihm, dass es und seine Mannen auf ihrem Treck in den Osten irgendwo neu heimisch geworden sind.

Barbara Blum - Licht und Schatten am Ostkreuz

Barbara Blum
Licht und Schatten am Ostkreuz

 

Milchiger Vorhang liegt über Berlin.
Und der Bahnhof mit den vielen Gleisen
ist verschwunden unter dem Schleier des Dunstes.
Gleise kreuzen sich am Bahnhof des Ostens,
silberne Strahlen bis zum Horizont.

Es ist am Morgen, wo es grau und feucht zugleich,
und die Katze irrt umher,
die ihren Platz am Wasserturm verlor.
Alle Schrebergärten sind verschwunden,
weichen dem Umbau Ostkreuz.

Wo seid ihr Bäume, ihr Lieben,
die ihr mir Halt gegeben,
auf euren Ästen,
ihr wart meine Freunde.
Meine Menschen haben mich verlassen.
Ich fühle mich elend,
sagt die Katze.

Endlich gute Sicht,
endlich sind die Bäume verschwunden,
es ist soweit.
Die Bagger bringen Freiheit,
weiten Raum zum Bauen.
Nun wird der Bahnhof modern und groß,
sagen die Menschen.

Bärbel Heger - Es ist lang her ...

Bärbel Heger
Es ist lang her ...

 

Meine Erinnerungen an den Bahnhof Ostkreuz beginnen im Jahre 1968. Zwei Mädchen von 16 Jahren aus dem Kreis Strausberg zogen aus in die "weite Welt". Im September 1968 begann nämlich unsere Lehre in der kaufmännischen Berufsschule an der Marktstraße kurz hinter dem Berliner Bremsenwerk, "Die Bremse" genannt. Um 6 Uhr 25 fuhr unsere Bahn, meine Freundin kam aus Eggersdorf und ich aus Fredersdorf. Wir waren aufgeregt, kamen wir doch beide aus dörflichen Kleinstädten am Rande von Berlin und für uns war es damals immer ein tolles Abenteuer in die Stadt zu fahren.

Wir machten uns also am ersten Tag unserer Lehre auf den Weg, aufgeregt und abenteuerlustig. Dieser riesige Bahnhof Ostkreuz machte uns ganz schön Angst. So viele Menschen tummelten sich dort auf dem Bahnsteig, um aus-, ein- und umzusteigen. Oh Gott, finden wir den richtigen Ausgang? Man, schubsen die hier alle morgens schon herum! Ah, da drüben, Ausgang Sonntagstraße. Dann bis vor zur Ecke, dann nach rechts, da sahen wir schon den Riesenbau vom Bremsenwerk.

Vier Stunden später gingen wir den gleichen Weg wieder mit Schlappohren und schiefem Mund zurück. Man, war das eine blöde, dreckige, große Schule! Dreihundertzwanzig wurden da ausgebildet und leider nur Mädchen. Wo wir uns doch in diesem Alter viel mehr für Jungen interessierten. An den Wänden dieser Schule konnte man sehr gut die letzten fünfzehn Jahre ablesen. Ob es die Sprüche waren – heute heißt es Graffiti – oder die Kaugummis, die manche "aus dem Westen" bekamen, oder einfach nur das Marmeladenbrot, was da noch klebte.

Einen Lehrer über vierzig als Klassenlehrer hatten wir auch bekommen, das war für uns damals steinalt, na gut, ist es eigentlich heute auch wieder. Aber heute sind wir selber über fünfzig und haben einen anderen Blickwinkel. Und im Laufe der Zeit bei ihm merkten wir, dass er alle Tricks und Kniffe junger Mädchen kannte. Ob es vorgetäuschte Ohnmachtsanfälle waren, um ein paar Stunden früher abzuhauen, um sich mit seinen Freunden zu treffen, oder es die obligatorischen Bauchschmerzen waren, die Mädchen so haben. Er wusste für alles eine Lösung und sie war nicht immer zu unseren Gunsten. Schon gar nicht kamen sie dem nahe, was wir damit eigentlich bezweckt hatten.

Auf dem Bahnhof Ostkreuz haben wir bei schönem Wetter auf den Bänken gesessen und noch schnell unsere Hausaufgaben gemacht — oder auch von anderen abgeschrieben. So manche S-Bahn haben wir Richtung Strausberg ziehen lassen, wenn wir mit unserem Freund noch ein bisschen knutschen wollten. Auf diesem riesigen Bahnhof kannte uns ja keiner. Das wäre in unserem Dorf nicht möglich gewesen, da hätte irgendein Nachbar uns gesehen und gleich bei unseren Eltern zu Hause Bescheid gesagt.

 

Ich erinnere mich an einen Morgen, es war auch die Fahrt zur Berufsschule. Ich stand mit meiner Freundin in einer Menschenmasse dicht gedrängt. Morgens um diese Zeit waren die S-Bahnen nach Berlin immer besonders voll. Wir quatschten über Jungs und das nächste Wochenende. Da sagte meine Freundin: "Du, mir fummelt da einer hinten am Reißverschluss meines Rockes herum." Wir standen so dicht, dass wir uns nicht bewegen konnten. Ich sagte: "Tritt doch mal mit deinem Fuß nach hinten, dann wirst du schon den Richtigen treffen." Sie sagte: "Man, das geht doch nicht, nachher treffe ich den Falschen und der haut mir eine runter. Ich weiß doch nicht mal, wer mich da befummelt." Ich schaute mir alle in der Nähe stehenden Männer an. Keiner verzog eine Miene oder wurde rot oder sonst etwas, woraus ich erkennen könnte: Der ist es!

Sie fing schon fast an zu heulen und ich sagte:"Pass auf, wir machen das anders." Ich sah noch einmal in die Runde und sagte dann ganz laut: "Sag ihm doch einfach, dass er die Pfoten von deinem Rock wegnehmen soll, das traut er sich sicher nicht einmal bei seiner Frau zu Hause". Alle schauten auf uns — oh Gott, wie peinlich! Schräg hinter mir stand ein Matrose, zwei Köpfe größer als ich und doppelt so breit. Er saget:"Keine Angst, Mädels, ich hab das Schwein schon im Auge, ich warte nur auf die nächste Bahnstation." Der Zug fuhr mit einer riesigen Geschwindigkeit in den Bahnhof Ostkreuz ein, wo wir ja auch aussteigen mussten. Doch bevor wir zur Tür drängten, hatte der Matrose einen kleinen schmächtigen Mann hervorgezerrt — alle rückten zur Seite — auf einmal war auch Platz. Der Zug fuhr in den Bahnhof ein und der Matrose reesst die Tür der S-Bahn auf — früher ging das noch während der Fahrt — er hatte das Männchen am Kragen, seine Beine berührten kaum den Bahnsteig. Der Matrose sagte: "Fang an zu laufen, ich glaube, der Fahrtwind wird dir gut tun", und liess ihn los. Alles im S-Bahnwaggon schrie auf. Der kleine Mann rannte und rannte und rannte, fast schaffte er es auch, aber dann schlug er doch der Länge nach hin. Die S-Bahn hielt, die Türen gingen auf — außer unserer, die war ja schon offen — die Leute stiegen aus, keiner kümmerte sich mehr um den kleinen Mann oder um uns. Wir winkten dem Matrosen noch zu und gingen zum Ausgang Sonntagstraße. In der Schule erzählten wir unsere Story und waren für heute die Stars des Tages. Man, war das ein Abenteuer!

Manchmal, wenn ich heute über Ostkreuz fahre, muss ich daran denken und lächle vor mich hin, ist das schon lange her. Das Männchen ist bestimmt heute über 80 oder nicht mehr da, und der junge Matrose hat bestimmt schon Familie wie ich jetzt.

Wieder ein anderer Tag auf dem Weg zur kaufmännischen Berufschule, wir bogen in die Boxhagener Straße, Ecke Marktstraße, ein und sahen viel Blaulicht und einen Krankenwagen. Da wir ganz interessiert auf die Lichter sahen und die vielen Polizisten, die da herumlaufen, haben wir das, was kurz vor uns auf dem Straßenrand liegt, nicht bemerkt.

Zwei Sekunden später krallte sich die Hand meiner Freundin in meinen Jackenärmel und sie fing an zu schreien und atmet ganz schwer. Jetzt sah auch ich, was sie völlig außer sich gebracht hatte. Da lag jemand auf der Erde mit einer Decke zugedeckt.

Es war ein junger schlanker Mann, er hatte eine Lederkombi an — ein Motorradfahrer, der gerade an dieser Ecke tödlich verunglückt war. Unter der Decke schaute seine Hand hervor, schneeweiß hob sie sich vom Schmutz der Straße ab. Diesen Anblick habe ich mein Lebtag nicht vergessen können. Noch oft habe ich von der schwarzen Gestalt auf der Erde und der schneeweißen Hand geträumt.

Die Polizisten kamen auf uns zu und sagten:"Bitte weitergehen", aber meine Freundin und auch ich waren nicht in der Lage einen Schritt zu gehen, wir starrten nur auf den toten jungen Mann. Ein anderer Mann in Zivil kam und schob uns sachte zur Seite, so dass wir nicht mehr auf die Leiche starren mussten, und drückte uns auf die Treppenstufen eines Hauses, das in der Nähe war, herunter. Er sprach ganz ruhig auf uns ein — ich weiß nicht mehr, was er alles gesagt hat, aber es tat gut. Nur den letzten Satz weiß ich noch wie heute. Er stellte sich direkt vor uns und sagte:"Das ist furchtbar für euch Mädchen, ihr wart zur falschen Zeit am falschen Ort. Wo müsst ihr hin?"

Wir stotterten was von Schule und da und zeigten mit dem Finger in die Richtung unserer Schule. Er zog uns wieder von den Treppenstufen hoch, nahm uns bei der Hand und ging mit uns bis zur S-Bahn-Unterführung, vielleicht 50 oder 100 Meter, mit. Langsam spürten wir unsere Körper wieder und setzten einen Fuß vor den anderen. Der Mann sagte:"Geht jetzt, ihr könnt nichts mehr für ihn tun."

Übrigens der Motorradfahrer — er war erst 19 und hatte das Motorrad ganz neu zum Geburtstag bekommen, das lasen wir dann in der Zeitung am nächsten Tag.

So vergingen die Jahre. Jedoch, wenn ich heute mit dem Auto an dieser Ecke Boxhagener und Markstraße vorbei fahre, denke ich immer noch an diesen jungen Mann. Für ihn war es sein Schicksal, für uns fing unser Leben erst an.

Barbara

 

Thomas Rehaag
Barbara

 

Hoffmann schlenderte die Treppe hoch. Feierabendlicher Vorweihnachtsverkehr hastete von vorn und von hinten vorüber. Entsexualisiert, trist und zu modisch praktischen Paketen gebündelt. Beieinander und jeder gegen jeden. Ein gesellschaftlicher Ramschladen. Von Zug zu Zug hastend wie von einem mysteriösen Schwungwerk angetrieben.

Es gab Treppen in Odessa und Dieppe. Einmal waren es die Kosaken und der Panzerkreuzer und das andere Mal die Kanadier, die sich an den Stufen die Zähne ausbissen. Pfuschende Etappenhengste und korrupte Manager, "große historische Umbrüche", Rolltreppen auf und ab, moralisierende Politiker, Atomwaffen, Umweltverschmutzung, Weihnachten, Arbeitslosigkeit, absolutes Elend, Kinder schändende Familienfreunde, Billigangebote, anschaffende rumänische Transvestiten, unfähige Handwerker, kosmetische Operationen, Kriege, Videoüberwachung, gläserne Patienten und orientierungslose Pottwale.

Und heute biss sich selbst der Weltgeist in den Schwanz. Und nächstes Frühjahr wollten sie den Mist hier modernisieren. Im Westen gab's noch so ein Kreuz. Wahrscheinlich genauso meschugge wie das hier.

Das alles ging Hoffmann durch den Kopf, während er auf den Zug Richtung Frankfurter Allee wartete. Seine Klamotten gerieten langsam außer Form und das einzige Ehrbare an ihm bestand aus seiner stattlichen Korpulenz, einem akkuraten Haarschnitt und den auf Hochglanz polierten Halbschuhen.

Den ganzen Nachmittag hatte er sich treiben lassen: Bölschestraße, Spreetunnel, Müggelsee, Teufelssee, Müggelsee, Spreetunnel, Bölschestraße, Bahnhof. Düster, introvertiert, traurig, phlegmatisch, gebildet, intellektualisiert, gehässig, zynisch, ironisch, sarkastisch, angewidert, liebesbedürftig und verschroben paranoid. Eine allzu menschliche Hölle und ein verwundeter Drache mit aufrechtem Gang.

Er drängte sich in die überfüllte Bahn und drehte sich sofort zur Tür. In der rechten Hand trug er eine gegen die Hose schlappende Plastiktüte mit seinen Fressalien: zwei Büchsen Nasi Goreng, ein halbes Grillhähnchen vom Türken und zwei Büchsen Efes.

Seit vier Jahren wohnte er in einem modernisierten Altbau, Seitenflügel Hinterhof, zweiter Stock. Denkerflur, Innen-WC mit Waschbecken und Nasszelle, Küche, Zimmer, Heizung.

Aus seiner vorigen Bude musste er raus. Keine Mietschulden, nur ein etwas gründlicherer Umbau. Aus den mittleren Buden sollten zweistöckige Mansardenwohnungen werden mit Wendeltreppe und so, und auch die Außenklos und die Öfen kamen unter den Hammer. Und ausgerechnet er wohnte in so einer Mittelbude. Besser gesagt Höhle.

Seit seinem Einzug vor zwanzig Jahren hatte er kein einziges Mal renoviert und seine Vormieterin, eine ältere Nikotinistin im Perlonkittel, wohl auch nicht. Die von zubetonierten Kabelkanälen durchfurchte Raufaser war so stark vergilbt, dass kaum noch Blumenmotive zu erkennen waren, über der Küchenlampe befand sich ein schimmliger Wasserfleck, im Boiler war die Spirale durchgebrannt, das Abflussrohr hing auf halb acht, das Klo war mal wieder verstopft und jede Nacht fraßen sich die Mäuse durch die nackten Zimmerdielen. Und mit den Möbeln sah es auch nicht besser aus.

Am liebsten wäre er hier gestorben. Aber man ließ ihn nicht. Wegen all der Erinnerungen. Wegen des Flecks über der Couch.Wegen seiner letzten leidenschaftlichen Erfüllung vor zwanzig Jahren: Kathi, die erzgebirglerische Transe. Spack wie ein Kleiderständer. Picklige schmale Wangen. Blaugraue Katzenaugen. Dunkelblond gelockte Loden. Einen Kopf größer als er und keinen Schwanz und keinen Arsch in der Hose. Aber trotzdem. Er wusste auch nicht, was ihn ritt. Vielleicht sein Deo. Vielleicht der rätselhafte Schalk seiner Blicke, wenn er sich zwischen seinen Schenkeln abmühte oder ihm die Fußsohlen ableckte oder an diesen schlanken langen Zehen lutschte.

Oder er wollte diese in einem Mann gefangene Frau befreien, erwecken, beschützen, streicheln, behüten, glücklich machen ...

Nie hatte er gespürt, dass seine Mutter ihn liebte, und sein Vater war ein fremdgehender venerischer Pomadenhengst, den er nur aus dem Familienalbum kannte. Nichts als das verkrampfte Gehabe einer berufstätigen Hysterikerin, allein erziehenden Mutter, verschrobenen Hobbyliteratin, unglücklichen Liebhaberin, verunsicherten Schlägerin und sich quälenden Asthmatikerin.

Mit der Zeit stellte sich der neurotisierte Müll aus diffizilen Nörgeleien, gekränkter Eitelkeit und koketten Eifersüchteleien ein. Eines Nachts im Sommer gingen die Nerven mit ihnen durch und sie produzierten eine jämmerliche Szene. Und als die Klappe endlich fiel, drosch er Kathi aus der Bude. Barfuß und nur im Bademantel und mit seinem ganzen Fummel.

Vorsichtig klinkte er die Tür hinter sich zu, kickte die Schuhe ab, zog sich den Mantel aus und schlich in die Küche. Die reinste Festtagsbeleuchtung. Er leerte die Tüte, schnappte sich einen Teller und wälzte den Vogel aus der Folie. Den Teller in der Linken und das Bier in der Rechten trabte er ins Zimmer.

"Hey!", rief er leise. Babara lag im Slip auf der Matratze und blinzelte in die von den Fensterbrettern strahlenden Höhensonnen.

"Hi, Hoff."

Er setzte sich an den Tisch und drehte die Keule raus. Flutsch. Gleich hatte er die angebrannte Pelle am Wickel.

"Hey!" Er hielt die Hand drunter.

"Ja." Babara setzte die Sonnenbrille ab und rekelte ihm das Haupt zu. Sie sahen sich kurz in die Augen. "Gleich, Hoff..." Ihn ständig im Auge behaltend, streifte sie sich rasch den Slip ab und stand auf, die schlankgliedrigen Hände in die Taille gestemmt und mit dem Blick zu ihm. Die Pelle hinterschlürfend nickte er ihr beflissen zu. Geheminisvoll lächelnd wog sie sich leicht in den Hüften.

"Jetzt nicht, Babara." Sie betrachtend, nagte er die Keule ab und trank ein Schluck Bier.

Sie war ungefähr so groß wie Kathi, aber gebaut wie ein durchtrainierter Schwimmer, mit sehnigen Oberarmen, sich zart nach außen wölbendem Brustkorb, langen kräftigen Beinen, knochigen langzehigen Füßen, sich prall kugelndem Hintern und kaum sichtbarem Bauchnabel.

Das sich nach allen Seiten aufplusternde, rot-gelb-blau-grüne Haar fiel ihr tief in die Stirn bis knapp über die kräftig nachgezogenen, kohlschwarzen, schmalen Augenbrauen und die einige Millimeter ins Fleisch schneidene Nasenwurzel. Die Nase selbst war sehr flach, lang und kräftig geraten, mit breiten Nüstern und stumpfer Spitze. Über den eingefallenen Wangen lugten ihre seltsam grünen Mandelaugen hervor und ihr kantiges Kinn korrespondierte nur schwer mit dem sich keck nach oben stülpenden blassroten Mund.

"Okay", hauchte sie lasziv. "Was macht 'n dein Finger?" Sie stakste zu ihn hin und hockte sich neben ihn.

"Hmmm..." Er schmiss den Knochen auf den Teller und hielt ihr die rechte Hand hin. "Hat sich 'n bisschen zusammengezogen, die Schweinerei." Sie blinzelten sich lächelnd zu.

Gestern Abend hatte er sich beim Essen Zubereiten in den oberen Zeigefinger geschnitten, kurz unter dem Knöchel und bis knapp über die Ader. Bami Goreng. Der Pamps saß so fest in der Büchse, dass er die Gabel zu Hilfe nehmen musste, und der scharfkantige Deckel ragte senkrecht in die Höhe und er wurde wütend und rutschte ab und es blutete und blutete. Ins Waschbecken, in seinen Mund, auf das Linoleum und in die Pfanne.

Babara pulte das Pflaster ab und glitt mit der Zunge über den suppenden Spalt. Wieder und wieder. Ein kitzelnd dumpfer Schmerz strömte ihm durch Hand, Arm und Herz. Sein Glied geriet etwas in Fahrt. Sein Gesicht erhitzte sich zu einem pulsierenden Rot. Enerviert seufzend zerrte er sie an den Haaren zu sich hoch bis dicht vor sein Gesicht und starrte ihr böse in die Augen.

"Ist gut, Hoff. Ich zieh mir was an", sagte sie leise.

Über der Nähmaschine neben dem Bücherregal lagen ihre Klamotten, superenge, rotweiß gestreifte Leinenhosen, ein weißes Nicki mit dem Spruch "Ich liebe Streuselkuchen" in lila Sütterlinschrift, eine schwarze Nappalederjacke, graublaue, unten abgelatschte Polyestersocken und giftgrüne Schnürstiefel.

"Wir schmeißen uns zum alten Glaswerk. Die Gegend haste doch so gerne", palaverte er pro forma. Loslassend machte er sich über das Brustfleisch her. Sie stand auf und stakste zu ihren Klamotten.

Jedes Stück stammte von ihm. Außer die Socken und Schuhe natürlich. Liebevolle Maßarbeit. Er hatte es mal gelernt und seit seiner Entlassung schneiderte er schwarz, denn er hasste es zu sparen und kam mit dem mickrigen Hartz-4-Satz gerade so über die Runden.

Schlingend checkte er das Interieur ab. Neben dem Fenster an der Wand stand auf einem flachen Ablagetisch der Fernseher, ein Stück weiter links das mittelprächtige Bücherregal, es folgten der tief in die Ecke gedrängte Computertisch und sein wuchtiger Garderobenschrank aus solidem Span. Schräg hinter ihm, auf der salz- und pfefferfarbigen Auslegware gleich neben der Tür, stand der asbachuralte Tangentialplattenspieler mit den brummenden Boxen und in seinem Nacken wusste er noch drei übereinander gewürfelte längliche Bücherkisten aus nussbraunem Holz mit aufklappbaren gläsernen Türen und eingeschraubten Messingknäufen. Obendrauf ein Radio mit eingebautem Kassettendeck, vier Haufen Kassetten, eine gelbe tönerne Vase mit nach unten sprießenden Blätterranken und eine rote Schreibtischleuchte.

Als er sich die Finger abwischte, wurde Babara fertig.

Rings um den Tisch ordneten sich vier dunkelblau gepolsterte, hellbraune Holzstühle. Und über allem baumelte ein farbloser Lampion mit roter Birne.

Tisch, Bücherkisten, Plattenspieler und Garderobenschrank stammten von ihm. Die restlichen Möbel, die Matratzen, den Fernseher, die Auslegware, das Radio und den Computer hatten ihm seine Verwandten untergejubelt, weil man mit vierzig nicht mehr "so leben" konnte. Und er machte sich ab und zu Gedanken darüber, ob es jemals zu schaffen war, die Bude hier so runterkommen zu lassen wie die in der Proskauer.

Als er ihren Blick auf sich ruhen fühlte, stand er auf, griff nach dem Bier und brachte den Teller in die Küche. Gott sei Dank, wurde sie nie sauer oder machte ihm irgendwelche Szenen. Es sei denn... Blöd vor sich hinlächelnd schlappte er zum Fenster. Unterwegs klemmte er den Teller in die Abtropfe. Im Hof stand ein riesiger Baum, was für eine Sorte, wusste er nicht, da er sich aus Natur nichts machte. Nur in manchen Fenstern sah er Licht. Genüsslich schluckte er das Bier hinter. Ihn interessierten sie nicht. Vor den Fenstern hatte er weder Rollos noch Gardinen. Konnte durchaus sein, dass sie gerade einer durchs Fernglas belinste. Er knüllte die Büchse zusammen und stopfte sie in den Müll. "Die Perversen sind immer die anderen", dachte er, zurück ins Zimmer schlappend.

Als er eintrat, stand sie noch immer auf derselben Stelle. Rasch wandte er sich zur Seite und sah ihr in die Augen. Zögernd setzte sie sich in Bewegung. Sie kamen aufeinander zu. Auf halbem Wege trafen sie sich. "It's timing", murmelte er, sie in die Arme nehmend. Sie drängte ihn etwas zurück. Kein Wunder. Sofort sah er ihr in die Augen und hauchte ihr einen Kuss auf den Mund. "Ich zieh mir nur was über und dann hauen wir ab", stammelte er hektisch.

"Okay, Hoff." Er knipste die Höhensonnen und das Licht aus. Dann bugsierte er sie in den Flur und sie kramten ihre Sonnenbrillen hervor.

Unten hakte sie sich bei ihm unter. Sie passte sich seiner Schrittfolge an. Braves Mädel. Eisern hielten sie ihre Richtung. Immer an den Häuserwänden entlang ohne jemandem auszuweichen. Sie kamen gut voran und nach ungefähr vierzig Minuten erreichten sie die letzte Ampellinie vor der Stralauer Bucht. Unter der ersten Laterne schwang er sich herum und stellte sich ihr in den Weg. Er hatte so viel Bums drauf, dass ihnen die Sonnenbrillen auf die Nasenspitzen rutschten. Um so besser. Sie trat noch einen Moment auf der Stelle und stand still. Das war ihr einziger Fehler, aber sie arbeiteten dran.

"Hey!" Er kassierte die Sonnebrillen ein.

"Ja, Hoff." Ihr unters Kinn greifend okkupierte er ihren Blick.

"Pass mal auf. Das da drüben wird 'ne richtige Maßarbeit. Schlimmer als auf der Matratze. Also pass auf, wo du hin trittst, Engel. All right?"

"All right." Er trat aus dem Weg und sie hakte sich wieder bei ihm unter. Drüben hoffte er auf wenig Betrieb.

Sie folgten den aufgefädelten Neonrhomben um die Bucht schreitender Laternen. Der Weg schlängelte sich in eine scharfe Biege. Aus der angeblendeten Schummrigkeit zwischen den Lichtern sausten zwei Räder mit aufgeblendeten Scheinwerfern auf sie zu. Erst kurz voreinander bekam man sich mit. Sie rissen ihre Lenker nach rechts und umkurvten die eng beieinander liegenden, wegbreiten Pfützen. Hoffman meinte einen abgebissenen Fluch zu hören.

Periodisch krallte sie sich in seinen Arm. Ahnend erhofft und doch im Takt einer imaginären tickenden Wahrscheinlichkeit.

Die Jahre seit "Kathi"... Die Finsternis legte sich auf ihn wie eine unduldsame Nova: eisig, aufrichtig, nüchtern, beherrscht... Ihn verletzen sollende Liebschaften, schmachtende Illusionen, flüchtige Geschichtchen, Jobs, Auszeiten, Bekannte, Freunde. In Erinnerung geronnene Ironie und sich selbst vernichtender Sarkasmus - schließlich.

Der Weg zackte leicht empor. Die neue Turtelbank wirkte wie ein sich steril gebärdener Zweck und eine amorphe Schwester. Das erste Mal, dass sie ihm gefiel. Tief durchatmend rumpelten sie aus der Kurve. Links das Wasser. Rechts die Fläche mit den flachen Büschen, dem Hochspannungsmast und den sich wie riesige Reisigbesen in die Höhe streckenden Bäumen. Die Volleyballanlage. Der schwimmende Jugendklub. Die in eine stark konturierte Dunkelheit abreißenden Lichter.

Sie schwenkten zu den Ruinen ab. Ringsum scharfer Bernsteinschein. All das erschien ihm verhangen, unscheinbar und winzig.

Als sie aus dem Schatten des Durchgangs traten, versperrte ihnen eine seltsame Gestalt den Weg. Hoffmann erkannte ihn gleich, diesen ihm ständig begegnenden Schutzengel.

Er trug eine große Sonnenbrille, eine aus dem Leim gehende Dauerwelle, einen hellen Rollkragenpullover, irgendwelche Wildlederstulpen sowie eine dunkle Cordkluft und der einzige Lichtblick an ihm war sein wohl ständig verbundener rechter Unterarm.

Ihm zaghaft zunickend schlenkerte er an ihm vorbei und er hatte den Eindruck, dass er ihm verschmitzt zulächelte.

Keine Zeit. Mechanisch hielten sie den Takt bis über die Straße. Erst unter einer der Laternen vor der Brücke rempelte er gegen ihre Brust. Rasch starrte er ihr in die Augen. Sie trat noch ein Weilchen auf der Stelle. Dann blieb sie stehen. Er kramte die Sonnenbrillen hervor.

"Setz sie auf." Synchron nestelten sie sich die Dinger über die Nase. Arm in Arm kehrten sie um. Links vorne folgten sie dem Markgrafendamm in Richtung Wasserturm. Alle wichen ihnen aus. Das Spektakel nahm seinen lauf. "Des Kaisers neue Kleider", dachte er süffisant vor sich hin pfeifend. "Na, Gott sei Dank aber auch...." Der Durchgang zum Bahnhof, die Treppe, die Brücke, die Treppe, der Ausgang, die Straße... Mit ihnen klappte es immer besser.

Beim Überqueren der Waldeyer schnitten sie ein abbiegendes Müllauto. Der Kumpel trat auf die Bremse und zeigte ihnen den Stinkefinger. Unbekümmert flanierten sie weiter. Wahrscheinlich stand auf ihrem Orangemann der Spruch "Wir lieben Müll" und sie wollten so schnell wie möglich unter die Dusche und zurück zu ihren Familien oder hatten noch einige Fuhren runter zu reißen und dann erst. Egal.

In der Küche riss er sich ein frisches Bier auf und sah auf den Wecker. Gleich Viertel nach zehn. Derweilen stand Babara wartend vor der Matratze. Na ja, ihm gefielen Ginger Rogers und Fred Astaire. Er schlich ins Zimmer, knipste den Lampion an, zwinkerte ihr mit dem rechten Auge zu und schaltete den Computer ein. Während sich der Rechner hoch schaukelte, fischte er die CD aus dem gegen die Wand gelehnten Stapel und schob sie ein. Auf dem Bildschirm erschienen die aufgelisteten Titel und der bunt zackende Rythmustimer. Es ging los. Sich in den Knien wiegend soff er die Büchse aus.

"Hey!" Er ließ die Büchse fallen, löschte das Licht und schlurfte zu ihr hin.

"Ja, Hoff." Er nahm ihr die Brille ab und lächelte ihr in die Augen. "Zieh dir bitte die Schuhe aus. Ich will 'n bisschen tanzen."

"Okay." Sie tat 's. Ihre Socken muffelten nach frischem Schweiß. Sie schlangen die Arme umeinander. Nase an Nase, Auge in Auge, Schoß an Schoß wogten sie sich um den Tisch. Bei "Change Partners" kam es ihm vor, als ob er sich selbst führte. Es war sein Lieblingssong und er wiederholte ihn einige Male. Abrupt bekam er einen hoch. Ihr tief in die Augen blickend drängte er sie auf die Matratze und zwängte sich zwischen ihre Schenkel. Sie schuckelte ihn auf und ab, mit einigen überraschenden Schlenkern nach rechts und nach links und er wehrte sich mit einer Serie lascher Stöße. Von schräg hinten blinzelte sie der Rythmustimer an und all das kriegte eine verrucht perverse Note. Na wenn schon. Er war nun mal ein Schenkel-, Fuß- und Arschfreak und die Realität gab es schon lange nicht mehr her.

Auf und ab, Schlenker rechts, Schlenker links, Stoß, Stoß, Stoß...

Als die CD zu Ende war, spritzte er sich konvulsivisch gegen ihren Schoß stemmend ab. Sofort wurde sie ruhig. Er quälte sich hoch und tatterte zum Lichtschalter. "Einige Minuten zu früh", dachte er, den Lampion anknipsend. Er schlich zurück, wälzte sie auf den Rücken und krempelte die Jacke und das Nicki hoch. Über den Nieren befanden sich die Schmiernippel für die Gelenke. Ein Stück weiter oben, genau zwischen den Schulterblättern, steckten das Uhrwerk und der Hauptschalter. Er drückte den Schalter, deckte die Klamotten drüber und legte sich neben sie.

Barbara stammte aus einer Genfarm in Denver, Colorado. Er hatte ihnen per Brief die gewünschten Maße und seine speziellen Geruchsvorlieben übermittelt, sowie einen Fetzen Hornhaut beigelegt. Sie konnte ihm jeden Wunsch von den Augen ablesen, benötigte ihre tägliche Dosis UV-Strahlen für die Solarzellen, Silikonöl für die Gelenke und genügend Auslauf für ihre Fitness. Was sie antrieb stand nicht im Katalog. Sie kostete tausend Euro und "Gentech" kam kaum nach.

Er zündete sich ein Zigarillo an und dachte sich ein paar neue Klamotten für sie aus. Morgen wird sie ein Jahr alt und er hatte es noch nie mit ihren Fußsohlen versucht. Mal sehen, ob sie da unten genauso empfindlich war wie Kathi.

Robert Göbel - Ostkreuz im Aufwind

Robert Göbel
Ostkreuz im Aufwind

 

Zu lange hockt der Krake
gekreuzt und altersschwach
am Rummelsburger Wasser
im Nebel und im Krach.

Und seine Arme ragen
nach West-Nord-Süd und Ost
im Innern, an den Nerven,
da nagt der Eisenrost.

Den düst’ren, hohlen Bahnhof
durchschreit' ich mit Entsetzen
ich seh den Strom der Menschen
von Bahn zu Bahnsteig hetzen.

Trepp’ auf, Trepp’ runter tragen
zigtausende von Füßen
versteinerte Gesichter
keine Zeit zum Grüßen.

Tatatata-Tatatata
Bremsen kreischen, dröhnen
ICEs stürmen vorbei
kein Zustand zum Gewöhnen.

Nach dem ersten Spatenstich
den Neubau will man wagen
draußen hocken Ungeheuer
die scharren, baggern, nagen.

Das Bahnhofshaus wird transparent
der Krake wird zerschlagen
rollende Treppen und Lifte
die können Menschen tragen.

Ein Treffpunkt wird das neue Kreuz
zigtausende von Füßen
ruhen und entspannen sich
und es bleibt Zeit zum Grüßen.

Sinne im Nebel

 

Stefanie Erdrich
Sinne im Nebel

 

Ich zögere an der Tür, obwohl ich nie etwas deutlicher wollte. Diesen Weg zurücklegen, alleine. Verboten habe ich ihm, mich zu begleiten. Ich will wieder ich sein, nicht Anhängsel. Nur ein kurzes Stück ist es, die Sonntagstraße hinunter bis zum Ostkreuz, zur S-Bahn und zurück. Nur ein kurzes Stück war es, früher. Alte Maßstäbe gelten nicht mehr.

Meine Angst begleitet mich zur Tür hinaus. Überrascht bleibe ich stehen, die Helligkeit blendet. Dicker, schwerer Nebel, ich sehe keine Armlänge weit. Dennoch fühle ich mich fast geborgen in einem unsichtbaren Schutzkreis, nichts Bedrohliches zu bemerken. Kein sichernder Blick die Straße hinauf und hinunter gehört mehr zu mir. Es gibt keine Gesichter, die eingeschätzt werden, nur Gestalten, Schatten, die vorbeihuschen.

Angewiesen bin ich auf die Sinne, die ich früher kaum beachtete. Schritte höre ich und Vogelgezwitscher, Frühlingsstimmung, das passt nicht in den Januar. Was machen die Vögel, sie sitzen und warten, bis der Nebel sich auflöst, bis sie alles wieder von oben betrachten können, aus sicherer Entfernung. Doch der Nebel ist nicht bei ihnen, bei mir ist er, nur bei mir, ich vergaß. Unsicher tappe ich Schritt für Schritt. Wie ein Kleinkind, das laufen lernt und dabei schwankt wie ein Betrunkener, der ständig droht, aus dem Gleichgewicht zu geraten.

Meine Straße im Nebel ist nicht auszumachen. Einfach geradeaus, bis es nicht mehr weitergeht. Es klingt leicht. Links surrt die Straßenbahn, ehe sie um die Kurve rumpelt, neben mir holpert ein Auto auf dem Kopfsteinpflaster. Ich höre eine ungeölte Fahrradkette und das Schattern des Schutzblechs. Fahrrad fahren, welche Freiheit.

Ich überquere die Holteistraße und stoße gegen einen fest stehenden Pfeiler, mein Knie schmerzt einschießend. Dicht neben mir brüllt ein Mann: "Haste ein Problem? Komm her, Alter!" Ein Streit am Imbiss, den ich nicht vorhersehen konnte. Erschrocken bin ich von der Plötzlichkeit der Lautstärke, für den Augenblick übertüncht der Schreck den Schmerz im Knie. Vorbei an den Stimmen, nichts als ein Meer von Weißgrau, dennoch scheue ich mich, an der Wand entlang zu tasten, an den Hauseingängen. Ich könnte einen Menschen berühren, der herauskommt. Ich schaue nach unten. Nicht einmal bis zum Boden kann ich sehen. Das übliche vor sich Hinstarren, um Lücken im Pflaster und dampfenden oder hart gewordenen Rückständen auszuweichen, es entfällt. Ich verliere die Orientierung, wo ist Geradeaus?

Langsam, sehr langsam bewege ich mich voran, das ist nicht meine alte Geschwindigkeit. Ich bewege mich wie durch Honig, die Arme leicht vorgestreckt. Dennoch, so zerbrechlich sie auch ist, ich bin froh über die Freiheit, alleine zu gehen. Freude, gepaart mit Angst vor Zusammenstoß, vor Verletzung. Die vertraute Umgebung, ich erkenne sie nicht, die alten Orientierungspunkte aufgelöst. Der Nebel ist milchig und undurchdringlich, ich bin noch immer geblendet. Die Augen könnte ich schließen, ich wage es nicht, aus Furcht etwas zu verpassen. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich da bin, wo ich glaube zu sein, es erinnert mich an einen Spaziergang im Wald meiner Kindheit, aber nein, der Boden ist anders, der Boden ist unverkennbar, die Schritte.

Gerüche spalten sich nicht heraus, schwere Januarluft, die kalt in die Lunge sinkt. Nur Erinnerung sind die Düfte, die in wenigen Wochen zurückkehren, die schönen und die schlimmen. Die süßliche Zone, die mich sofort den Atem anhalten lässt, um nur nicht mehr davon hineinzulassen. Ich denke an weiche Frühlingsluft, die Gerüche mit sich spazieren trägt, sie frei gibt. Die ersten blühenden Pflanzen, den Kaffeeduft und den Zimtgeruch frischgebackener Kuchen, vielleicht abgelöst von einer Geruchsstraße von gebratenem Fleisch und altem Frittierfett.

Sonne wärmt mein Gesicht, es erstaunt mich, den Nebel wähne ich überall. Sonne auf dem Gesicht, was macht das mit den Menschen, anders sehen sie aus, glücklich. Sehen kann ich es nicht mehr, das Lächeln auf den Gesichtern, Erinnerung. So wird es bleiben, immerzu tappen im Halbdunkel, auch im Sonnenschein, weil der Nebel nicht außen ist, sondern innen, in meinen Augen. Bedrohlich. Oder kann man das lernen, Vertrauen zu haben in eine Umwelt, die ich nicht sehe, die aber mich sieht, da der Nebel mich frei gibt? Sehen können sie mir mitten ins Gesicht, unverhohlen, direkt, sehen können sie meine Angst und Unsicherheit. Das Gesicht, wie ein offenes Buch, jeder kann hineingreifen. Die Maske habe ich noch drauf, in mich gekehrt, abweisend, doch was nützt sie mir, wackelig wie ich bin. Ich fühle mich schutzlos ohne Augen, die sind im Nebel, innen, doch nach außen gibt der Nebel mich frei.

Endlich komme ich an der Lenbachstraße an, ich überquere sie vorsichtig, ganz konzentriere ich mich auf Motorgeräusche, nichts ist zu hören. Dann stoße ich rechts auf den Bauzaun, an dem ich es wage, mich festzuhalten, mich entlang zu tasten, gleich bin ich da. Mein Herz klopft schneller, ich schaffe es alleine, ich habe es gewusst, ich schaffe es. Ein Motor heult auf, ich erschrecke, der Zaun ist zu Ende und ich wage es nicht, ihn loszulassen. Ich höre ein Knirschen unter meinen Schuhen, es klingt hart und erschütternd, es sind Scherben einer Bierflasche, auf die ich getreten bin. Es klingt grausam und kalt und das Glück, bis hierher gekommen zu sein, verpufft. Ich kann nicht mehr, nicht noch einmal den ganzen Weg zurück, heute nicht. Die Sinne spielen mir einen Streich, mehr ist auf mich eingeströmt, als ich verkrafte. Ich sacke zusammen, in die Hocke, ein kleines Paket, sichernd die Arme um die Knie gelegt. "Anne?", sagt die vertraute Stimme, "Anne?"

Ich bin erleichtert, weil er nicht auf mich gehört hat, er ist mir gefolgt und ich bin nicht allein.

Operation Schneewittchen

 

Doris Bewernitz
Operation Schneewittchen

 

Die Luft war zum Schneiden. Felix rauchte seine Pfeife, Moritz, Siggi und Frank Zigaretten und die beiden Nichtraucher Max und Edmund öffneten ab und zu aus Notwehr das Fenster. Sie kannten sich schon lange. Alle wussten von der üblen Geschichte, die Felix passiert war, und die Empörung saß ihnen im Hals.

"Leute, ist das eine Suppe hier!", stöhnte Max, während er das Fenster aufmachte. "So ein Nebel wünsch' ich diesem Knastor auf der Baustelle..., entschuldige, Felix." Mit den letzten Worten spielte er auf Felix' Bitte an, den Namen Knastor in seiner Gegenwart nicht mehr zu erwähnen.

"Nichts leichter als das", witzelte Edmund, der zuletzt Techniker bei der DEFA gewesen war, "ich hab noch 'ne Nebelmaschine zu Hause." Plötzlich waren alle Feuer und Flamme und überraschten Felix mit einer geballten Ladung solidarischer Freundeskraft. "Das wär's doch, Mensch! Wir bauen Eddis Maschine nach, stellen die Dinger rund um den Bahnhof auf und nebeln ihn zu!", rief Moritz, seines Zeichens Konstrukteur. Darauf erzählte Siggi etwas von alten Luftschutzkellern, er hätte mal Pläne davon gesehen und meinte, die könne man doch wunderbar zur Aufstellung der Maschinen und als Versteck nutzen, sozusagen für die Arbeit im Untergrund. "Sag mal, wie funktioniert denn so eine Nebelmaschine?" "Eigentlich braucht man nur Wasser." "Ob's das da unten gibt?" Die fixe Idee nahm immer mehr Gestalt an. Morgens war der Plan gefasst. Wie im Bergwerk würden sie arbeiten, wie die sieben Zwerge, und den Bahnhof, ihre geliebte Prinzessin, eine Zeit lang unsichtbar machen, so dass ihm niemand etwas antun könne. Der Name ergab sich dann ganz von selbst: "Operation Schneewittchen".

"Aber wir sind nur sechs Zwerge", lachte Edmund und rieb sich die Augen vor Müdigkeit. "Vielleicht steigt ja der Nebelgott persönlich mit ein und gibt ein paar echte Schwaden gratis dazu!"

In den nächsten Wochen hatten Felix und seine Freunde viel zu tun.

 

Es war ein Kampf David gegen Goliath gewesen. Die Ausschreibung zur Umgestaltung des Ostkreuz-Bahnhofs hatte sich über Jahre hingeschleppt, bis die Jury schließlich zwei Konzepte favorisiert hatte: die von Felix Grundmann und Michael Knastor. Zwei Entwürfe, die verschiedener nicht hätten sein können. Knastor hatte einen Umbau à la Hauptbahnhof vorgeschlagen: Stahl, Glas, Beton. Felix' Konzept ging von einer behutsamen Instandsetzung aus, bei der die Grundstruktur im Großen und Ganzen erhalten werden sollte. Natürlich hatte er Fahrstühle, behindertengerechte Übergänge und eine Erneuerung der maroden Substanz vorgesehen. Aber schonend. Es sollte nicht ein gesichtsloses Monstrum werden, von denen es in Berlin mittlerweile mehr als genug gab. Auf den ersten Blick würde der Bahnhof aussehen wie immer. Nur schöner.

Felix' Entwürfe hatten anfangs, nicht nur wegen der günstigen Finanzierung, etliche Geldgeber interessiert. Zuerst hatte Knastor ihn nur ausgelacht und als "ewig Gestrigen" beschimpft. Ihm vorgeworfen, er wäre nicht innovativ. Als sie aber beide als letzte Bewerber übrig geblieben waren, wurden seine Intrigen immer perfider. Bei der entscheidenden Sitzung hatte er sich mit dem scheinheiligsten Gesicht zu Wort gemeldet:

"Haben Sie sich das gut überlegt, meine Herren? Wollen Sie das Projekt wirklich jemanden geben, dessen Fahrstil einen Menschen umgebracht hat?" Wäre Felix abgebrühter gewesen, hätte er solch ein Vorgehen abschmettern können: "Unsachlich, gehört nicht hierher…" Doch ihm war, als hätte ihm jemand in den Magen getreten. Fast hätte er sich übergeben. Er schaffte es gerade noch, seine Papiere in die Aktentasche zu stopfen, seine Krücke zu greifen und den Raum zu verlassen. Er wusste: Auf diese Art von Schlagabtausch konnte und wollte er sich nicht einlassen.

Woher hatte sein Konkurrent diese Informationen? Woher wusste er von dem Verkehrsunfall vor fünf Jahren, bei dem Felix nicht nur sein linkes Bein, sondern auch seine Frau verloren hatte? Dieser Schicksalsschlag hatte ihn verändert. Er hatte Margot geliebt. In den fünfundzwanzig Ehejahren war das eher noch mehr geworden. Da nützte es ihm nichts, dass es nicht seine Schuld gewesen, dass der betrunkene Lastwagenfahrer wie aus dem Nichts in sie hineingerast war. Jetzt musste er mit der Lücke leben, die Margot hinterlassen hatte.

Seine Mitarbeiter hatten ihm später geschildert, wie Knastor seine "Flucht" anschließend quasi als Schuldeingeständnis dargestellt und sich obendrein reinzuwaschen versucht hätte, indem er beteuerte, dass er seinem "Kollegen" ja beileibe nichts Böses wolle, aber zum einen sollte man bedenken, dass Körperbehinderte in der Regel labile Menschen seien, das Ostkreuzprojekt erfordere jedoch ein solides Nervenkostüm, und zum anderen mögen sie doch ruhig nachprüfen, was an der Verkehrsunfallgeschichte dran sei, er habe nur am Rande davon gehört… Natürlich wusste er genau, dass gar keine Zeit mehr zum Nachprüfen war.

Für Felix war das ein harter Schlag. Er hatte sein Herz an dieses Projekt gehängt. Nun versucht er sich einzureden, dass der Schmerz bald vorbeigehen würde. Sein Freund Max meinte: "Du solltest nicht aufgeben, Felix. Dein Konzept ist viel besser als seins!"

"Nein, Max, es ist aus. Mich mit solchen Leuten anzulegen, verkrafte ich nicht mehr. Die Arbeit von vier Jahren zum Teufel…"

Felix' Team stieg aus dem Vorhaben aus. An die Öffentlichkeit drang von all dem nichts. Das Ostkreuzprojekt galt nun als Knastors Sache. Der war es zufrieden.

Während in Felix' Küche die Schneewittchen-Idee heranreifte, saß Knastor mit seiner Frau im Wohnzimmer, sah sich die Tagesschau an und strich sich selbstzufrieden über seinen nicht unerheblichen Bauch, als er den Sprecher seinen Namen sagen hörte: "Mit dem Umbau des Ostkreuz-Bahnhofs, eines S-Bahn-Knotenpunktes in Berlin, wird voraussichtlich im April 2007 begonnen. Der Architekt Michael Knastor, der für seine Pläne den Senatszuschlag erhielt, wird gleichzeitig die Bauaufsicht übernehmen. Die voraussichtlichen Kosten belaufen sich auf vierhundert Millionen Euro". Als er die Summe hörte, grinste er. Sie glaubten aber auch alles! War das ein Kampf gewesen, besonders gegen diesen letzten Konkurrenten, wie hieß er noch, Felix Grundmann, der ihn mit seinem niedrigen Finanzbudget fast aus dem Rennen geworfen hätte! Hätte er nicht seine Zuträger gehabt, wer weiß, ob es gut ausgegangen wäre. Aber so hatte er einiges über den Alten erfahren und konnte ihm im rechten Augenblick den entscheidenden Schlag versetzten. Wunderbar, wie der reagiert hatte! Das übertraf all seine Erwartungen. Dazu noch ein paar geschickte finanztechnische Winkelzüge, so dass er mit seinem Budget haarscharf unter dem vom Grundmann kalkulierte…, diese Gurken haben ja keine Ahnung. Und schon hatte er den Zuschlag!

"Die werden sich noch umgucken!", lachte er, "nicht meine Schuld, wenn sie nicht nachrechnen, oder, Mutti? Wo ist denn auf Großbaustellen je ein Finanzplan eingehalten worden?" Er schnalzte mit der Zunge und fühlte sich wie ein Held.

Mutti, genauer gesagt Elfriede Knastor, sagte das, was sie immer sagte: "Ja, Michael."

"Na, ein bisschen mehr Begeisterung könntest du schon zeigen, meine Liebe. Weißt du, was das für uns bedeutet? Das gibt einen schönen Lebensabend in Monaco, erst das Geld raus, dann wir hinterher. Sobald die Kiste steht. Denn ein bisschen hat dein Göttergatte gemogelt und wenn das klar wird, müssen wir ja nicht mehr hier sein…"

"Aber Michael, was sagst du da? Ist das nicht gefährlich? Ich meine…"

"Mutti, du meinst gar nichts. Du hältst schön deine süße Klappe, nicht wahr, du hast sowieso keine Ahnung. Und ansonsten, vertrau mir." Damit war das Gespräch für ihn erledigt.

 

"Morgen geht's also los", sagte Felix, als er den Fernseher ausstellte. "Schade, dass wir keinen Probelauf machen konnten. Und meint ihr wirklich, dass Knastor sich davon beeindrucken lässt?"

"Du alter Skeptiker, wird schon klappen", meinte Siggi, "auf jeden Fall ärgern wir ihn".

"Also dann, Umzug heute Nacht. Haben wir alles?" Die vernebelte Luft in Felix' Küche machte der Operation Schneewittchen bereits alle Ehre. Die Männer nickten sich zu. "Na, dann helfe uns Gott", meinte Frank. "Ja", lachte Moritz, "Zwerg Nummer sieben".

Sie hatten eine arbeitsreiche Zeit hinter sich. Die Luftschutzkeller gab es tatsächlich. Die acht Räume, die durch Gänge miteinander verbunden waren, boten genug Platz. Zwölf Maschinen standen an Ort und Stelle, sechs Klappbetten waren aufgebaut, Geschirr, Spirituskocher, Taschenlampen, diverse Essenvorräte, Tabak, Zigaretten, Notfallmedikamente und ein kleines Radio. Zum Glück hatten sie in einem der Keller ein altes Wasserrohr und sogar noch einen funktionierenden Elektroanschluss entdeckt. Sie waren bereit.

 

Am 10. April 2007 steckte die Sonne zaghaft ihre rosavioletten Morgenstrahlen über die Frankfurter Allee, als Knastor mit seinem Mercedes einem kleinen Polo die Vorfahrt nahm. Er hatte es eilig. Schließlich warteten alle nur auf ihn. Der Wetterbericht hatte ein Hoch angekündigt. Zur Feier des Tages trug er seinen neuesten Anzug, den ihm seine Sekretärin Monic empfohlen hatte. Überhaupt, diese Sekretärinnen! Er hatte jetzt drei und konnte sich kaum entscheiden. Natürlich stand ihm nicht im Mindesten der Sinn danach, mit seiner Ehefrau Elfriede auszuwandern. Schließlich war er ein Mann in den besten Jahren. Doch Elfriede würde das kleinere Problem sein. Ein Kinderspiel bei ihrer geradezu krankhaften Vorliebe für Pralinen. Sie aß immer die ganze Schachtel auf einmal, da konnte er sich drauf verlassen. Und ihr Herz war nicht mehr das beste. Also eine kleine Überdosis Digimerk und – zack. Aber das konnte er später erledigen. Jetzt galt es am Ball zu bleiben, bis er das Geld hatte. Und dann musste er sich noch entscheiden, mit welcher der drei Sekretärinnen…

"Guten Morgen, Herr Knastor! Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem großen Tag!" Der Polier erwartete ihn am Eingang Sonntagstraße. "Wir haben noch etwas Bodennebel, aber das wird sich wohl gleich geben. Die Kräne sind aufgebaut und alle Mannschaften zur Stelle."

"Wunderbar. Dann kann's ja losgehen. Bodennebel? Haben sie doch gar nicht angesagt. Na ja, keine Zeit verlieren. Also, meine Herrschaften: Ortsbegehung vor dem Start."

"Also, das ist…" Knastor hatte mit seinen Leuten den unteren Bahnsteig betreten, runzelte die Stirn und rieb sich die Augen. Er sah nichts. Undurchdringlicher, weißgrauer Dunst umgab ihn. Fast wäre er in einen Bohrschacht gefallen. "Eine Sauerei ist das, stellen Sie das sofort ab!", schnauzte er, woraufhin der Polier ihn an den erwähnten Bodennebel erinnerte.

"Dann setzen Sie die Halogenfluter ein, verdammt. Wir beginnen pünktlich!"

Wäre eine bessere Sicht gewesen, hätte man den Bahnhof mit einem Lagerhaus verwechseln können: Kräne überragten die alten Dachkonstruktionen, auf jeder verfügbaren Fläche türmten sich Schweißanlagen, Stahlträger, Zementsäcke, Stein- und Glasplatten. Zusätzlich machten Absperrungen und Baugruben den Passagieren, die verzweifelt versuchten ihre S-Bahn zu finden, schwer zu schaffen. "Das ist unmöglich!", fluchte Knastor. Der Nebel hing über den Gleisen wie eine Glocke. Die Umrisse der Bahnsteige verschwanden, das Blumenhäuschen vor ihm war gerade noch zu erkennen, die ausgestellten Sträuße allerdings geisterten wie verwaschene Farbkleckse durch das Grau. Menschen tauchten auf dem Bahnsteig auf, gingen ein paar Schritte und waren schon wieder verschluckt. In der Ferne erkannte er die Spitze des Wasserturms, sie sah aus als schwebe sie in der Luft. Die unteren zwei Drittel waren im Dunst verschwunden. Geradezu unheimlich. Knastor konnte sich nicht erinnern, jemals solch einen Nebel erlebt zu haben. Er hatte Mühe, aus dem Bahnhof wieder herauszufinden.

 

Felix und seine Freunde fuchsten sich schnell ein. Drei von ihnen hatten immer Bereitschaft an den Maschinen, die sie jeweils kurz vor Sonnenaufgang anstellten und die zur Zufriedenheit aller wunderbar funktionierten. Die anderen kümmerten sich ums Essen oder hielten Wache am Eingang. Sie mussten vorsichtig sein, vor allem leise. Ein Wachdienst mit Hund war auf der Baustelle postiert worden, der sogar nachts seine Runde drehte.

"Ob sie Verdacht schöpfen?", meinte Edmund.

"Warum sollten sie, ist doch 'n ganz normaler Nebel…" Felix' und Edmunds Feldbetten standen nebeneinander und abends flüsterten sie oft lange miteinander: Sie konnten beide schlecht einschlafen, Felix dachte an Margot und Edmund an die DEFA. Dafür wachten sie ohne Wecker auf, was in dieser Situation sehr vorteilhaft war. "Mensch, Felix, hätt'st du dir träumen lassen, dass wir auf unsere alten Tage noch solche Zwergenfaxen machen?" Ja, es bereitete ihnen tatsächlich Vergnügen. Ein wenig fühlten sich alle sechs in ihre Kinderzeit zurückversetzt, erzählten sich Ferienlager- und Abenteuergeschichten. Felix hatte sich lange nicht mehr so wohl gefühlt.

 

Knastor wurde immer nervöser. Seit Wochen schoben sie den Bau jetzt schon auf. Und er musste diese ganzen Idioten bezahlen, die nur herumlungerten und darauf warteten, mit der Arbeit beginnen zu können. Im ganzen Land war das Wetter paradiesisch. Nur auf seiner Baustelle nicht. Neuerdings hatte er ständig denselben Alptraum: Er ist vollkommen von kleinen Tröpfchen eingehüllt, bis er sich vorkommt wie in einem Aquarium. Selbst die Geräusche der einfahrenden Züge hören sich ganz künstlich an. Riesige, erfolglos kämpfende Halogenfluter, die aussehen wie Kraken, wabern zusammen mit seinen drei Sekretärinnen durch einen immer dichter werdenden Nebel, der ihm schließlich sogar die Sicht nimmt, als er sich daran macht, das Digimerk in Elfriedes Pralinen zu füllen. Stattdessen tut er es in seinen eigenen Kaffee… Schweißgebadet erwachte er dann immer und lief wieder und wieder zum Fernseher, um sich die Wetterprognosen anzusehen. Sie besagten durchweg das Beste für Berlin. "Aber das ist unmöglich!", schimpfte er. Die Fluter hatten gar nichts gebracht, trotz der stärksten und teuersten Lampen, die sie verwendet hatten. Die Sicht verbesserte sich von zwei auf drei Meter, das war alles. Er hatte sich beim Meteorologischen Institut in Potsdam über den Wetterbericht beschwert, daraufhin kamen Fachleute von dort, liefen nun auch noch auf dem lahmgelegten Bahnhof herum, machten Messungen und sprachen von einem einzigartigen Phänomen, dessen Ursache sie "sicher bald ergründen" würden. Doch nichts geschah. Das Telefon wurde sein Kampfgerät. "Hallo? Hier Knastor. Haben Sie endlich was rausgekriegt? Sie wissen nicht, wer ich bin? Sehen Sie keine Nachrichten? Ja, holen Sie Ihren Chef, zum Teufel noch mal."

"Matschke, Meteorologisches Insti… Ach Herr Knastor, ja natürlich. Entschuldigen Sie, meine Sekretärin hat Sie wohl nicht… Aber so beruhigen Sie sich doch. Ich kann Ihre Situation völlig verstehen. Dieser Ostkreuz-Nebel, ein schreckliches… - Wie? – Nein, das tut mir außerordentlich leid, unsere Spezialisten haben noch nichts herausgefunden. Es ist uns ein Rätsel. Ich kann es mir nicht im Geringsten erklären. Wetter ist Wetter, sage ich immer.  Vielleicht will der Bahnhof nicht umgebaut werden… – Was? – Aber ich kann doch nicht… - Bitte? Ich bin nicht schwerhörig! Ja, natürlich müssen Sie mir die Spezialisten bezahlen. Sie haben mich doch beauftragt. Was das kostet? Aber Herr Knastor, das kann ich nicht so aus dem Hut… Ich soll die Männer auf der Stelle abziehen? Also jetzt hören Sie mal… Nun werden Sie nicht beleidigend! Was heißt hier nichtsnutzige Wetterfrösche?! – Nein. – Auf gar keinen Fall! Wie Sie wünschen. – Die Rechnung schicke ich Ihnen. Auf Wiederhören."

Knastor war ein Nervenbündel und wurde täglich ungenießbarer. Er fragte sich, wie er diesen Ausfall je wieder einholen sollte. Die Zeit rannte ihm davon, die ersten Investoren machten Druck, sie wollten Ergebnisse und vor allem ihre Werbeplakate am Bahnhof sehen. Fotografen rückten an und ebenso kopfschüttelnd wieder ab. Mit Sehen war hier gar nichts. Reporter bedrängten ihn mit sinnlosen Fragen. Er hätte sie alle umbringen können. Selbst seine reizenden Sekretärinnen gingen ihm mittlerweile aus dem Weg und erfanden fadenscheinige Ausreden, wenn er, um seinen Frust zu vergessen, mit ihnen ein Schäferstündchen abhalten wollte. Der Baustart verzögerte sich von Woche zu Woche. Er würde Ärger kriegen, wenn nicht gar den Auftrag verlieren. Wie konnte dieser verdammte Bahnhof so lange im Nebel liegen, wo ansonsten in der ganzen Stadt das schönste Frühlingswetter herrschte?

 

Felix stand hinter dem verbarrikadierten Kellereingang und sog genüsslich an seiner Pfeife. Seine Armbanduhr zeigte halb fünf. Er wusste, dass Max jetzt die Maschinen hochschaltete. Durch eine Bodenritze konnte er ein Stück vom Sternenhimmel erkennen. Eine unbändige Sehnsucht überkam ihn: Himmel, Sonne, frische Luft! Obwohl sie sich wirklich alle sehr um Fassung bemühten, zeigten sich doch schon die ersten Gefängnisallüren. Sie waren jetzt zwei Monate hier. Wie lange würden sie noch aushalten? An Vorräten mangelte es ihnen nicht, auch auf Gemütlichkeit konnte er getrost verzichten, aber dieses Eingesperrtsein, das schlug ihm zusehends auf die Seele! Eine richtige frische Mahlzeit hätte er auch gern mal wieder gegessen, er träumte schon von Äpfeln, Weintrauben und grünem Salat. Und Knastor gab natürlich nicht auf. Das wäre in den Nachrichten gekommen. Es war immer nur von einer Verschiebung aufgrund starken Nebels die Rede. Was hatten sie sich eigentlich gedacht? War das ganze Unternehmen nicht wirklich kindisch?

"Verdammt Felix!" Max kam atemlos auf ihn zugerannt. "Das Wasser! Irgendjemand muss es abgestellt haben. Oder die alten Rohre haben schlapp gemacht und sind irgendwo gebrochen. Es kommt nichts mehr! Kein Tropfen!"

"Ja, dann…" Felix verstummte, als er in das Gesicht seines Freundes sah. So sang- und klanglos sollte alles vorbei sein? Die ganze Mühe – für nichts? "Wenigstens haben wir ihn ein bisschen geärgert, oder?" Max erriet seine Gedanken und protestierte so lautstark, dass Felix ihm die Hand vor den Mund hielt. "Der Wachschutz!", flüsterte er, legte seinem Freund den Arm um die Schulter und schob ihn den Gang hinunter zu den anderen. Betroffenheit machte sich breit. Moritz und Siggi beschlossen, sich sofort auf die Suche nach dem eventuellen Rohrbruch zu machen. Frank meinte, vielleicht fände man noch eine andere Wasserquelle. Es klang nicht sehr überzeugend. Schließlich hatten sie alle erreichbaren Kellerausläufer schon gründlich in Augenschein genommen. Edmund drehte wortlos den Spirituskocher an und machte sich daran, drei Büchsen Bohneneintopf zu öffnen.

"Mach doch lieber erst mal Kaffee", meinte Max

"Geht wohl schlecht", entgegnete Edmund, "ohne Wasser".

Sie würden aufgeben müssen, dachte Felix. Hier waren keine anderen Wasserrohre. Wahrscheinlich war es den anderen ebenso klar. Aber keiner wollte es aussprechen. Sie mussten es erst verdauen. Jeder für sich.

 

Ein Freudenschrei hallte durch Knastors Wohnzimmer. "Klare Sicht! Wir legen los!", verkündete der Polier am Telefon. "Ist das wahr?", schrie Knastor, "gucken Sie auch richtig?" "Klare Sicht, Mutti! Klare Sicht!", schrie er wie von Sinnen. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Das Telefon fiel ihm aus der Hand. Fast hatte er schon begonnen, an göttliche Rache zu glauben und nun fühlte er, dass doch noch ein Rest Verstand in ihm war. Irgendwo. Irgendwo in ihm. Er musste ihn jetzt nur schnell finden. Einen klaren Kopf behalten. Sein Schädel brummte. Irgendwo hatte er doch diese Kopfschmerztabletten... "Klare Sicht, klare Sicht…" murmelte er und griff nach dem ersten besten Tablettenpäckchen in seiner Nachttischschublade.

 

Auf der Baustelle erhob sich an diesem Morgen ein unglaublicher Lärm. Der so lang gebremste Arbeitseifer schien sich augenblicklich entladen zu wollen. Es klang, als würde eine Bombe nach der anderen explodieren und alles in Schutt und Asche legen.

Felix und seine Freunde löffelten mit resignierten Gesichtern ihre Bohnensuppe. Putz rieselte von der Kellerdecke. Moritz und Siggi waren von ihrer Suche stumm zurückgekommen, hatten die Köpfe geschüttelt, mit den Schultern gezuckt und sich dazugesetzt. Eine Weile war nur das Scheppern und Bersten von oben zu hören. Die Männer versuchten, Haltung zu bewahren.

"Eine Kälte ist das hier", warf Edmund hin. "Und so feucht."

"Richtige Rheumaluft", gab Siggi zurück, "Zeit, dass wir rauskommen".

"Na ja", meinte Max schließlich, "bei dem Krach merkt wenigsten keiner, wenn wir uns davonmachen".

Felix räuspert sich. "Trotzdem Leute, ich… danke euch…". Er hatte mehr sagen wollen, doch jetzt steckte ihm ein riesiger Kloß im Hals.

"War 'ne gute Zeit", entgegnete Moritz, "'n richtiges Abenteuer".

Plötzlich verstummte der Lärm über ihnen so abrupt wie er begonnen hatte. Erstaunt sahen sie sich an. Sie lauschten. Es blieb still. Frank stand auf und drehte das Radio an. "Achtung, Autofahrer!", sagte der Sprecher gerade, "ganz Berlin ist von einem dichten Nebel bedeckt, der sich während der letzten halben Stunde schlagartig ausgebreitet hat. Die Sicht beträgt weniger als fünf Meter. Es wird dringend geraten, die Fahrzeuge nach Möglichkeit nicht zu benutzen. Die Polizei befürchtet ein Verkehrschaos…"

"Also doch!" Felix strahlte. "Der siebte Zwerg! Der Nebelgott! Na, der hat sich den richtigen Zeitpunkt ausgesucht! Dann können wir Schneewittchen ja ihm überlassen. Leute, kehren wir in die so genannte Zivilisation zurück! Kommt ihr mit zu mir? Auf 'n frischen Salat und 'ne ordentliche Dusche?"

 

Es sei noch erwähnt, dass Herr Michael Knastor, als der Polier ihn anrief, um ihn vom erneuten Nebelausbruch zu unterrichten, nicht mehr ans Telefon gehen konnte. Um diese Zeit befand er sich gerade unter den Händen zweier erfahrener Notärzte, die sich redlich mühten, sein Herz wieder in Gang zu setzten. Versehentlich hatte er das Elfriede zugedacht Medikament eingenommen, und zwar die gesamte Packung mit zehn Tabletten. Es grenzte an ein Wunder, dass er gerettet werden konnte. Da er allerdings nur noch die Worte "Klare Sicht? Das ist unmöglich!" von sich gab, wurde er in die Nervenklinik eingewiesen. Diagnose: Paranoide Persönlichkeitsstörung, Größenwahn und ausgeprägte Nebelphobie.

Schwester Anni, die geduldig genug ist, sich wieder und wieder seine absurde Ostkreuz-Geschichte anzuhören, von der sie natürlich kein Wort glaubt, nickt ihm freundlich zu und sagt dann zu ihren Kolleginnen: "Na ja, der Knastor, eben ein bisschen vernebelt im Kopf…"

Das Ostkreuzprojekt wurde übrigens aufgegeben. Offizieller Grund: Berlin ist mehr als pleite. Der Bahnhof erstrahlt wie eh und je im bekannten morbiden Charme und gilt inzwischen als heißer Tipp unter Touristen.

Josef Ludwig - Franziska

 

Josef Ludwig
Franziska

 

Also gingen die zwei entgegen der sinkenden Sonne,
die in Wolken sich tief, gewitterdrohend verhüllte,
aus dem Schleier bald hier, bald dort
mit glühenden Blicken
strahlend über das Feld die ahnungsvolle Beleuchtung.

Goethe, Hermann und Dorothea

Für meine Enkelkinder Fritzi und Bruni am verträumten Ostkreuz in Berlin-Friedrichshain

Die Alten wussten um eine Geschichte, wonach ein Junge unserer Familie eine schöne Prinzessin gefreit. Sie meinten, es wäre die lautere Wahrheit, und doch glaubte kaum jemand daran. Man hielt sie für ein Märchen und damit hatten die Leute wohl recht, denn sie hörten von seltener Liebe, die dem Ahnherrn zuteil geworden sein soll:

Zwischen Wiesen und Wald lag mein Dörflein bescheiden ausgebreitet, das weiße Kirchlein erhöht in der Mitten und am Rande geschmückt mit einem blinkenden See. Unweit lag das Herrenhaus in einem weiten Parke. Gewaltige Bäume schlossen es ein und hielten gleich Riesen Wache. Nur die Kuppel ragte über die Wipfel hinaus; sie strahlte golden im Sonnenlicht und schien des nachts eine Krone zu sein, besetzt mit blitzenden Sternen.

Das Land war fruchtbar, mit einem milden Klima gesegnet und konnte zwei Ernten geben. Es gehörte dem Herrn Baron, soweit das Auge nur reichte, mit allem was sich darauf befand, die Menschen eingeschlossen. Die Bauern aber drückte die Fron, sie grollten in ihren Hütten und manch einer ballte die Faust — so war hier wohl doch nicht Eden.

Eigentlich gehörte ich nicht hierher und war nur Gast, auch wenn ich mich zugehörig fühlte. Die Eltern hatten mich hierher geschickt und so lebte ich beim Gutsverwalter, der ein Bruder meiner Mutter war. "Sieh dich dort um", hatte Vater mir gesagt, "wenn du einmal der Bauer bist, wird dir die Reise nützen!"

***

Baron und Baronin waren bereits in den Jahren mit schon erwachsenen Kindern. Ein Mädchen aber war noch nachgekommen mit großem Abstand zu den Geschwistern. Das nun wollte unterhalten sein und brauchte dazu einen Spielgefährten. Die Herrin bestimmte mich dazu, wohl da ich nicht als Bauernjunge zählte und so zur Not als brauchbar galt. Ich wurde ernsthaft durch sie eingewiesen:

"Du darfst mit Franziska zusammen sein ('Welche Gnade', dachte ich mir, 'mit diesem Fratzen!'), doch denke daran, sie ist ein Fräulein und du hast sie zu achten mit allem Respekt. Du musst ihr dienen und willfährig sein, ganz gleich, was sie auch fordert. Nur pass gut auf, dass ihr nichts Böses geschieht, ich müsste dich hart dafür strafen!"

Nach dieser Belehrung wäre ich gerne weggelaufen; der Oheim aber machte Mut: "Ich weiß, das Fräulein ist verwöhnt, doch ist es auch ein liebes Kind, vielleicht könnt ihr sogar Freunde werden."

Die ersten Tage waren mir ein Greuel; ich fühlte mich zum Dienst gezwungen, das Hexlein aber zierte sich und ließ mich den Abstand zu ihr fühlen. Allmählich jedoch legte sich die Spannung, der Ausbund wurde nett und freundlich und meine Pflicht begann mir leidlich zu gefallen.

Zwischen Franziska und mir begann nun eine echte Kinderfreundschaft. Man ließ uns gewähren, die Erwachsenen mischten sich kaum ein und ich fühlte keine Standesschranken.

***

Mit der Kinderzeit gingen auch die Tage mit Franziska zu Ende. Ihre Eltern litten mich nicht mehr im Haus und ich musste das Mädchen meiden. Ich fühlte mich einsam, vom Glück weggestoßen und es fiel mir sehr schwer, ohne die Freundin zu sein. Oft trieb mich die Sehnsucht und ich lief Stunde um Stunde um Schloss und Park, ihr Bild zu erhaschen. Manchmal sah ich sie auch, sie winkte mir zu und wir unterhielten uns für Minuten. Doch die alte Vertrautheit schwand immer mehr, ein vornehmes Fräulein stand nun bei mir und ich begann mich vor ihr zu genieren. Langsam, ganz langsam verstand ich auch, welch tiefer Graben zwischen uns lag; sie weit oben und ich tief am Grunde.

Ich fühlte mich gedemütigt und verhöhnt, abgelegt wie ein Werkzeug, das nicht mehr zu gebrauchen ist. Der Groll nagte an mir und ich war böse auf die Welt und mich.

Wie von ungefähr nahm mich mein Oheim beiseite: "Du kennst doch den freundlichen älteren Herrn, der öfter Gast des Barons ist?"

"Den Runden", entfuhr es respektlos meinem verdrossenen Sinn.

"Ganz recht." Unbefangen erhielt ich Antwort, ganz ohne Belehrung. Ich fühlte Gefahr und fragte schnell: "Und was soll es mit ihm auf sich haben?"

"Du ahnst es sicher schon, doch will ich dir’s deutlich sagen: Dieser Herr ist noch unbeweibt und möchte sich zu seinem Geld auch noch mit Jugend schmücken — er hat um Franziska angehalten!"

Das Herz krampfte sich mir zusammen; mir war, als müsste ich im Innersten erlahmen. Der Ärger aber zwang aus mir heraus: "Möge sie glücklich werden mit dem Reichen!"

Der Oheim wurde nun bestimmt. Er fuhr mir ungehalten über meinen losen Mund und sagte, was ich in tiefster Seele selber dachte: "Franziska möchte wohl lieber alles tun, nur nicht den Alten nehmen, nur hat sie niemand, der ihr hilft. Ich hoffte deshalb sehr auf dich, du aber verstehst nur Bosheit zu verbreiten, anstatt ihr männlich beizustehen." Wie er mich doch verkannte!

Ich fand Franziska an ihrem Lieblingsplatz, demselben, wo wir früher spielten. Mich empfing ein dankbarer Augenstrahl von einem sehr blassen Mädchen: "Schön, dass du kommst", mochte das heißen.

Sie sprach offen zu mir, ganz ohne Schnörkel, als wäre noch immer Kinderzeit: "Früher sagte ich Onkel zu ihm, er schaukelte mich auf den Knien und ich hatte ihn gerne. Plötzlich aber verlangt mich der Verräter zur Frau, ohne nach Neigung und Willen zu fragen!"

Was ihre Eltern von der Sache hielten, wollte ich wissen und hätte am liebsten wie ein Hofhund geheult, wäre sie nur nicht so gefasst gewesen: "Sie meinen, meine Erregung werde sich legen, wenn ich erst selber Baronin wäre. Auch sähen sie keinen Grund zur Aufsässigkeit, denn vor mir läge eine gute Partie. Und im Vertrauen sagte mir Mutter noch, bei ihr wäre das alles sehr ähnlich gewesen. So sei nun einmal der Frauen Los und darein müsse man sich fügen."

Ich fragte weiter bang, ob sie denn auch so denke. Ihre Antwort kam stolz und entschlossen, hart und klar wie aus der Gewitterwand: "Ich lasse mich nicht zwingen…!" — und bittend, leise hinterher: "Willst du mir dabei helfen?"

Mich durchfuhr es glühendheiß, als hätte mich ihr Arm umfangen: "Ja!", sagte ich und war bereit, alles für sie zu wagen.

***

An einem dämmrigen Morgen lag über dem Park ein heller Schein und rotleuchtende zuckende Flammen darunter, beizender Qualm zog auf das Dorf zu. Ich rannte los, die Sorge trieb mich an und lief wohl vielmals schneller als die andern.

Es brannte bereits alles lichterloh, das Schloss, die Ställe und Scheunen, vom Winde kräftig angefacht. Gleich Zwergen mühten sich einige Menschlein, die Riesenfackel zu löschen.

Ich konnte Franziska nicht finden und jagte in Angst umher, jeden Winkel nach ihr abzusuchen. Dabei glaubte ich doch immer noch, sie wäre gewiss nach ihrer Art längst irgendwo beim Helfen. Ein Schreckensschrei, wie im Wahnsinn ausgestoßen, entriss mir meine Hoffnung: "Franziska ist noch im Schlosse!" Das Entsetzen fuhr mir in die Glieder, doch lähmte es nur für den Augenblick. Mein Herz ließ mich rasend werden und ich stürmte wie irr durch das Tor. Ich fand sie in ihrem Zimmer vor dem Bild Mariens zusammengesunken. Zu Tode erschrocken nahm ich sie auf, um durch Feuer und Rauch verzweifelt das Freie zu suchen. "Gott hilf!", flehte ich und wirklich gelang mir die Rückkehr. Hier fiel ich wohl nieder mit meiner Last, denn auch mir vergingen die Sinne.

***

Die Herrschaft wohnte jetzt im Altschloss, einem maroden unscheinbaren Bau. Ich war dort wieder zugelassen, durfte die Franziska sehen und musste mich nicht allzu untertänig zeigen — das war wohl jetzt auch nicht geboten.

Der Baron verstand mein Tun als Dienerpflicht, den Grundherrn treulich zu beschützen — als ob ich nicht auch einem armen Teufel beigestanden hätte!

Was ich mir wünschte? Die Antwort lag mir ganz vorne auf der Zunge, doch schluckte ich sie schnell ganz tief in mich hinein. Ich sagte: "Nichts." Auch war mir seine Frage peinlich, als ließe sich hier Handel treiben.

Bald kamen Gerüchte auf, der Baron wäre so gut wie am Bettelstab und besäße kaum mehr als ein Bauer. Das Feuer habe ihn ruiniert, alles Hab und Gut verschlungen und nur die Schuld nicht angerührt. Seine letzte Hoffnung läge bei Franziska, doch nun zögere der reiche Bräutigam, als reize nicht mehr die Umworbene.

***

Ich lebte wie im Taumel, der glückhaftigste Traum benahm mir den Sinn und ließ sich nicht unterdrücken — Franziska an meiner Seite! Als ich den Eltern darüber erzählte, verstanden sie das als gewagten Scherz. Der Gedanke allein lag ihnen fern und war für sie widersinnig; nur ein Kranker konnte ihn haben. Auch war mir die Braut schon ausersehen und alles längst abgesprochen: "Die heiratest du", sprach erbost die väterliche Gewalt, "sie arbeitet gut, hat ein hübsches Gesicht und ist nicht von den Ärmsten!" Ich aber war voller Entschlossenheit und leistete ihm Widerstand; es schien zum Krach zu kommen. Bei meiner Mutter hatte ich mehr Verständnis gefunden, doch schlug ihre Meinung nicht für mich aus: "Es ist schön und sehr lieb, das adlige Kind, und ich habe es gerne. Doch kommt es aus einer anderen Welt und passt nicht zu dir", entschied sie für mich, "es gehört zu den feinen Leuten!"

***

Es war Herbst und das Land in goldfarbenem Licht, nicht anders als unser Gemüt. Wir verlebten eine himmlische Zeit — abends gurrten die Tauben uns zu und nachts schlug die Nachtigall. Selbst die Sonne war uns zugetan, kaum ruhte sie noch, nur eine Rast legte sie ein auf rötlichen Wolken hinter dem Park. Immer mehr wuchsen wir in den Gedanken hinein, uns für immer anzugehören.

Mein Glück blieb nicht ganz ungetrübt. Vaters Warnung verfolgte mich; sie saß als Geist in meinem Nacken und flüsterte mir drohend zu: "Das Mädchen ist dir gut, weh dir, du führst es ins Verderben!"

"Franziska ist wohlbehütet aufgewachsen", sinnierte ich, "allem Schönen zugetan und kennt vom Leben nur die angenehme Seite. Was aber kann ich ihr schon bieten? Wie hatte Vater doch gesagt: 'Mutter schuftet den lieben langen Tag und schläft spätabends vor Erschöpfung ein. Meinst du, das sollte auch Franziskas Zukunft werden?'" Ich sah ihr schönes kluges Gesicht vor mir und ihre zarten feingliedrigen Hände. "Könnte sie wohl in meinem kleinen Kreise leben?", fragte ich mich, "kann ich ihr ebenbürtig sein, wenn auch auf meine Weise?"

Die Bedenken quälten mich und ließen sich nicht überwinden, wie Felsen lagen sie auf mir. "Na siehst du", unterbrach mich nun frohlockend meine Bürde, "so manches will besprochen sein. Sei jetzt kein Feigling, du musst ganz offen mit ihr reden!" Franziska aber hatte sich bereits entschieden und kannte auch kein Wanken mehr. Sie war daher enttäuscht von mir und fühlte sich verraten. Ein Zauderer sei ich, warf sie mir vor, und würde Zeit vertun mit Grübeln, wo festes Handeln nötig wäre!

***

Bald darauf verzog die Familie Franziskas, weit weg ins Mährische hinein, und auch Franziska musste mit ihr gehen. Mein Onkel aber merkte rasch an meinem sonderbaren Wesen, dass ich an schwerer Krankheit litt. "Geh zurück zu deinem Vater", riet er mir, "der will ins Ausgedinge gehen — bei mir gibt’s eh nichts mehr zu tun". Ich tat es auch, hoffte ich doch, meinem Kummer damit Zügel anzulegen.

Fürs erste war ich auch gefasst, denn Arbeit gab es übermäßig. Fast unmerklich aber kam die Sehnsucht über mich, wuchs und nahm mich gefangen Tag und Nacht, bis sie unbändig wurde. Ich fieberte auf Nachricht von ihr und bebte, wenn ein Fremder kam, er könnte mir ein Briefchen bringen. Alles versank um mich, ich nahm meine Umwelt nicht mehr wahr, nur an Franziska konnte ich noch denken.

Warum nur schrieb sie nicht — waren die Eltern übermächtig, konnte sie krank geworden sein, hatten Zweifel sie geängstigt; was alles mochte bloß geschehen sein? Schon sah ich nur endlose Pein vor mir und nie wiederkehrende Seligkeit. Düster und leer verrann die Zeit und einzig blieb mir das Hoffen.

An einem meiner dumpfen Tage kam ein Mann auf unseren Hof geritten und fragte nach dem jungen Herrn. Mein Vater, dem ein Scherz stets nahe lag, rief auch sogleich nach mir in diesem Sinne.

Ich war gerade im Schweinestall, den Tieren auszumisten. Meine Kleidung passte sich dem an und auch der Geruch als Drumherum. Der Reiter sah enttäuscht nach mir, als ob er unter meinem Anblick litte. Deshalb zog er wohl auch zögernd nur ein duftiges Papier aus seiner Satteltasche, wie es bisher in der Lausitz kaum je ein Mann erhalten hatte. Ich las mit Ungeduld. Ein jedes Wort umarmte mich; ich musste in das Haus entfliehen, um mich vor Vater und dem Boten nicht innerlich ganz auszuziehen:

Franziska lebte jetzt bei einer betagten reichen Dame, der sie Zeit und Grillen zu vertreiben hatte. Es ging ihr gut, jedoch… Wie schnell ich sie sogleich verstand. "Nun aber los", sprach ich trunken zu mir, "die Hochzeit vorbereiten!"

***

Die Eltern hatten sich in meine Wahl ergeben, wenn auch manches 'Aber' geblieben war. Vater sah im 'Fräulein' noch immer die Obrigkeit; Mutter dagegen machte Beschwerde, dass Franziska so gar nichts vom Haushalt verstand und keine Kuh zu melken verstand. Beide aber meinten: "Vielleicht lässt sich’s regeln, lade sie endlich nach Hause ein!"

***

Meine Eltern, gekleidet in ihren Sonntagsstaat, erwarteten uns an der Gartentür. Sie waren beide recht aufgeregt, dazu Vater noch steif und linkisch. Auch Franziska war nervös, doch ihr halfen Erziehung und Natürlichkeit und so machte sie Vater einen Knicks und küsste der Mutter die Hände.

Der Besuch wurde freundlich zu Tisch gebeten und saß bald unterm Marienbild, selbst wie eine Madonna anzusehen, und wo es sonst nach Kartoffeln roch, lag jetzt der Duft von Wiener Parfüm.

Das Gespräch begann schleppend und nur zögernd wurden die ersten Worte gewechselt. Bald aber verlor sich die Scheu; den Eltern gefiel die schöne ungewöhnliche Braut, die sich lieb und nett verhielt und ohne allen Dünkel. Auch Franziska war sehr angetan, sie fühle sich wohl aufgenommen, als würde sie zum Haus gehören.

Natürlich wurde dem Gast auch das Haus gezeigt, zusammen mit Stall und Scheuer. Mutter hatte Franziska untergehakt und sprach von ihrem langen Tag, der fast nicht enden wollte. Forschend blickte sie zu ihr hin, wie sie die Sache wohl aufnahm. Mir war unwohl bei dem Frauengespräch — sollte hier eine Prüfung geschehen, wollte Mutter warnen, vielleicht gar meine Liebe vergraulen?

***

Eine solche Braut hatte das Dorf noch nicht gesehen, eine Prinzessin saß am Festtagstisch im reichen Kleid der hochgestellten Dame, schwarzglänzendes Haar umrahmte ihr feines schmales Gesicht und wunderbar strahlten die Augen.

Aus dem herrschaftlichen Hause war kein Gast zur Feier erschienen — und wir hatten so sehr gehofft. Franziska schmerzte des Vaters Grausamkeit und sie litt darunter, gerade an diesem Tage. Eine tiefe Bitternis kam über sie und verzweifelt begann sie zu weinen. Gespräch und Geklapper verstummte und die Musik brach ab, selbst nach dem Glase wagte niemand zu greifen. Es wurde sehr still an der Tafel, als habe der Tod sich eingestellt. In unsere Starre aber brach Jubel ein; eine Lerche schwang sich auf über dem nahen Berg und ließ mit ihrem kleinen Lied auch große Sorgen schmelzen.

Franziska hatte sich gefasst, meine Mutter küsste sie herzlich und ich drückte ihr sanft die Hand. Sie verstand, ein neues Leben soll beginnen, da heißt es zuversichtlich sein. Auch fühlte sie wohl jetzt so recht zum ersten Mal: "Hier bin ich zu Hause, allezeit!"

***

Was Franziska einmal als Vergnügen galt, wurde nun zu harter ungewohnter Arbeit. So manches fiel ihr schwer, auch wenn sie alle Mühen wie selbstverständlich aufnahm und kein Opfer darin sah.

Sie war jetzt Bäuerin und bangte um die Ernte mit mir und jedes kranke Tier bereitete ihr Sorge. Doch las sie weiter ihre Bücher und auch ein Flügel stand im Haus, wenn das auch für die Nachbarn schon sehr ungewöhnlich war. Sie aber brauchte ihn, mit ihm drückte sie ihr Fühlen aus und spielte darauf ihr Leben: Leicht und heiter schweben die Töne heran, gleich einem frohen Gesange. Zarter und inniger wird ihr Lied, getragen dann und feierlich, wie eine hohe Weihe. Ein düsteres Geschehen mischt sich ein, wie letztes verzweiflungsvolles Winken, das in Ruhe übergeht, wenn auch mit herben Seiten.

Nur wenige Jahre nach unserer Heirat starben ihre Eltern, zu einer Versöhnung war es nicht gekommen. Die meinigen aber hatten sie sehr lieb gewonnen und schenkten ihr alle Herzenswärme. "Sie ist doch eine arme Waise", sagten sie, "und braucht ein wohlig Körbchen." Die Mutter war ihr sonderlich verbunden und nahm etwa die Stelle einer weisen Freundin ein. Meinen Vater wieder freute ihre überlegte entschlossene Art und auch die Schönheit sah er gerne. Er war stolz auf sie und es schmeichelte ihm wohl, sie nah bei sich zu haben; stets stellte er sie als Tochter vor, so oft das nur gehen wollte.

Für mich aber war sie der "Ewige Frühling", wie er in Stein vor dem Schloss ihres Vaters stand, doch voll drängenden Lebens, mit einem Lächeln um den Mund und den Blick nach vorn gerichtet.

***

Franziska quälte das Heimweh nach dem Ort, an dem sie aufgewachsen war und sich ihr Leben jäh gewendet hatte. Also machten wir uns auf die Reise, ihrem Sehnen nachzugeben.

Das einstmals stolze Schloss begann schon zu zerfallen — die morschen Mauern ragten nur noch kraftlos in den klaren Himmel, bereits von erstem Strauchwerk überwuchert. Die weißen Götter waren längst vom hohen Sims gefallen und lagen nun zerschlagen im Gebüsch und auf dem ungepflegten Rasen. Von seiner Kuppel aber war so ganz und gar nichts mehr geblieben, wie auch von all dem alten Glanze. Überall war Wildnis eingezogen, um mit verschwenderischer Fülle rasch ihre Herrschaft auszubreiten. Nur die alten Bäume standen noch, mit Ästen tief zur Erde, als würden sie Trauer tragen.

Rings um die Gruft wuchs üppig der Holunder und hüllte sie mit seinem Dufte ein. Unendlich viele kleine weiße Blüten strichen uns sanft Gesicht und Hände und neigten sich auch nieder zu den Steinen, die alten Namen zu liebkosen. Nichts Trennendes schien mehr zu sein. Franziska aber litt, der alte Schmerz kam wieder über sie und aufs Neue wurde ihr bewusst, was sie doch nie so ganz vergessen konnte: Das Band zu ihren Eltern war zerrissen, auch wenn sie selber daran halten wollte. Die Lebenden hatten sich abgewendet und so blieben nur die Toten. Ich fühlte ihre Not, auch wenn sie nicht nach Trost verlangte; sie trat mir dadurch nur noch näher. "Nie darfst du sie enttäuschen", nahm ich mir vor, "sie hat so vieles für dich aufgegeben!"

Von ihrem Lieblingsplatze her drang Lachen und fröhliches Geschrei, als wäre ein Fest im Gange. So war es auch; die Kinder aus dem Dorfe tobten sich hier aus und planschten in dem flachen Wasser, wie wir das einmal selber taten. Wir störten nicht ihr Spiel, doch nahmen wir zum Abschied ein wenig ihres Frohsinns in uns auf, ihn als ein gutes Zeichen mit uns wegzutragen. "Lass uns nach Hause fahren", bat Franziska, schon wieder heiterer gestimmt. "Die Kinder werden auf uns warten, ich freue mich auf sie."

Mir ging die Reise nicht mehr aus dem Sinn. Immer wieder blickte ich im Geist zurück, wie um ein letztes Lebewohl zu sagen. Ich sah kein Schloss mehr und nichts von seiner hohen Kuppel, nur öder Wald lag noch vor mir.

Das Schicksal von Franziskas Eltern hatte mich doch sehr getroffen, auch wenn ich zu ihnen ohne Bindung war. Ein unbestimmtes böses Ahnen ließ mich nicht mehr los, es würde sich an meinem Hause wiederholen. Die Zukunft schien mir plötzlich ungewiss und schuf heimliche Sorge.

Von alledem erzählte ich dem Vater und der Mutter. Sie wollten mir wohl meinen Kummer nehmen, denn Vater sagte munter-vorwurfsvoll: "Hast du sie denn nicht selber weggetragen", er meinte des Schlosses Krone und spielte auf Franziska an, "und schmückt sie nicht aufs Schönste jetzt dein Haus?" Ich aber dachte still bei mir: "Wie lieb doch deine Eltern sind!"

***

Es war Abend. Ganz allmählich senkte sich die Dämmerung über das Land und hieß es stille werden.

Wir saßen unterm Lindenbaum, aneinandergelehnt, und hielten uns an den Händen. Ein letztes Mal rief der Kuckuck vom Walde her, doch zählten wir nicht mehr die Jahre.

Leise hörte ich neben mir sagen: "Mein Vater wird mir verzeihen und stolz auf mich sein, drüben gelten wohl andere Werte…" — und zärtlich nach einer Weile: "Es war schön auf der Welt — mit dir…" Ich wollte etwas von seltsamen Gedanken erwidern, doch war sie bereits über die Schwelle getreten und mir vorausgegangen, wie so oft im Leben,

meine Franziska.

Kerstin Janke Rückkehr

Kerstin Janke
Rückkehr

 

Sanft streichelt der Nebel den grauen, steinigen Boden, umzingelt alles, was sich ihm in den Weg stellt, hüllt ein und verdeckt. Die Wartenden auf dem Bahnsteig fröstelt es und sie ziehen ihre Mützen tiefer in die gleichgültigen Gesichter. Nur wenige sind es, die so früh am Morgen schon unterwegs sein müssen, die ersten Knechte der Zivilisation am heutigen Tage. Sie kennen einander, weil sie sich nahezu täglich sehen, nie wechselt ein Wort die verschiedenen und doch so gleichen Welten. Auf eine seltsame Art und Weise scheint es heute unangenehmer, dass niemand spricht, drückend kommt es einer Verpflichtung gleich, seinen eigenen Gedanken zu folgen, denn der Nebel schafft Distanz. Man sieht den Anderen kaum und wird auch selbst nicht gesehen. Dichter, noch dichter solle der Nebel werden, wünsche ich mir, dann könnte ich hier sitzen bleiben, unbemerkt. Und ich müsste nichts sehen, nichts von meinem neuen, alten Leben, ich will es nicht sehen, ich traue mich nicht. Zwar bin ich angekommen, jedoch noch nicht da und frage mich, ob ein Zurückkommen überhaupt möglich ist.

Mehr als ein Jahr ist es her, dass ich Abschied nahm. Ich wollte frei sein, alles hinter mir lassen, ganz gleich ob ich es liebte oder hasste. Ich konnte das Grau der Stadt und die tägliche Routine nicht mehr ertragen, ich wollte es einfach nicht mehr erdulden. Es war nichts Schlimmes passiert, nicht ein einzelnes Ereignis verdiente es, als Auslöser benannt zu werden. Nein, die vielen kleinen Stiche des täglichen Einerlei seien als schuldig enttarnt, kaum spürbar in dem Moment, in dem sie die Seele treffen, hinterlassen sie doch Kratzer und Zweifel. Sollte das schon alles gewesen sein? Nur noch arbeiten, bis Rente und Alter ihre Fühler in die kleinen Kratzer bohren würden? Zu groß ist die Welt, um nicht wenigstens einen zweiten Zipfel davon mit eigenen Augen zu entdecken.

So reifte der Plan heran. Er hatte sich, ohne dass ich es wirklich bemerkte, als unkündbarer Untermieter in meinen Gedanken festgesetzt. Ein willkürlich festgelegtes Datum wurde zum Zentrum meines Tuns, zum Mittelpunkt aller organisatorischen Überlegungen und zum Nabel aller Sehnsüchte. Ich hatte ein Ziel und wusste, es zu erreichen kostete nur ein wenig Mut. Ein Jahr Pause in der australischen Sonne sollte es sein, zwölf Monate Zeit zum Leben, zum Nachdenken und zum Nichtstun.

So logisch und erstrebenswert mir mein Traum erschien, so unverständlich empfanden ihn Freunde und Familie. Ob ich mir des Risikos bewusst sei, welches eine Kündigung für Lebenslauf und Geldbörse mit sich brächte? Wie ich das Jahr finanzieren wolle, bereitet allen außer mir die größte Sorge. Niemand, auch ich nicht, machte sich Gedanken darüber, wie ich mich bei meiner Rückkehr fühlen würde.

Was ist schon ein Jahr im Irrgarten des Lebens eines Menschen? Zu wenig oft, um den richtigen Weg zu finden, lang genug jedoch, um einmal abzubiegen. Mir kommt es wie eine Ewigkeit vor. Ich bin gespannt und beängstigt zugleich, was wird sich alles verändert haben? Ist dieser Kiez noch mein Kiez?

Gestern Nachmittag fand die kleine, entdeckenswerte Nebenstraße des Lebens, die ich die letzten zwölf Monate entlang gereist war, ihr Ende in Berlin-Tegel. Keineswegs plötzlich oder überraschend biegt sie nun wieder auf die viel befahrene Hauptstraße ein. Seit Wochen mahnte die innere Stimme, rief Unruhe und Unsicherheit hervor. Und schließlich, als wäre es ein unabwendbares Schicksal, landete das Flugzeug, in dem ich die Heimreise angetreten, und führte jedes Ignorieren der Tatsachen ad absurdum.

So schön hatte ich mir das vor einem Jahr vorgestellt. Freunde würden am Flughafen warten, sich freuen mich wieder zu sehen, so wie auch ich, endlich vom Heimweh erlöst, mit neuer Kraft in mein altes Leben zurückkehren würde. Doch es kam anders, unerwartet, obwohl die Situation fast genau der entsprach, wie ich sie mir ausgemalt.

Viele Freunde standen aufgereiht, sie alle strahlten, hatten Begrüßungsplakate gemalt. Nur ich wusste nicht, was ich fühlen sollte. Statt eilig und von Vorfreude überwältigt aus dem Flieger zu stürzen, um mich der herzlichen Begrüßung der Wartenden zu ergeben, blieb ich bis zuletzt sitzen. Gedanken überschlugen sich. Warum fiel es mir so schwer, den Moment, der mir noch vor einem Jahr als krönender Endpunkt meines kleinen Ausfluges erschienen war, zuzulassen? Ich wünschte plötzlich, ich hätte niemandem den Zeitpunkt der Heimkehr kundgetan und bekäme jetzt die Zeit, in Ruhe anzukommen. Allein. In melancholischer Erinnerung dessen, was ich in der Fremde zurückgelassen. Auch ein kleines Stück meiner Seele hatte ich am anderen Ende der Welt verloren.

Doch da standen sie, alle die mir lieb und teuer, bereit, mich aufzufangen. Unsicher umarmte ich einen nach dem anderen, es hätten auch zehn Jahre vergangen sein können. Sätze wie 'Schön, dass Du wieder zu Hause bist', flogen zielsicher durch die von Geschäftigkeit durchtränkte Luft des Flughafens. Waren sie auch wie Balsam auf der Heimat suchenden Seele, vermochten sie doch nicht in mein tiefstes Innerstes vorzudringen. Zu Hause. War ich hier zu Hause? Ich hatte keine Wohnung, keinen Job und fühlte mich fremd. Würde ich mich nach einem Jahr in der Fremde auf die Suche nach der Nähe machen müssen, so wie ich mich vor zwölf Monaten aufmachte, die Ferne zu finden?

Noch am selben Abend fand eine Willkommensparty im Park für mich statt. Genauso hatte ich es mir erträumt, damals, als die Ferne noch fern und ich zu wissen glaubte, wo meine Heimat war. Es war kühl, wir tranken Glühwein. Ich saß inmitten meiner besten Freunde und sah doch von außen zu. Diese Party unterschied sich in Nichts von all den vielen anderen, die wir schon gemeinsam gefeiert hatten, wir redeten, lachten, tanzten. Dieselben Menschen waren dieselben Charaktere geblieben. Ich spürte, ich war diejenige, die sich und ihren Blick auf die Welt verändert hatte.

Die Gesprächsthemen drehten sich um alltägliche Dinge und erschienen mir zuweilen nicht sonderlich wichtig, belanglos gar, wohl waren mir meine eigenen Erlebnisse und Gedanken noch zu allgegenwärtig. Niemand schien ernstlich interessiert, in meine Welt eintauchen zu wollen. Ein kurzer, knapper Abriss über die Schönheit meiner Reise genügte völlig. Was soll man schon antworten auf die Frage 'War sicher klasse, ein Jahr in der Sonne, oder?' Ein 'Ja' als Antwort brachte nicht den Einstieg in detailreiche Schilderungen meines Abenteuers, nein, zumeist löste es Abhandlungen aus, warum mein Gegenüber gerade daran gehindert wurde, seinen Job zu kündigen. Ich war so sehr mit mir und meinem Erlebten beschäftigt, dass es mir schwer fiel, die Anderen in ihrer Selbstzentrierung zu akzeptieren. Genau wie sie glaubte ich, mein Leben sei das erlebenswerteste, meine Gedanken die denkenswertesten. Alles stellte ich in Frage und maßte mir gar Urteile über die verpassten Gelegenheiten anderer Leben an. Offenbar war ein Jahr genug, den 'normalen' Weg zu verlassen. Doch wie lange würde es dauern, die Hauptstraße wieder zu finden und sich einzureihen in den stetigen, nahezu gleichmäßigen Strom auf der Straße des Lebens? Wie viel Zeit wird es brauchen, sich anzupassen auf diesem Weg, auf dem alle geradeaus fahren und die farbenfroh ausgeschilderten Abfahrten mit den Abenteuer verheißenden Namen zwar lesen, aber dennoch rechts liegen lassen? Ich wusste plötzlich, dieses Jahr hatte mehr verändert, als ich hätte vorausahnen können. Würde es auch mehr sein, als mir lieb war?

Beinahe die ganze Nacht saßen wir im Park. Mond und Sterne hatten lange ihre strahlende Herrschaft übers Firmament verteidigt, doch in der Morgendämmerung zog Nebel auf. Langsam erst, vereinzelte Fetzen. Dann immer bestimmter, geradezu provozierend bei dem Versuch zu verschleiern und nicht minder besänftigend dabei, alle Ecken und Kanten zu glätten. Ich hatte das Angebot einer Freundin ausgeschlagen, bei ihr zu nächtigen. Es war ja schon früh genug, die S-Bahnen fuhren schon, ich wollte los. 'Wohin?' fragte mich niemand, nicht einmal ich selbst.

Bahnhof Ostkreuz, Endstation eines langen Ankommens. Nun sitze ich hier auf meiner Reisetasche, in der alles steckt, was ich noch ohne Einschränkungen meinen Besitz nennen kann, und betrachte die Menschen, die schweigend zur Arbeit eilen. Während der Nebel sie zu erdrücken scheint und ihre Sorgenfältchen tiefer zeichnet, legt er sich um mich wie ein Schutzmantel, bewahrt er mich vor allzu viel Weitsicht. Bis jetzt habe ich die Entscheidung aufgeschoben, wohin ich fahren soll. Drei Stationen im Norden warten meine Eltern auf meine Rückkehr, ganz selbstverständlich gehen sie davon aus, ich würde die nächsten Wochen bei ihnen wohnen. In entgegengesetzter Richtung steht ein Gästebett bei einer Freundin bereit. Die Bahn nach Osten würde mich zu der kleinen Pension bringen, in der ich vorsichtshalber ein Zimmer reserviert hatte. Aus Westen war ich gekommen, gestern. Ist derselbe Weg zurück nicht auch eine Option? Geradezu symbolisch bietet mir dieser Bahnhof alle Möglichkeiten, zu viele Möglichkeiten. Dies ist mehr als eine Autobahn-Abfahrt, die man unschlüssig betrachten und dann leichthin vorbeiziehen lassen kann. Dies hier ist eine Kreuzung, an der ich mich entscheiden muss.

Der Nebel schließlich ist es, der mir sagt, wie ich es anstellen soll. Wieder rattert die Anzeigetafel alle Zielbahnhöfe durch, die sie für die heran schnurrenden S-Bahnen bereithält. Scheinbar wahllos stoppt sie und gibt so die Richtung der Reise vor. Züge haben es einfach im Leben, ihnen bleibt keine Wahl. Doch heute Morgen verwehrt das graue Dickicht den Blick auf eben jene Anzeigentafel, heute wäre es leicht, dem Zufall das Feld zu überlassen. 'Lass dich nicht verwirren von vorgegeben Richtungen', scheint der Nebel mir zuzuraunen. 'Ignoriere sie und folge deinem Gefühl.' Ob es auch Zufall ist, dass der Zug nach Flughafen Schönefeld hier nicht hält? Wie viele Menschen wären vielleicht schon, anstatt wie immer zur Arbeit, in Richtung unbekannte Ferne aufgebrochen? Gedankenversunken steige ich einfach ein, ich bin nicht sicher, auf welchem Bahnsteig ich mich befinde, wohin die Bahn fährt, die ich wähle. Ich bin fest entschlossen, Zufall und Nebel über meinen Weg entscheiden zu lassen. Zurückbleiben bitte, die Türen schließen. Nach Norden geht es. Als der Zug das Ostkreuz hinter sich lässt scheint auch der Nebel an Undurchsichtigkeit zu verlieren. Ich weiß, ich werde aussteigen, noch drei Stationen. Kaum noch Nebel draußen. Ich werde ankommen. Irgendwann.

Rudolf Reinsch - Hinter Wolken und Im Nebel

Rudolf Reinsch
Hinter Wolken und im Nebel

 

Robert hat schon oft an dieser Straße gestanden, direkt vor der Bahnbrücke. Wenn er die Straße überqueren würde, wäre er im nächsten Augenblick schon im Fußgängertunnel unter der Brücke. Seine Mutter hatte ihm aber immer wieder in aller Strenge klargemacht: "Nur bis an die Straße, kein Stück weiter, hast du gehört?!" Er hatte es gehört. Jedes Mal, wenn er mit seinem Roller die Wohnung verließ, klang ihre strenge Stimme in seinen Ohren. Er kannte den Satz zur Genüge.

Bis hierher zu kommen, war einfach und völlig ungefährlich. Von der Haustür aus fuhr er nach rechts bis zur Hauptstraße. Mit einem Fuß stand er auf dem Roller und mit dem anderen Fuß musste er sich immer zehn Mal und dann noch ein paar Mal abstoßen. Er fuhr beim Bäcker rechts um die Ecke, vorbei am Schreibwarengeschäft, wo es das Hauchpapier gab, vorbei an der Einfahrt zur Brauerei, vorbei an der Einfahrt zum Glaswerk und schon war er an der Bahnbrücke. Hier war immer viel zu sehen. Besonders interessant und spannend war es, wenn Züge oben entlang fuhren. Entweder kamen sie von rechts und fuhren ein Stück weiter über die Spreebrücke oder sie kamen von dort und verschwanden dann donnernd auf dem Bahndamm.

Bei den S-Bahn-Zügen wusste Robert schon ganz genau, wie sich das Geräusch veränderte.

Bei den Zügen, die von rechts aus dem Bahnhof kamen, wurde das Heulen immer heller und lauter und das Rattern auf den Schienen immer schneller. Wenn sie aber von der anderen Seite, von der Spreebrücke kamen, war es genau umgekehrt, weil sie ja dann gleich in den Bahnhof einfuhren.

Noch viel interessanter war es, die Güterzüge zu beobachten. Die waren viel länger und polterten ganz anders über die Brücke hinweg. Die Lokomotiven hatten mächtig zu tun. Sie schnauften und stießen dicke Qualmwolken in die Luft. Wenn der Wind den Qualm nach unten in die Straße drückte, dann verschwand der Zug teilweise hinter diesem grauen Vorhang. Außerdem bekam Robert einen strengen, beißenden Geruch in die Nase.

Die Waggons, die von der Lokomotive gezogen wurden, waren oft ganz verschieden. Wenn es keine geschlossenen Wagen waren, konnte man Sandberge, Kohlen, große Kabelrollen oder sogar Autos auf ihnen erkennen.

Immer wenn Robert mit seiner Mutter durch den Fußgängertunnel gegangen war, hatte er sich vorgestellt, dass gleichzeitig solch ein Güterzug oben über die Brücke fährt. Aber erlebt hatte er es nie.

Nun stand er also wieder mit seinem Roller an dieser Straße vor der Brücke und wartete auf die nächsten Züge. Nur diesmal war alles ganz anders. Er war viel schneller bis hierher gekommen, denn er hatte einen neuen, viel besseren Roller. Mit dem kam er leichter und bequemer vorwärts. Er musste sich jetzt nicht mehr mit einem Fuß abstoßen, sondern konnte mit beiden Füßen auf dem Trittbrett vom Roller stehen bleiben. Er musste nur immer wieder die Stange am hinteren Rad nach unten treten und dann rollte er auf den mit Luft gefüllten Rädern schnell und gemütlich vorwärts. Das Lenken war zwar etwas schwieriger, weil er das Gleichgewicht halten musste, aber daran hatte er sich bald gewöhnt. Wenn er also nur einmal kräftig auf die Stange treten würde, dann wäre er schon auf der anderen Straßenseite und auch ganz schnell in dem Tunnel unter der Brücke. Die Straße war fast leer. Robert sah kein Auto und keinen Radfahrer. Es waren nur wenig Leute in seiner Nähe, aber niemand beachtete ihn. Ein S-Bahnzug ratterte über die Brücke. Das Rattern klang wie: "Mach es, Robert, mach es, Robert!" Dann war es auch schon passiert.

 

Als er auf der anderen Straßenseite gegen die Bordsteinkante fuhr, musste er den Roller kurz anheben, aber im nächsten Augenblick war er im Tunnel und unter der Brücke hindurch.

Nun war er in dieser anderen, lebhaften und für ihn verbotenen Welt. Doch so viel anders kam sie ihm gar nicht vor. Er legte noch eine kleine Strecke zurück und bog dann rechts in die große, breite Straße ein. Seine Mutter sagte immer Damm zu dieser Straße, aber noch irgend etwas vorneweg. Robert rollerte auf dem Gehweg zwischen den Leuten immer weiter. Links neben ihm fuhren Autos auf der Straße und rechts waren die Häuser mit den Geschäften und Hauseingängen. Robert fuhr und fuhr. Es kam keine Straße, die er hätte überqueren müssen und er dachte sich, dass er, wenn es nicht weitergeht, einfach wieder zurückfährt. So einfach wieder zurückfährt, wie er hergefahren war. Er hatte keine Angst und war sich seiner Sache ganz sicher. Plötzlich merkte er, dass neben ihm keine Häuser mehr waren und dass er über ein paar niedrige Zäune und Mauern hinweg im Hintergrund den Bahndamm erkennen konnte. Die Züge, die sich bisher hinter den Häusern versteckt hatten, waren wieder zu hören und zu sehen.

Robert rollerte noch ein Stück, bis die Straße nach rechts abbog, dort aber kam er nicht weiter.

Vor ihm war alles verbaut. "Hier kannst du nicht durch!", sagte ein Mann zu ihm. Er sagte es ganz freundlich, aber Robert bekam trotzdem einen gewaltigen Schreck. Plötzlich überkam ihn ein ungutes Gefühl und ihm wurde bewusst, dass er sich noch nie alleine so weit von zu Hause entfernt hatte. Alles, was ihm den Weg versperrte, kam ihm irgendwie schwarz oder zumindest dunkel vor. Der Mann vor ihm schüttete eine dunkle, dicke Masse aus einem Eimer in ein kleines Loch auf der Straße. Ein anderer Mann rutschte vor dem Loch auf den Knien umher und strich den Brei mit einer Kelle glatt. Hinter den Männern stand ein großer schwarzer Wagen mit einem riesigen Kessel, in dem die Masse gekocht wurde. Überall stiegen Qualmwolken hoch, von der Straße, aus dem Eimer und aus einer Öffnung in dem großen Kessel. Wenn Robert zwischen den Wolken, die direkt vor ihm hochstiegen, hindurch sah, konnte er in einiger Entfernung einen Bahnhofseingang mit einer großen Uhr und eine Brücke erkennen. Nun wurde ihm wegen seiner Rollerfahrt doch ein wenig unheimlich und er wollte so schnell es ging wieder nach Hause. Während er seinen Roller  in die entgegengesetzte Richtung drehte, konnte er zwischen den Wolken noch einen stämmigen hohen Turm sehen. Es kam Robert so vor, als wenn der Turm eine Pudelmütze aufhat, aber ohne Bommel, nur mit einer Spitze.

Robert rollerte schnell und ohne sich unterwegs aufzuhalten den Weg, den er gekommen war, wieder zurück. Als er durch den Fußgängertunnel hindurch war und die ihm verbotene Straße überquert hatte, war er richtig erleichtert. Noch ein paar Mal treten und er war wieder in "seiner" Straße mitten zwischen den anderen Kindern, die dort spielten.

Seine Mutter ahnte nichts von seinem abenteuerlichen Ausflug. Der Tag ging wie immer zu Ende, aber vor dem Einschlafen sah Robert noch einmal die Bilder, die sich ihm bei seiner Rollerfahrt eingeprägt hatten. Er sah besonders die Rauchwolken von der Lokomotive und von den Straßenarbeiten und wie hinter diesen Wolken die Güterzüge und die Umrisse von diesem großen Turm zum Vorschein kamen.

 

Es war 15 Jahre später. Robert war nach den Jahren, die die Familie evakuiert war, nun seit Ende des Krieges wieder in Berlin. Gleich als sie zurückkamen hatte seine Mutter eine Wohnung in der Nähe vom Bahnhof Ostkreuz bekommen. Dort hatten sie sich inzwischen eingelebt. Das Haus in Stralau, in dem sie vorher wohnten, hatte den Krieg nicht überstanden. Überhaupt war das Leben auf der Halbinsel nach Kriegsende noch nicht wieder richtig in Gang gekommen. Berlin war ja noch immer dabei, die größten Wunden zu heilen, die der Krieg der Stadt zugefügt hatte. Gleichzeitig war aber der Aufbau in vollem Gange. Das wirtschaftliche und kulturelle Leben pulsierte wieder.

Robert war seit einiger Zeit Mitglied in einem Rundfunkchor, der im Funkhaus in der Masurenallee seine Proben abhielt, Studioaufnahmen machte und bei Veranstaltungen auftrat.

Diese umfangreiche Freizeitbeschäftigung war mehrmals in der Woche mit S-Bahn-Fahrten auf dem Berliner Ring verbunden. Auf dem Ring zu fahren empfand Robert immer als eine tolle Sache. Mit jedem Meter, den man sich von einem Bahnhof entfernte, kam man ihm gleichzeitig um die gleiche Strecke wieder näher.

Im Chor hatte Robert seine Freundin kennen gelernt. Wenn sie beide am späten Abend nach der Probe mit der Bahn zurückfuhren, lag meistens ein langer, anstrengender Tag hinter ihnen, und es galt, gegen die Müdigkeit, die durch die Bahnfahrt noch verstärkt wurde, anzukämpfen. An einem Abend traf das besonders zu. Die Probe hatte mächtig geschlaucht und hinzu kam ein furchtbares Mistwetter. Eine dichte Wolkendecke erdrückte förmlich die ganze Stadt unter sich. Es fiel Nieselregen. Dichte Nebelschwaden dämpften alle Geräusche und ließen kaum eine ordentliche Sicht zu. Auf den Bahnhöfen siegte zwar die Beleuchtung, aber auf der freien Strecke konnte man beim Blick aus dem Fenster die Konturen der Häuser nur erahnen.

Roberts Freundin wohnte in der Nähe vom Bahnhof Schönhauser Allee. Ehrensache, dass er mit ausstieg und sie bis zu ihrem Haus begleitete. Bei dieser Unterbrechung der Fahrt war er natürlich putzmunter. Um so schneller überkam ihn aber der Schlaf, als er wieder in der Bahn saß. Irgend etwas hatte ihn dann geweckt. Wahrscheinlich waren es zugestiegene Fahrgäste, die sich laut unterhielten. Robert kam langsam zu sich und sah aus dem Fenster. Er erkannte schemenhaft die Silhouette eines Turmes. Eines Turmes? Nein, des Turmes! Des Wasserturmes am Bahnhof Ostkreuz. Augenblicklich war Robert hellwach. Der Zug hatte den Bahnhof  bereits verlassen." Na klar", dachte Robert, "Ausstieg verpasst!" Seine Gedanken kamen auf Touren. Zu sehen war kaum etwas. Er wusste aber, dass der Zug jetzt über die Brücke fuhr, die für ihn das Tor nach Stralau darstellte. Über die Brücke, unter der er als Kind immer stehen wollte, wenn oben gerade ein Güterzug hinwegdonnerte. Robert stierte aus dem Fenster in den dichten Nebel und sah in Gedanken, wie er unten mit seinem Tretroller an der Kynaststraße stand, wie er versuchte, hinter den Rauchschwaden der Lokomotive die Güterwagen zu erkennen und wie er dann auf seinem weiteren Weg durch den Straßenarbeiter mit dem Asphalteimer gestoppt wurde. Während diese Bilder in seinen Gedanken vorbeizogen, rollte der Zug über die Spreebrücke und in den Bahnhof Treptower Park. Robert stieg aus und fuhr mit dem Gegenzug zurück. Er verließ dann den Bahnhof Ostkreuz am Ausgang zum Markgrafendamm. Die Bahnhofsuhr war beleuchtet und zeigte eine halbe Stunde vor Mitternacht. Das Wetter war um keinen Deut besser geworden. Robert versuchte mit seinen Blicken den Nebel zu durchdringen. Er sah hinauf zur Brücke, zum Bahndamm und in die Richtung zum Wasserturm. Wenn er sich sehr anstrengte, dann schien es ihm, dass er die Umrisse des Turmes mit seinem "Pudelmützendach" erkennen könne.

Er verspürte keine Lust bei diesem dichten, Furcht einflößenden Nebel nach Hause zu laufen. Er wartete auf die Straßenbahn, um die zwei Stationen zu fahren. Nach ein paar Minuten hörte er sie, aus der Richtung von Klingenberg kommend, herankreischen. Zu sehen war sie nicht.

So, wie der ganze Bahnhof und alles andere in dieser Nacht, war auch die Straßenbahn im Nebel versteckt.

Günter Dittrich - Das Gleismännlein

Günter Dittrich
Das Gleismännlein

 

Die Weihnachtsfeiertage sind überstanden. Es ist Mittwoch, der 27. Dezember 2006. In meinem Kalender steht, dass an diesem Tag vor 57 Jahren die Gravitationstheorie des alten Einsteins veröffentlicht wurde. Ich bin mir sicher, dieses Werk war für Physiker interessant, aber für die so genannten normalen Menschen wie meine Frau und mich gab es 1949 andere Probleme. Wir waren noch Kinder. Unsere Eltern saßen oder standen mehr auf und in der Bahn, um bei Bauern im Umland von Berlin Bettwäsche oder Geschirr gegen Lebensmittel einzutauschen…

Warum fällt mir das jetzt ein? Liegt es am nebligen und windigen Vormittag? Scheinbar bewirkt das Warten auf die S-Bahn des oberen Bahnsteiges mit dem verschleierten Ausblick auf die Randgebiete von Berlin, so nannte mein Vater den Blick in Richtung Lichtenberg und Treptow, eine gewisse sentimentale Stimmung oder ich will einfach nicht den kalten Wind spüren… So sitze ich hier auf einer Bank, schaue auf die Fachschule am Ostkreuz. Denke kurz daran, dass ich 1990 mein Diplom dort abgelegt habe. Wir waren die letzten Studenten, die ein Ostdiplom erhielten. DDR-Bürger, die einen Hochschulabschluss besaßen, aber kein Diplom, durften bis zum Eintritt des 45. Geburtsjahres ihr Diplom nachholen. Dieses Gesetz wurde nach unserem Abschluss außer Kraft gesetzt…

Plötzlich spricht mich ein kleiner Mann an. Ich halte ihn für einen Liliputaner. Vielleicht hat der heute seinen freien Tag. Man sieht diese Menschen sonst nur im Zirkus, geht es mir durch den Kopf.

"He, du da, ja, du da auf der Bank! Oder sitzt noch einer neben dir?"

Ich schaue mich auf der Bank um. Aber neben mir sitzt keiner. Der nächste Fahrgast steht mindestens zehn Meter weiter vorn auf dem Bahnsteig. Schaut in Richtung Frankfurter Allee.

"Was wollen Sie von mir?", frage ich zurück. Füge etwas unwirsch hinzu: "Wann der nächste Zug kommt, weiß ich auch nicht und ob dieses Jahr noch Schnee fällt, auch nicht."

Der kleine Mann lässt sich nicht abschütteln durch meine Unhöflichkeit und beginnt erneut:

"Mensch, sei nicht sauer, dass ich dich in deinen Gedanken gestört habe, aber du solltest keine Gehirnsubstanz mehr an Diplome verschwenden oder DDR-Gesetze. Diese Zeit ist vorbei. Das war einmal. Genauso wie dieser alte Bahnhof bald Geschichte sein wird. Hier bleibt kein Stein auf dem anderen. Du wirst schon sehen. Hier kommt so ein Glaspalast hin und Fernzüge halten hier und…"

Ich unterbreche den Redefluss des Mannes: "Woher wussten Sie von meinem Diplom? Habe ich so laut gesprochen? Wer sind Sie überhaupt?"

Er macht eine Verbeugung. Lüftet kurz seinen Hut und plaudert weiter:

"Mein Name ist Gleis. Meine Verwandten nennen mich das Gleismännlein. Bitte nicht verwechseln mit dem Glasmännlein. Ihr, mein Herr, kennt doch das Märchen vom Hauff, 'Das kalte Herz'. Na sicher kennt Ihr das..., der Kohlenpeter, der Holländermichel und die Auswechslung des warmen Herzens gegen ein Steinherz. Na, dämmert's, junger Mann? Übrigens, wie heißt Ihr denn?"

Da steht er nun, der kleine Mann, der mich erst duzt, nun aber mit Sie anredet, und wartet auf eine Antwort. Soll ich ihm meinen richtigen Familiennamen sagen oder auch einen Künstlernamen? Lohnt sich überhaupt die Bekanntschaft zu machen, so auf diese Art auf dem Bahnsteig Ostkreuz? Wenn ich mir seine Kleidung ansehe, bestätigt sich meine Vermutung: Er gehört bestimmt zu einem Zirkus… In der Weihnachtszeit kommen immer die Zirkusleute nach Berlin… Sein blaues Glitzerkostüm, der spitze Silberhut und dieser goldene Kinderspaten.

Dieser Spaten irritiert mich. Er sieht wie ein normaler Spaten aus, nur kleiner, scheint aus Gold zu sein oder ist es bloß Messing? Aber die Schaufel verwandelt sich sekundenlang in einen Dreispitz oder habe ich Halluzinationen? Liegt wohl am Wetter oder an seinen Magiekünsten…

"Wissen Sie, Herr Gleis, es macht wenig Sinn, Ihnen meinen Namen zu sagen. Ich steige in den nächsten Zug und fahre ab. Sie gehen zu ihrem Zirkus. Wir sehen uns nie wieder. Also, bin ich der Meinung,  ich bleibe für Sie ein Nobody. So sagt man das jetzt auf Neudeutsch".

Er schaut mich an, schüttelt vorsichtig seinen Kopf damit der silberne Spitzhut nicht runterfällt, nimmt seinen Spaten von der Schulter und tupft ihn kurz auf den Bahnsteig. Ein wildes Rauschen setzt ein. Der Nebel lichtet sich. Ich kann kaum die Geräusche auseinander halten:

Es hört sich wie das Pfeifen und Stampfen von Dampflokomotiven an. Gleichzeitig die fast singenden Zischgeräusche der ICE-Züge, wieder schwere Güterwaggons, die scheinbar mit Kohlen beladen sind. Es poltert bei jedem Schienenstoß. Ich höre die Geräusche, aber ich sehe die Fahrzeuge nicht auf dem Bahnhof Ostkreuz. Sicherlich fahren sie unten lang, Richtung Alexanderplatz oder Strausberg… Plötzlich wieder Stille von einer Sekunde zur anderen…

Was ist hier los? Spukt es oder war es dieses Gleismännlein mit seinem Spaten?

"Gut, gut!", sage ich. "Ein sauberer Trick. Funktioniert bestimmt jeden Abend im Zirkus. Bin echt beeindruckt, Herr Gleis!"

Er schaut mich nur an, fragt mich, ob ich denn nichts begriffen hätte. Nicht aus einem Zirkus komme er, sondern von diesen Gleisen am Ostkreuz. Er sei der Bewacher dieser Gleise, der Anlagen, Signale, Bahnsteige, Treppen, Wartehäuschen. Kurzum alles, was zu einem großen Kreuzungsbahnhof gehört. Er wird dafür sorgen, dass dieser Bahnhof nicht verschandelt wird wie so viele in Berlin. Nur noch Glas, Beton und etwas Stahl. Dabei sind Bahnhöfe Visitenkarten der Städte. Eigentlich sogar des Landes…

Ich frage vorsichtig, um ihn nicht zu erzürnen, wie er den Umbau des Bahnhofes, der angrenzenden Straßen und Grundstücke verhindern will. Ob es nicht besser wäre dieses marode Bauwerk…

Aber das Wort marode lässt ihn fast ausrasten. Er stampft mit dem Fuß auf, tippt wieder mit dem Spaten auf den Bahnsteig. Meine Augen sehen den Bahnhof wie er bestimmt vor dem großen Krieg ausgesehen haben muss. Auch die Kleidung der Leute sieht so aus, als wären sie einem Modemagazin der zwanziger Jahre entstiegen…

"Na, ist das vielleicht marode Baukunst, mein Herr?", fragt mich das Gleismännlein. "Wenn schon bauen, dann so wie es ursprünglich mal aussah, vor den Bombenangriffen… Gut, gut, Fahrstühle für junge Mütter oder ältere gehbehinderte Menschen, doch keine Rolltreppen. Mehr Überdachung könnte auch nicht schaden. Aber ansonsten soll dieser Bahnhof ein technisches Denkmal werden." Er strahlt mich an.

"Eine Frage habe ich noch, Herr Gleis. Gibt es noch mehr Gleismännlein in Deutschland? Kümmern die sich um alle großen oder ehemaligen großen Bahnhöfe. Ich meine zum Beispiel den Lehrter Bahnhof, den Ostbahnhof, Bahnhof Gesundbrunnen oder die Ruine Bahnhof Warschauer Straße...?"

Er schaut mich an. Zischt durch seine weißen Zähne: "Bin ich allmächtig wie euer so genannter Gott. Nein, bin ich nicht. Bin einer der letzten Gleismänner. Es werden zu viele überfahren. Ich bin nur für diesen Bahnhof zuständig, für keinen anderen und das ist schwer genug. Du Schlaumeier kannst mir helfen, diesen Bahnhof zu erhalten. Hört nicht auf die Bahn-AG-Aktionäre, sondern auf euer Eisenbahnerherz oder zumindest Modelleisenbahnerherz. Wenn schon Rekonstruktion dann richtig: Herstellung des Urzustandes unter Einbeziehung moderner Technik, aber keine Verschandlung des Stadtbildes! Haben Sie mich verstanden, mein Herr?"

Zeitgleich mit seinen Worten setzt wieder ein Dröhnen ein, dass mir die Ohren weh tun und die Augen brennen, so dass ich sie schließen muss… Ich schlage die Augen wieder auf. Vor mir steht der S-Bahnzug in Richtung Schönhauser Allee… Menschen steigen aus… Ich begreife: Es war nur ein Traum auf einer Bank des Bahnhofs Ostkreuz. Trotzdem flüstere ich vor mich hin, bevor ich in den Zug einsteige: "He, Kleiner, ich werde mein Bestes geben, um den Schaden so gering wie möglich zu halten beim Umbau. Es ist nach der Wende schon zuviel vernichtet worden. Nicht nur Bahnhöfe!"

Der S-Bahn-Zug fährt langsam an. Eigentlich hätte ich die eine Station auch laufen können, aber dann gäbe es nicht die Begebenheit Gleismännlein… Wie war das heute mit der Gravitation im Kalender: Die Grundeigenschaft jeder Materie ist Masse… Der Bahnhof Ostkreuz ist doch solch eine Masse… Sie äußert sich als Trägheit oder Beharrungsvermögen gegen jede Veränderung ihres Zustandes. Ostkreuz hat lange widerstanden, teils freiwillig, teils unfreiwillig… Wenn nun die 'Masse Mensch' auf den Bahnhof Einfluss nimmt…? Wieder wollen die Augen sich schließen. Ich stehe schnell auf. Die S-Bahn hat die Station Frankfurter Allee erreicht. Muss sowieso raus. Luft schnappen… Und nachdenken.

Paul

 

Barbara Skop
Paul

 

Eigentlich ist es mir unerklärlich, wie es kommt, dass ich gerade heute an Paul denken muss, an den ich zwanzig Jahre nicht gedacht habe. Plötzlich spüre ich ihn fast körperlich, sehe sein angespanntes Gesicht vor mir, als hätte ich ihn soeben erst getroffen.

An all die fein gemachten und artigen Kinder mit ihren schönen Schulranzen, ordentlichen Hosen und gebügelten Gesichtern erinnere ich mich nicht mehr. Sie sind mir nur noch als eine abgeschlossene Masse von glücklichen Kindern in Erinnerung, denen ich während meiner Kindheit begegnete.

Aber an Paul, den alle verachteten, weil er immer fürchterlich stank und auch sonst nicht wie die anderen Kinder war, erinnere ich mich sehr gut.

Wir riefen den Sonderling lieber "Paule", weil "Paul" doch so ordentlich klang.

 

Ich sehe ihn noch hilflos und unbeholfen um sich schlagen, weil ihn wieder jemand aus der Klasse gehänselt hatte. Paul stierte oft teilnahmslos in der Gegend umher. Er war dann seltsam abwesend. Er ließ auch niemanden an sich heran. Die noch so kleinste Freundlichkeit schleuderte er mit blitzenden Augen einem ins Gesicht zurück. Ich glaube, er spürte die Almosen, die ihm da hingehalten wurden, und die wollte er nicht. Später aber blickten seine graublauen Augen so durchdringend, dass ich glaubte, einen Erwachsenen vor mir zu haben. Sie erschienen mir in einem eigenartigen Gegensatz zu seinen trotzigen und ständig feuchten Lippen zu sein. Die spröden, widerspenstigen Haare standen an irgendeiner Stelle immer zu Berge.

Paul saß zu jener Zeit auf der letzten Schulbank der rechten Reihe. Wir nannten sie die Wandreihe, die es neben der Fenster- und Mittelreihe gab, in der jeweils zwei Kinder nebeneinander saßen. Bei Paul wusste man nie, ob sein Platz links oder rechts war, denn er rutschte immer von einem Stuhl zum anderen, ununterbrochen hin und her.

Obwohl wir uns nicht umdrehen sollten, wandte ich meinen Kopf ab und zu heimlich nach hinten. Ich glaubte zu sehen, dass Paul immer noch sabbert. Paul sollte damals im Grunde schon in der vierten Klasse sein, aber die Schule, und alles andere auch, interessierte ihn nicht.

Als Paul zehn Jahre alt geworden war, empfand er das als etwas ganz Besonderes.

Er wollte es mit allem noch mal versuchen. Aber als er nach der letzten Schulstunde nach Hause lief, fand er seinen Vater wieder neben irgendwelchen übel riechenden Flaschen hockend und die Mutter mit roten Augen vor.

Er wollte es nicht mehr ertragen.

Er verstand einfach nicht, warum manche Kinder glücklich sein durften und manche wieder nicht. Wer durfte schon über das Glück eines anderen entscheiden?

Wer waren diese Bestimmer?

Wer waren diese Nichtbestimmer?

 

Paul hatte sich damals den alten Rucksack vom Hängeboden heruntergeholt und gerade nur das Nötigste eingepackt. Dieser uralte Rucksack gehörte einst seinem Großvater, der sehr viel herumgekommen war. Paul hatte diesen alten Mann nie zu Hause besucht; später wusste Paul, dass es dieses Zuhause nie gab. Immer hatte er ihn nur draußen angetroffen, auf einer verwitterten Bank in irgendeinem Park mit finsteren, armseligen und trunksüchtigen Gestalten, oder aber er traf ihn ab und zu auf einem schmuddeligen Bahnhof, wenn er mit unserer Klasse ins Schwimmbad fuhr.

Jetzt wollte er auch viel herumkommen, Abenteuer erleben und endlich froh sein. Niemals wieder würde er Prügel einstecken müssen, dachte er damals, nie wieder gehänselt werden, nie wieder Verachtung der Feingemachten ertragen müssen – nie wieder alleingelassen werden.

Weggehen und allein lassen wird nur noch er, hörte ich ihn etliche Male flüstern.

 

Es müssen in dieser Nacht endlose Stunden vergangen sein, in denen Paul über seinem voll gestopften Rucksack und seinen Träumen gewacht hatte. Bis weit nach Mitternacht brannte das Licht in seinem Zimmer.

Er kam an diesem Morgen danach noch einmal zur Schule.

Er schien uns sonderbar heiter.

Aber keiner wusste, dass Paul schon fort war.

 

Ich glaube, es waren zwei oder drei Tage vergangen, nach denen man den erstarrten, leblosen Jungenkörper fand. Es war wohl die eine Vollmondnacht – sie lag im dichten Nebel und war schneidend kalt – die ihn letztlich in die Knie zwang.

 

Heute, wenn ich an dem auf dem Weg zum Bahnhof stehenden Altkleidercontainer vorbeihaste, um die für mich letzte mögliche S-Bahn am Ostkreuz zu erreichen, der stechende Geruch meinen Blick anzieht und meine Augen die verwitterte Bank, auf der immer dieselbe, in Lumpen gehüllte Kreatur mit spröden, widerspenstigen Haaren herumlungert, abtasten, frage ich mich, was wohl aus Paul geworden wäre.

Silke Jochen - Eine Sache der Ehre?

Silke Jochen
Eine Sache der Ehre?

 

Ein lautes Klingeln riss mich unliebsam aus dem Schlaf. Als ich zum Hörer rübergriff, streifte ich einen Arm. So ein Mist! Den hatte ich ganz vergessen!

Wieder das aggressive Klingeln. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass es drei Uhr früh war. Der Kerl neben mir regte sich.

"Ja?"

"Hier Marko. Wir haben einen Toten. Komm zum Bahnhof Ostkreuz. Du wirst uns bestimmt nicht verfehlen!", und schon hatte Marko aufgelegt. Seine stakkatohaften Ansagen hatte ich nun schon ein paar Mal genossen und er nervte mich einfach. Er war der Neue bei uns und ich durfte ihn einarbeiten und zu allem Übel war er auch noch ein Macho wie er im Buche stand.

Als ich die Wohnung verließ, warf ich noch mal einen Blick auf den Typen in meinem Bett. Ich überlegte kurz, wie er hieß, aber ich hatte es schon wieder vergessen. Insgeheim hoffte ich nur, dass er weg sein würde, wenn ich wieder heim käme.

 

Am Bahnhof Ostkreuz wimmelte es von Polizeifahrzeugen, aber sonst waren wenige Passanten unterwegs und ich fand das Aufgebot übertrieben, schließlich war die Person schon tot, oder?

Der Bahnhof lag von einem seltsamen Nebel umhüllt, so wie in einem alten Sherlock-Holmes-Film, wenn die Kamera, kurz bevor der Mord passiert, durch die dunklen Straßen von London fährt. Einfach unheimlich! Mir lief ein Schauder über den Rücken. Als ich aufblickte, ragte der Wasserturm hoch vor mir auf, durch den dichten Nebel konnte man kaum die runde Kuppe erkennen.

"Na, an was erinnert er dich?" Marko war neben mich getreten und grinste blöd.

"Was haben wir?", fragte ich betont gelangweilt. Man musste seine ständigen anzüglichen Bemerkungen einfach ignorieren.

"Toter Asiate auf den Gleisen. Noch nicht identifiziert. Wurde von einem Zug überrollt. Keiner hat was gesehen."

"Haben wir das Videoband der Überwachungskamera?"

"Bin dabei. Die brauchen erst tausend Genehmigungen, um das Band rauszugeben."

"Steckt vielleicht die Zigarettenmafia dahinter?"

"Könnte alles sein."

Ich war todmüde und wollte in mein Bett. Ich guckte Marko von der Seite an. Er sah auch nicht gerade frisch aus, aber der Drei-Tage-Bart stand ihm irgendwie.

 

Erst der Leichenbeschauer konnte uns eine Stunde später die Brieftasche des Opfers geben und er bestätigte uns, dass der Tod durch Überrollen des Zuges eingetreten war.

"Sonst hat er keine Spuren durch Fremdeinwirkung gefunden", sinnierte Marko.

"Also vielleicht Selbstmord?" Ich schlürfte an meiner vierten Tasse Kaffee, aber irgendwie machte mich das auch nicht munterer.

"Ich habe das Videoband immer noch nicht. Aber unser Opfer ist Chinese, also nix mit Zigarettenmafia. Oder sind die auch irgendwie organisiert?"

"Keine Ahnung", antwortete ich gähnend.

"Ah, wohl etwas lustlos, Frau Kommissarin. Hä? Wohl heute Nacht wieder mal total ausgepowert, was?"

Am liebsten hätte ich ihm eine gescheuert.

"Hatte er Familie?" Ich versuchte es mit bohrenden Blicken.

"Laut Computer eine geschiedene Frau: Lung Hui Chen. Professorin an der Humboldt-Uni! Wow! Und zwei Kinder. Einen Sohn, siebzehn Jahre und eine sechsjährige Tochter."

"Dann statten wir ihnen mal einen Besuch ab."

 

Auf der Hinfahrt sagte keiner ein Wort. Es war für Marko von Anfang an klar, dass er als Mann unseres Teams den Dienstwagen fährt und ich ließ ihm diesbezüglich die Oberhand. Bisher hatte er mich auch immer brav nach Hause gefahren, fast wie ein Verehrer.

Als uns Frau Chen öffnete, hätte ich alles erwartet - den biederen Dutt einer Professorin oder eine dicke Brille vielleicht – aber nicht diese zierliche Kindfrau mit den langen seidigen schwarzen Haaren, die mich aufmerksam musterte.

"Rusche, Kripo Berlin. Wir sind hier wegen Ihres Mannes", stellte ich mich vor.

"Hat er wieder Schwierigkeiten?" Sie schien nicht überrascht und hatte ihre Mimik voll unter Kontrolle.

"Können wir vielleicht reinkommen?", fragte Marko, so direkt wie immer.

Sie führte uns in ein geschmackvoll eingerichtetes Wohnzimmer, in dem die Farben schwarz und weiß dominierten. Nur eine kleine rote Holzvitrine mit Glastüren, die an der Wand hing, fiel aus dem Rahmen. Sie war in goldener Farbe mit chinesischen Schriftzeichen bemalt.

Frau Chen zuckte nicht mit der Wimper, als wir ihr vom Ableben Ihres Ex-Ehemannes berichteten.

"Er war ein guter Mann, aber leider spielsüchtig. Damit hat er uns fast in den Ruin getrieben. Die ganze Familie", sagte sie sachlich.

"Spielsüchtig?"

"Ja, er hatte überall Schulden. Und da habe ich ihn verlassen."

Die Frau war auf jeden Fall konsequent, dachte ich.

"Wo arbeitet ihr Mann?"

"Er ist Pianist im Berliner Orchester. Fragen Sie seinen Chef. Er heißt Heinze. Falls er ihn noch nicht rausgeschmissen hat."

"Frau Chen, war Ihr Ex-Mann eventuell selbstmordgefährdet? Gab es da mal eine Andeutung?", fragte ich so sanft wie möglich, aber Frau Chen schien die Frage nicht zu stören.

"Chinesische Männer begehen keinen Selbstmord!", sagte sie resolut und ich merkte, wie sogar Marko bei ihren harten Worten etwas zusammenzuckte.

"Was ist übrigens dort in der kleinen roten Vitrine?" Ich deutete auf die Wand.

Jetzt zeigte Frau Chen das erste Mal eine Gefühlsregung: "Oh, das sind sehr alte Schriftrollen aus der Familie meines Mannes. Sie sind über 500 Jahre alt und sehr wertvoll. Sie werden vom Vater zum Sohn weitergegeben. Schon seit Generationen!" Sie nickte die ganze Zeit beim Erzählen und schien sehr stolz zu sein. Ihr Gesicht strahlte.

 

Im Auto erhielten wir einen Anruf, dass das Video von der Überwachungskamera angekommen sei, und wir fuhren sofort ins Büro. Auf dem Video war deutlich zu erkennen, wie jemand Herrn Chen nach einem Handgemenge auf die Schienen stieß.

"Was hat der da in der Hand?" Marko zeigte auf den Bildschirm.

"Irgendwas Längliches. Dieser Mistnebel! Man kann nicht mal erkennen, ob der andere ein Mann oder eine Frau ist." Ich kniff die Augen zusammen.

"Ist es ein Messer?"

"Sieht eher quadratisch aus?! Siehst du jetzt! Da! Da stößt er ihn auf die Schienen."

"Also doch Mord!", sagte Marko bestimmt.

"Aus dir wird ja doch noch ein richtiger Kommissar!" Ich grinste Marko an.

"Veralbern kann ich mich alleine", sagte der mit unbewegter Miene, er imitierte Frau Chen.

"Sie kommt eben aus einem anderen Kulturkreis, in dem man nicht so offen seine Gefühle zeigt", verteidigte ich sie.

"Sie hat Jahre mit dem Mann zusammengelebt und zeigt nicht die kleinste Regung darüber, dass er tot ist?", sagte Marko nachdenklich.

"Lass uns lieber mal zu seinem Chef fahren. Vielleicht gab es da Streit."

 

Herr Heinze lud uns in sein Büro ein. Er war sehr von der Nachricht erschüttert.

"Verstehen sie mich nicht falsch, aber ich wollte ihn mehr als einmal rausschmeißen. Er hat zweitausend Euro aus unserer Kasse gestohlen. Wenn er nur nicht ein so verdammt genialer Pianist wäre…" Er schüttelte traurig den Kopf.

"Kam es zum Streit?"

"Mit mir? Nein, nein. Er wollte alles zurückzahlen. Meinte, dass er bald zu sehr viel Geld käme, und ich habe ihm geglaubt. Aber gestern Abend hat er sich mit Luis gestritten. Er spielt auch hier im Orchester. Sie können ihn fragen."

Luis war ein Hüne von einem Mann und hatte ein ernstes Gesicht mit slawischen Gesichtszügen.

"Er war mein Freund", sagte er traurig, "aber er hat mir fast zehntausend Euro geschuldet. Gestern wollte er mich noch mal anpumpen. Meinte, es wäre das allerletzte Mal. Ha! Und am nächsten Tag wollte er mir alles zurückzahlen. Ich weiß nicht, wie er das machen wollte. Ich habe ihm jedenfalls nichts gegeben".

"Und um welche Uhrzeit war das genau?", fragte Marko.

"Nach der Probe. So gegen 22 Uhr."

"Und wo sind Sie danach hingegangen?", fragte Marko streng.

"Nach Hause! Wohin sonst? Sie glauben doch nicht etwa, dass ich…?"

Marko guckte mich vielsagend an: "Sie müssen eine Aussage bei uns im Revier machen. Überlegen sie sich schon mal ein Alibi", sagte Marko überheblich und ich hätte ihm am liebsten einen Tritt in den Hintern gegeben.

Luis guckte mich betroffen an.

"Kommen Sie vorbei, wenn sie es einrichten können." Ich reichte Luis meine Karte.

"Das war unnötig! Wir sind hier nicht im Fernsehen, verdammt!", schnauzte ich Marko im Auto an.

"Er war’s doch wohl! Wer sonst? Zehntausend Euro! Oder würdest du irgendeinem deiner Freunde so viel Geld leihen und es nie zurück verlangen?! Sie haben sich gestritten und ruck, zuck! hat der Riese ihn auf die Schienen befördert."

Mein Handy klingelte, mein Kollege war dran. Sie hatten Chens Handy gefunden. Es lag zwischen den Gleisen.

"Und wer hat ihn zuletzt angerufen?", fragte mich Marko im Auto.

"Seine Ex-Frau."

"Komisch, oder? Sie hat gar nichts davon erwähnt", meinte Marko.

"Sie wird schon ihren Grund haben und außerdem haben wir sie nicht gefragt."

"Vielleicht wollte er sich gestern von ihr Geld leihen?", überlegte er.

"Vielleicht ist er auch an einen Kredithai geraten und der ist sauer geworden und bei seiner Ex-Frau aufgetreten?", fügte ich hinzu.

"Ich denke ja weiterhin, dass es dieser Luis war. Der hatte jedenfalls ein Motiv", antwortete Marko.

"Wir fahren noch mal zu seiner Frau."

Auf der Fahrt dachte ich über das Video der Überwachungskamera nach und sah die miteinander rangelnden Personen vor meinem geistigen Auge: beide waren gleich groß gewesen.

"Wie groß war eigentlich dieser Chen?", fragte ich Marko, ich wusste, er schrieb sich alle Einzelheiten auf. So machten es alle Anfänger.

"Maximal 165 Zentimeter, ja, hier steht’s: 162 Zentimeter genau. Warum?"

 

Diesmal öffnete uns der Sohn der Chens, er hatte kurze schwarze Haare und ein interessantes Gesicht. Seine mandelförmigen Augen sahen verweint aus.

"Können wir deine Mutter sprechen?", fragte Marko und drängte in die Wohnung.

Die Tochter hüpfte fröhlich durch das Wohnzimmer, sie wusste wohl noch nicht Bescheid.

"Geh bitte in dein Zimmer, Ling. Wir müssen etwas besprechen", sagte die Mutter zu ihr und der Sohn blieb bei uns im Wohnzimmer.

"Wir haben erfahren, dass Sie gestern Nacht, kurz vor dem Unfall, Ihren Mann angerufen haben. Sagen Sie uns bitte, worum es in diesem Gespräch ging?", fragte ich.

Frau Chen wurde das erste Mal nervös und rang mit den Fingern.

"Er war gestern hier und hat rumgeschrien. Ich wollte ihm sagen, dass er nie wieder herkommen sollte." Frau Chen klang fast weinerlich, immer wieder guckte sie zu der Vitrine und dann zu ihrem Sohn.

"Sie hatten also einen Streit? Um was ging es da?", hakte Marko nach.

Ich musterte Frau Chens zierliche Figur und überlegte, ob sie stark genug wäre, um ihren Mann auf die Gleise zu stoßen. Aber richtige Wut setzt bekanntlich besondere Kräfte frei.

"Um nichts Besonderes. Nur Geld, wie immer", sagte sie betont lässig und machte eine wegwerfende Geste. Sie versuchte, wieder die Maske der Gleichgültigkeit aufzusetzen.

"Ging es um die Schriftrollen? Wollte Ihr Mann sie verkaufen?", fragte Marko und ich war erstaunt über seinen Scharfsinn.

"Ja, so war es! Er hat sie mitgenommen." Frau Chen schien jetzt wieder sehr entschlossen zu sein und ihr Blick war starr auf Marko gerichtet.

"Und da sind Sie ihm hinterher gerannt…?", insistierte Marko weiter.

"Ja! Und wir haben uns gestritten… auf dem Bahnhof… und da ist er rückwärts gegangen… und auf die Schienen gefallen. So war’s!" Sie nickte.

Sie atmete stoßweise, als stände sie kurz vor einem Infarkt, aber ihr Gesicht war vollkommen unbewegt. Ich bewunderte ihre Selbstbeherrschung.

"Nein! Nein!", rief plötzlich Ling und kam ins Zimmer. Sie musste hinter der Tür gelauscht haben. "Dan ist ihm hinterhergerannt. Nicht Mama, sondern Dan!" Sie zeigte auf ihren Bruder.

Frau Chen sprang auf: "Red nicht so einen Quatsch! Ich habe dir gesagt, du sollst in dein Zimmer gehen!"

Ling brach in Tränen aus: "Man darf doch nicht lügen, oder, Mami, oder?"

Dan war schweißgebadet und vibrierte am ganzen Körper.

"Also, du bist ihm hinterher gelaufen, und dann…?",  sagte ich leise zu Dan.

Dan jaulte laut auf und schlug sich mit den Händen gegen den Kopf: "Ich wollte es nicht!", brach es aus ihm heraus. "Er hat rumgebrüllt und irgendwas von einem neuen Anfang gefaselt. Aber ich wusste, er lügt! Er lügt immer! Und jetzt wollte er auch noch das Familienerbe verhökern! Das musste ich doch verhindern!"

Frau Chen stand auf und nahm ihren Sohn in die Arme. Sie streichelte ihm zärtlich über die Haare. Ihr Blick war voller Sorge und Mitgefühl.

"Sie müssen ihm glauben, es war nur ein Unfall. Nur ein böser Unfall."

 

Auf dem Heimweg fuhren wir noch mal an dem Turm am Ostkreuz vorbei. Ich starrte nach oben.

"Na, jetzt sieht man ihn ja wieder ganz deutlich stehen!", grinste Marko, der meinem Blick gefolgt war.

"Ach, halt den Mund!" Aber ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen.

Guido Woller - Ganz leis' steigt weißer Nebel auf

Guido Woller
Ganz leis' steigt weißer Nebel auf

 

Früh am Morgen warte ich
auf dem Bahnsteig. Das Gesicht
schlafgezeichnet, ausdrucksleer
mimt das Ostkreuz Großstadtflair.

Fröstelnd gähnend sitz' ich nun
und warte auf die Bahn,
die letzte ist mir vor der Nase
um Achte weggefahr’n.

Geduldig wartend dreh' ich mir
’ne Kippe auf den Knien
und gönne mir in dieser Form
mein Morgennikotin.

Kreuz und quer und rauf und runter,
eilen Menschen müd’ und munter,
steigen aus und steigen ein,
manche schauen mürrisch drein,
andere sind froh und lächeln,
Tauben gurren, Hunde hecheln.

Das Holz ist morsch, der Stahl zeigt Rost,
die Gleise schmücken sich mit Frost,
die Bahn fährt ein, ’ne Mutter drängelt
sich ins Abteil, ihr Kind das quengelt,
rot leuchtend das Signal ertönt
und gellend laut mein Ohr verwöhnt.
Die Türen schließen sich entspannt,
ein Opa kommt noch angerannt,
verpasst den Zug, verflucht die Welt,
sein Dackel Waldi glotzt und bellt.

’ne ganze Weile schau’ ich schon
mir an den strammen Wasserturm,
der lange schon das Ostkreuz schmückt
und Groß, Klein, Jung und Alt entzückt.
Und eh’ ich mich verseh’ und merk’
fährt ein mein Zug nach Lichtenberg.

So nimmt der Morgen seinen Lauf
ganz leis’ steigt weißer Nebel auf.

Roman Kieß - Freundschaftsdienst

 

Roman Kieß
Freundschaftsdienst

 

Fröstelnd zog ich den Kragen meiner Jacke enger. Obwohl ich an der Wand in dem kleinen Durchgang lehnte, krochen die Kälte und die Feuchtigkeit in meine Kleidung. Es war früh, zu früh, und der Nebel schien wie eine Wand aus Watte.

Innerlich verfluchte ich mich, diesem Treffpunkt zugestimmt zu haben. Doch jetzt war es zu spät, es gab kein Zurück mehr. Mein Herz fing an schneller zu schlagen, als Schritte über den Weg zwischen den Baracken knirschten. Doch dann tauchte ein fremdes Gesicht aus dem Nebel auf und ich lehnte mich wieder an die Wand, während der Fremde weiterging, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Er hatte grobe Arbeitsschuhe an und einen Blaumann. Darüber eine Cordjacke, ich wunderte mich, warum ihn nicht fror. Die Schiebermütze aus Kunstleder saß ihm akkurat ausgerichtet auf dem Kopf und sein Henkelmann mit dem Mittagsmahl klapperte leise an seiner Seite. Sein Gesicht sah müde und fahl aus. Hatte er mich absichtlich nicht angeschaut, um mich in Sicherheit zu wiegen? Gehörte er zu den Anderen? Unsinn. Sicherlich ein harmloser Passant auf dem Weg zur Arbeit.

Wieder hörte ich Schritte, diesmal aus der anderen Richtung, von der Neuen Bahnhofstraße her. Eine alte Frau mit Stock näherte sich. Erstaunlich schnell, fand ich. Ich fange an Gespenster zu sehen.

Von fern drang das Kreischen von Schienen herüber, die Ringbahn ratterte von Süden heran. Schon war die Alte an mir vorüber gestapft. Sie schenkte mir einen kurzen Seitenblick, allerdings schien sie nicht weiter an mir interessiert. Das beruhigte mich wieder etwas. Ein Blick auf die Zeiger meiner Uhr, noch eine Viertelstunde…

Ich war früher gekommen. Schlafen konnte ich seit Stunden nicht mehr. Dann dachte ich an das Treffen gestern mit Adam im Volkspark.

 

Adam Goldberg hatte ich vor drei Jahren kennen gelernt. Als Korrespondent durfte ich damals für den "Glasgow Herald" zu den Olympischen Sommerspielen nach Berlin reisen.

Adam war für die "Morgenpost" bei der Eröffnungsfeier im Olympiastadion. Wir haben uns auf Anhieb verstanden. Ein Glücksfall damals, denn die Sekretärin des "Herald" hatte meine Hotelbuchung in den Sand gesetzt und natürlich war in ganz Berlin während der Olympiade keine Unterkunft mehr zu finden. Er bot mir sein Studierzimmer an, das vor der Währungskrise die Kammer für das Dienstmädchen der Familie Goldberg gewesen war. Ihre Wohnung lag im Helenenhof.

Erneut drang schwach der Klang von Schritten an mein Ohr. Sie waren zielstrebig, mir wurde es flau im Magen. Aber es war kein Polizist, sondern nur ein weiterer unscheinbarer Passant, wohl ein Angestellter, denn er trug einen steifen Hut, einen Anzug und einen langen, wenngleich etwas schäbig wirkenden Mantel darüber. Sein Blick streifte mich von oben herab, aber ich war mir sicher, er hatte mich schon wieder vergessen, als er durch den Nebel in den Brückenbogen verschwand.

 

Keine Ahnung wie Adam erfahren hatte, dass ich in Berlin weilte. Beim Notar war eine Erbschaftsangelegenheit meiner Mutter zu besprechen. Die Reise war ihr zu weit und beschwerlich, so hatte ich mich anerboten. Gestern brachte ich den ganzen Papierkram hinter mich und bereits heute Mittag ging mein Schnellzug nach Hamburg, wo mich das Paketboot nach Glasgow erwartete.

 

Ein Blick auf die Uhr, noch zwölf Minuten. Sollte ich schon hoch gehen und auf dem Bahnsteig warten? Nein, das schien mir zu auffällig. Im Nebel sah ich trübe die Lichtkegel der Lampen auf dem Bahnsteig oben leuchten. Aber war es nicht viel verdächtiger allein hier unten herumzulungern?

 

Wieder dachte ich an die Olympiade. Wie prächtig hatte sich Hitler-Deutschland präsentiert, sowohl seinen Friedenswillen als auch die Völkerfreundschaft betont. Aber Adam hatte meinem gefälligen Deutschlandbild schnell ein paar gehörige Risse zugefügt. Am Abend in der Kneipe, nach dem Sieg des großen Jesse Owens im 100-Meter-Lauf, erzählte er mir, Hitler hätte getobt. Ich fand, auf der Ehrentribüne hatte der Reichskanzler das aber ganz sportlich aufgenommen. "John", sagte Adam zu mir, "du blickst nicht hinter die Kulissen dieses riesengroßen Schmierentheaters." Nach dem Anschluss Österreichs zwei Jahre darauf und dem Einmarsch ins Sudetenland, begann mir langsam zu schwanen, dass Adam damals wusste, wovon er sprach.

 

Ich griff mir die braune lederne Aktentasche und ging langsam zum Brückenbogen. Der Nebel fühlte sich feucht auf meinem Gesicht an. Mich bedrückten dieser Morgen und die Ungewissheit, was noch kommen würde.

Langsam nahm ich die Stufen zum Bahnsteig, so als ob ich alle Zeit der Welt hätte. Oben standen die beiden Männer, jeder für sich, doch von der alten Frau mit dem Stock war nichts mehr zu sehen.

 

Als ich vorgestern vom Mittagessen ins Hotel zurück kam, hielt mir der Portier einen Zettel unter die Nase. Es habe jemand für mich angerufen und gebeten, mich unter der angegebenen Nummer zu melden. In der Kabine rätselte ich, ob es der Notar sein könne, doch da wurde ich bereits mit Adam verbunden. "Wir müssen uns unbedingt treffen." Es kam mir komisch vor, dass er statt eines Cafés den Volkspark Friedrichshain wählte. "Morgen, um zwölf, am Parkeingang Landsberger Platz."

 

Jetzt war ich etwa in der Mitte des Bahnsteigs angelangt und stellte meine Tasche – wie verabredet – an der Mittelstrebe der Sitzbank ab. Keiner von den Wartenden hatte mich dabei beobachtet. Der Nebel lichtete sich, doch nur wenig. Es kamen zwei junge Männer die Treppe hoch und diskutierten über einen Boxkampf vom vergangenen Wochenende. Sie stellten sich an den Aufgang und als mich einer unvermittelt musterte, blieb mir fast das Herz stehen. Sollten die beiden den Fluchtweg abriegeln? War der Bahnsteig bereits umstellt? So gelassen wie möglich drehte ich mich nach rechts, zu meiner Erleichterung war aber an diesem Treppenaufgang kein Mensch zu sehen. Ich blickte erneut nach links, doch die beiden waren schon wieder in ihre Diskussion vertieft. Um unbeobachtet auf meine Armbanduhr schauen zu können, drehte ich den Wartenden den Rücken zu. Noch acht Minuten. Warum kam kein Mensch vom rechten Treppenaufgang? Konnte das Zufall sein? Fröstelnd trat ich von einem Bein auf das andere und versuchte unauffällig unter dem Rand meines Hutes die untenliegenden Bahnsteige zu mustern. Außer den trüben Lichtpunkten der Bahnsteiglampen war jedoch nichts durch den grauen Schleier zu erkennen.

 

Adam hatte mich rasch in Richtung Park gezogen. "Nur eine Sicherheitsmaßnahme, damit man uns nicht belauschen kann", meinte er beruhigend. Nun erst konnte ich meine Wiedersehensfreude äußern, aber Adam lächelte unsicher. "Es sind keine erfreulichen Umstände, muss ich gestehen. Kurz nach den Winterspielen konnte mein Chefredakteur die Tatsache, dass ich nach deutschem Recht ein so genannter "Halbjude" bin, nicht mehr vertuschen. Ich musste gehen."

Von diesen Rassegesetzen hatte ich gehört, aber da Politik nicht in mein Gebiet fiel, hatte ich mich nicht eingehender damit beschäftigt.

"Aber es geht mir um etwas anderes. John, ich muss dich um einen großen Gefallen bitten." "Alles was du willst, schließlich hast du mir damals aus der Patsche geholfen." "Oh, unterschätze das nicht. Ich habe mich entschlossen zu emigrieren. Vielleicht habe ich sogar schon zu lange gewartet. Einige meiner Freunde sind in den letzten Monaten spurlos verschwunden, sogar ganz bekannte Namen darunter! Vereinzelt mal eine Postkarte aus einem Lager und dann nichts mehr." Ich sah, dass es ihm ernst war. "Viel wichtiger ist jedoch, dass diese Schweinereien endlich im Ausland bekannt und verurteilt werden. Vielleicht bringt sie das wieder zur Besinnung. Hör zu…"

Adam gab mir die abgewetzte lederne Aktentasche und weihte mich in die Details ein. "Wir haben den Bahnhof Ostkreuz zur Übergabe ausgesucht. Du kennst ihn von damals und man hat – für den Fall des Falles – mehrere Fluchtwege offen." Es seien Fotos und Dokumente über mehrere politische Gefangenenlager, Adam nannte sie "Konzentrationslager", und noch ein Schreiben an den panamaischen Honorarkonsul in London. "Ohne ein gültiges Visum komme ich nicht aus Deutschland raus." Beim Abschied fielen wir uns in die Arme. "Du musst unbedingt nach Glasgow kommen, wenn du es geschafft hast. Ein Talent wie dich bringe ich bestimmt beim "Herald" unter."

Noch drei Minuten. Wieder kam jemand die linke Treppe hoch. Mir stockte der Atem. Das musste der Kurier sein. Er hatte genau die gleiche Ledertasche in der Hand. Seine graue Schiebermütze tief in die Stirn gezogen, trat er jetzt auf den Bahnsteig. Blaue abgewetzte Joppe und eine graue Hose schlabberten um seine Waden, die Arbeitsschuhe waren klobig, aber sauber. Jetzt erst konnte ich seine Augen erkennen. Er blickte völlig desinteressiert an mir vorbei. Ich stand knapp zwei Meter neben der Bank als er dort seine Ledertasche genau neben meiner abstellte. Keiner der anderen Anwesenden hatte darauf geachtet. Er zog eine Zigarette aus seiner Brusttasche und zündete sie mit einem Streichholz an, dessen Flamme er mit der hohlen Hand gegen den Wind schützte. Tief sog er den ersten Rauch ein und atmete ihn dann befreit mit zurückgelegtem Kopf nach oben aus. Das macht er gut, gibt sich völlig natürlich. Was hätte ich darum gegeben, jetzt eine rauchen zu können. Etwas woran man sich festhalten kann während dieser quälenden Warterei. Aber ich hatte nie geraucht. Und es war sicherlich nicht der geeignete Zeitpunkt damit anzufangen.

Von der Sonntagstraße drang gedämpft der Lärm von schnellen Schritten herauf. Es mussten mehrere Personen sein. Ich hielt den Atem an, gleich würden sie die Treppe hoch stürmen. Ich blickte nach rechts, da bewegte sich etwas im Dunkel des Treppenaufgangs. Wir waren eingekreist! Mir trat Schweiß auf die Stirn. Drüben am Ende des Bahnsteigs kommt man die Böschung hinab und dann in Richtung Rummelsburger See. Prüfend glitt mein Blick über den Bahnsteig. Könnte ich es unbehelligt bis dorthin schaffen?

Die Ringbahn fuhr ein, in der Aufregung hatte ich ihr Nahen gar nicht gehört. Drei Frauen und zwei Männer stürmten die linke Treppe hoch und wandten sich gleich den sich öffnenden Türen in den vorderen Wagen zu. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, wie der Kurier gelassen nach der Ledertasche griff, der "falschen", und dann mit einem schnellen Sprung gerade noch in die abfahrbereite Bahn stürzte.

Und plötzlich war alles still um mich herum. Langsam schaute ich mich um. Dann griff ich die Ledertasche und ging, mich mühsam beherrschend, langsamen Schrittes zur Treppe. Mein Herz pochte wie wild. Der Wind begann die Nebelwand aufzulösen und so trieben nun große Schwaden an mir vorüber. Schwer wog die Tasche in meiner Hand, aber das war wohl nur Einbildung. Gerne hätte ich reingeschaut, doch Adam hatte mich beschworen, die Tasche nicht vor dem Verlassen deutschen Bodens zu öffnen. Kurz innehaltend schaute ich noch mal hinter mich. Alles ruhig. Langsam ging ich die Treppe hinab und ärgerte mich über meine Aufregung. Ich trat unter dem Brückenbogen hervor, langsam löste sich die Anspannung, die Übergabe hatte geklappt. Mit dem Handrücken wischte ich den Schweiß von der Stirn. Die Tasche fest im Griff, schritt ich weiter. Wir hatten sie überlistet. Ein Lächeln zog sich über mein Gesicht.

Am Durchgang zur Sonntagstraße löste sich eine Gestalt aus dem Schatten der Mauer. Sie trug einen langen schwarzen Ledermantel und eine Nebelschwade hüllte ihre Füße ein als ich sie bemerkte. Mein Lächeln gefror...

Christa Block - Nebel-Gespenster

Christa Block
Nebel-Gespenster

 

Ein dichter Nebel lag über Berlin und vor allem in den weniger bebauten Ecken mit großen Freiflächen hielt er sich besonders dicht. Kein noch so kleines Lüftchen blies den Dunst weg.

Als ich morgens kurz nach sechs Uhr das Haus in der Corinthstraße verließ, konnte ich die andere Straßenseite nur erahnen. Den Markgrafendamm, der nur wenige Meter entfernt lag, sah ich schon gar nicht. Nur an einigen Stellen zeigte der Nebel einen gelbrötlichen Farbton, dort leuchtete eine Straßenlaterne. Licht spendete sie jedoch nicht. Und so ging ich, wie in Watte gehüllt, meinen Weg Richtung Bahnhof Ostkreuz. Kaum war ich um die Ecke gebogen, hatte ich den Eindruck, als flatterte etwas an mir vorbei. Ein Vogel? Nein, dafür war das Etwas zu groß. Aber was sollte es sonst gewesen sein? Nachdenklich ging ich weiter in den Dunst hinein. Die Sichtweite betrug nur wenige Meter und da! Wieder bewegte sich etwas Dunkles neben mir. Ich lief jetzt etwas schneller, war schon an der Ecke Persiusstraße und hörte vor mir Stimmen. Zwei Menschen, die sich unterhielten und ich hielt mich dicht hinter ihnen, blieb in ihrem Schutz. Doch wovor sollten sie mich eigentlich schützen? War ich in Gefahr, nur weil an mir Schatten vorbei flogen? Quatsch, ich spinne! Die S-Bahn-Geräusche kamen näher, also musste ich dicht vor dem Bahnhofseingang sein. Plötzlich hörte ich von vorn einen Aufschrei: "Huch, was war denn das? Hast du das gesehen?" Ich war jetzt näher, denn die beiden schienen stehen geblieben zu sein. "Da flatterte etwas Großes, das musst du doch auch bemerkt haben!" "Hier war nichts, du träumst. Los, komm weiter, sonst kommen wir zu spät." Ich hatte aufgeschlossen und zu dritt betraten wir die kleine Bahnhofshalle. Der Nebel dämpfte sogar hier unsere Schritte und es war, als schlichen wir uns heimlich irgendwo hinein.

Der Bahnsteig war voller als sonst, die meisten Autofahrer hatten wohl doch ihren fahrbaren Untersatz stehen gelassen und nutzten die öffentlichen Verkehrsmittel. Der Zug Richtung Zentrum ließ auf sich warten; wahrscheinlich hatten die Fahrer Probleme mit der Sicht auf die Signale und fuhren im Schritt. Heute wird es wohl viele Menschen geben, die zu spät ihr Ziel erreichten. Dicht neben mir standen drei Frauen und plötzlich fielen die Worte "Flattern" und "Gespenst!". "Ja, ganz sicher und immer dicht neben mir. Einmal habe ich ganz deutlich etwas Schwarzes gesehen, wie große Flügel oder so!" Die Frau war ganz aufgeregt und die zwei anderen sahen sie ungläubig an. Ich konnte mich nicht zurückhalten und mischte mich ein. "Ich habe das auch gesehen, mehrmals auf meinem Weg über den Markgrafendamm. Völlig geräuschlos und flatternd." Nun, zu viert rätselten wir herum, auch noch im Zug, der überfüllt ankam und in den wir uns hineindrängeln mussten und dicht beieinander standen. "Also, eine Fledermaus kann es nicht gewesen sein, dafür war es viel zu groß und fliegen die denn um diese Zeit und vor allem hier am Ostkreuz umher?"

Die drei Damen stiegen aus und ich blieb mit meinen Gedanken allein zurück. Was kann noch mit so großen Flügeln in der Luft sein? Tauben? Nein, davon gibt es zwar viel zu viele, aber Tauben waren es nicht. Krähen? Groß und schwarz sind sie ja und die scheinen sich in der Großstadt sehr wohl zu fühlen und vermehren sich zusehends. Aber so geräuschlos ohne Krächzen und Flügelschlagen sind die nicht unterwegs. Übrigens auch viel zu klein. Nein, es muss etwas anderes gewesen sein, was mir da im Nebel, und nicht nur mir, begegnet ist.

 

Der Tag verging schnell und die Arbeit ließ mich alles Flatternde vergessen. Noch hatte sich der Nebel nicht gelichtet und die Wetterberichte in meinem kleinen Radio überschlugen sich nur so mit ihren Prognosen – das Wetter bleibt vorerst wie es ist. Kein Wind in Sicht, der einmal kräftig in den Dunst blasen und alles Neblige verschwinden ließe. Also auch der Heimweg im Nebel! Und mit flatternden Gespenstern! Denn kaum war ich auf dem Markgrafendamm, waren sie wieder da! Diesmal, vielleicht weil ich schon darauf wartete, sah ich mehr. Schwarz und wesentlich größer als der größte Vogel, den ich kannte, schwebte es an mir vorbei. Ich wollte zugreifen, doch ich griff ins Leere. Ich beschleunigte meine Schritte. War ich denn ganz allein hier auf der Straße? Ging denn keine Menschenseele in die gleiche Richtung. Nichts war zu hören, Stille um mich herum. Bis ich an meinem Haus war, trat das Phänomen noch zweimal auf. Verängstigt und hastig betrat ich den dunklen Hausflur, tastete nach dem Lichtschalter, fand ihn nicht gleich, obwohl ich ihn seit Jahr und Tag  blind mit der Hand finde und atmete auf, als die Flurbeleuchtung anging. Ich sah mich um. Hatte ich etwa befürchtet, das Gespenst wäre mit mir ins Haus geschlüpft? Natürlich war ich allein! Erst in meinen vier Wänden kam ich zur Ruhe. Doch beim Abendessen, beim Fernsehen und im Bett musste ich immer wieder an diese rätselhafte Erscheinung denken.

 

Beim Morgenkaffe dann die ersten Nachrichten im Radio und während sie in der Regel mehr Geräuschkulisse als Informationen waren, horchte ich mit einem Mal auf. Von Gespenstern, Flatterwesen war die Rede und vom Gelände um den Bahnhof Ostkreuz! Nicht nur ich hatte sie gesehen, auch andere und sie hatten sich an den Rundfunk gewandt, suchten Aufklärung, wollten die Polizei einschalten. Andere den Naturschutz, im Fall es sich um seltene Tiere handelt, die nur im Nebel und nur hier auftauchen. Es gab die unmöglichsten Spekulationen und damit wurde das alles, was mir vorher ein wenig unheimlich erschien, schon wieder lächerlich. Aber nur hier in meiner Wohnung. Unten auf der Straße im dichten Nebel ging es mir schon wieder ganz anders und gar nicht gut. Denn schon war das Flattern da und ich war froh, dass an der Ecke eine Frau stand und mich bat, mit ihr gemeinsam den Weg zu nehmen. Sie hatte bisher nur im Radio von der eigenartigen Schattenfigur gehört und ich konnte nun aus eigener Erfahrung berichten und schon wurde auch sie Zeuge einer schwarzen Gestalt, die an uns vorbei flog. Ängstlich klammerte sie sich an meinen Arm und wir hasteten gemeinsam durch die Nebelschwaden.

Am Bahnhofskiosk kaufte ich mir meine Tageszeitung und schon auf der ersten Seite fand ich eine Notiz über das "Gespenst vom Ostkreuz". Man hatte also auch gleich einen Namen gefunden, der in dicken Buchstaben als Überschrift diente. Der Artikel kam etwas ironisch daher, wofür ich volles Verständnis hatte, der Schreiber hatte ja nur vom Gespenst gehört und es nie selbst erlebt. Ich sollte eigentlich in der Zeitung anrufen und ihn für meinen abendlichen Heimweg anheuern. Dann kann er am eigenen Leibe erfahren, wie es ist, wenn etwas Schwarzes, Großes und Undefinierbares an einem vorbei fliegt.

Der Zeitungsschreiber war sich auch sicher, dass das Geheimnis sich von selbst lüften würde, nämlich dann, wenn der Nebel vorbei wäre. Dann könne man nämlich alles Fliegende, Flatternde usw. erkennen und werde überrascht sein über das, was einem so unheimlich vorkam.

 

Mein Heimweg und auch der nächste Morgen unterschieden sich nicht von den vorangegangen Nebeltagen. Undurchsichtiger Dunst, Ostkreuz ohne Wasserturm, gedämpfte Geräusche, fremde Menschen, die sich zu Gruppen zusammengefunden hatten und gemeinsam auf den Weg machten und flatternde Gespenster. Und der Zeitungsschreiber muss meinen stillen Vorwurf empfangen haben, denn er hatte sich tatsächlich auf den Weg gemacht und gleiche Erlebnisse einfangen können wie ich. Auch die Polizei soll unterwegs gewesen sein und so berichtete man stolz, ja es gibt dieses Flatterwesen, aber es ist bisher keine Person zu Schaden gekommen, außer dass bei dem einen oder andere Passanten der Blutdruck etwas angestiegen war. Also handelte es sich um ein friedliches Gespenst! Doch niemand konnte es bisher einfangen und so blieb es eben geheimnisvoll. Und dann noch eine wichtige Meldung: Im Laufe des Tages sollte endlich Wind aufkommen und die Wetterfrösche versprechen ein Verschwinden des dichten Nebels. Ich atmete auf und mit mir noch etliche S-Bahn-Fahrer, die wie ich die Köpfe in die Zeitung gesteckt hatten.

 

Am Abend hatte ich Glück, da ich wegen dringender Einkäufe einen anderen Weg nahm und am Morgen schien die Sonne durch mein Fenster und schon schmeckte mir mein Frühstück besser. Beschwingt machte ich mich auf den Weg, hüpfte fröhlich die Treppenstufen hinunter, öffnete weit die Haustür und übersah endlich wieder einmal die Straße. Von Gespenstern keine Spur! Die hatten sich also mit dem Nebel davon gemacht. Doch das war ein Irrtum. Kaum war ich in den Markgrafendamm eingebogen, flatterten sie mir entgegen. Mehrere als Batman oder Fledermaus oder als sonstwas verkleidete Kinder sprangen herum. Ihre schwarzen, langen Umhänge bewegten sich wie die Flügel riesiger Vögel auf und ab und sie umkreisten mich nicht mehr lautlos, sondern laut kichernd. Eigentlich war mir das Lachen vergangen, doch ich ließ mich anstecken und wurde schnell genau so fröhlich wie sie. Nicht alle Fußgänger reagierten so wie ich, andere schimpften die Kinder kräftig aus, weil sie die Ruhe und den Frieden am Ostkreuz gestört hatten und man ein paar Tage nur ängstlich durch die Straßen gelaufen war.

Noch hatte die Zeitung die Erscheinungen im Markgrafendamm nicht aufgeklärt, noch rätselte man herum und versprach, sich mit Experten zu konsultieren. Wir, die wir es besser wussten, lachten uns heimlich eins ins Fäustchen und waren gespannt auf die nächsten Nachrichten. Doch am nächsten Tag gab es zeitungsmäßig kein weiteres Rätselraten. Ein pfiffiger Passant hatte die Kinder in ihren Kostümen fotografiert und nun prangte auf der ersten Seite der Zeitung ein großes Bild der "Gespenster vom Ostkreuz"!

Franziska Dreke - Auf der Katzenbank

Franziska Dreke
Auf der Katzenbank

 

Berlin rumpelte am Fenster vorbei. Häuser, Straßen, Bäume und immer wieder Bahnhöfe. Draußen wurde es langsam dunkel und die Scheiben der Bahn warfen die Gesichter der Leute zurück wie ein Spiegel. Wie aufgereiht saßen sie nebeneinander, die Gesichter müde und teilnahmslos, manche hatten die Augen geschlossen, andere steckten die Nase in ein Buch, andere in eine Zeitung. Janosch starrte auf sein eigenes Spiegelbild in der Scheibe gegenüber und der Vergleich mit den anderen Gestalten rechts und links von ihm fiel nicht unbedingt positiv aus. Für Mitte vierzig sah er schon ganz schön hinüber aus. In diesem Licht wirkten seine Augenringe noch schwärzer, seine Haare noch dünner und an den Mundwinkeln hatten sich tiefe Falten eingegraben. Wann waren die denn aufgetaucht? Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern. Er wusste nur, dass der Typ, der ihn dort anschaute und den er gut genug aus dem Badezimmerspiegel kannte, wahrscheinlich nicht wirklich einen zweiten Blick wert war. Er musste es sich eingestehen: er war ein totaler Langweiler, ein Durchschnittstyp mit einem Durchschnittsgesicht, einem Durchschnittshaarschnitt, einer Durchschnittskrankenversicherung, einem Durchschnittsjob – einem Durchschnittsleben eben. Er hatte keine aufregenden Hobbys – um genau zu sein, hatte er eigentlich überhaupt keine Hobbys – keine ausgefallenen Lebensgewohnheiten, nicht einmal irgendwelche dunklen Geheimnisse. Er bezahlte immer pünktlich seine Telefonrechnung. Er trank nie übermäßig, rauchte nicht und hatte auch sonst keine Laster. Jeden Tag ging er ohne nach links und rechts zu gucken denselben Weg von der Bahn nach Hause, er hatte in den letzten fünf Jahren nicht ein einziges Mal verschlafen und er wechselte täglich seine Unterhose.

"Ich bin ein echter Spießer", dachte Janosch resigniert und rückte automatisch ein Stück ab, als sich eine junge Frau schwungvoll auf den leeren Platz neben ihm klemmte. So viele Leute machten ihn nervös, besonders, wenn sie weiblich und jung waren. Früher war er da nicht so schüchtern gewesen, aber jetzt war das anders. Janosch fühlte sich unbehaglich in dem engen Abteil und er kam sich eingekeilt vor und bedrängt. Der Mann gegenüber blätterte geräuschvoll seine Zeitung um, eine dicke Frau einige Meter weiter redete gestikulierend auf das unter ihr rechtes Ohr geklemmte Handy ein und die junge Frau neben ihm wühlte in ihrer Handtasche. Janosch rückte noch etwas weiter ab und stieß dabei gegen ein Knie auf der anderen Seite neben ihm, das einem lesenden Mädchen gehörte. Er entschuldigte sich murmelnd, als es aus seinem Buch zu ihm aufsah. Schaudernd bemerkte er Piercings in ihrer Nase und an ihren Augenbrauen und einen wirren Schopf pinkfarbener Haarsträhnen, die unter seiner Kapuze hervorsahen. "Warum müssen sich die jungen Leute heutzutage nur so verschandeln?", dachte Janosch, aber sie hatte wenigstens ein nettes Lächeln und ihre Augen waren auf irgendeine Art ungewöhnlich. "Macht nix", sagte sie und vertiefte sich wieder in ihr Buch.

Janosch war dennoch erleichtert, als er endlich aussteigen konnte und verließ fast fluchtartig die Bahn. Sofort ließ das Engegefühl in seinem Hals nach und aufseufzend ließ er schließlich die Tür seiner Wohnung hinter sich ins Schloss fallen. Diese Leute würden ihn noch einmal verrückt machen! Im Kühlschrank fand er noch ein letztes kaltes Bier, etwas Brot und eine halbe Dose Thunfisch. Außerdem gab es noch einige schrumpelige Tomaten, die von seinem letzten Vorhaben, sich gesünder zu ernähren, übrig geblieben waren. Er machte den Kühlschrank zu, weil er keine Lust hatte, sie wegzuwerfen und wusste, dass sie wahrscheinlich in einer Woche immer noch dort liegen würden. Früher hatte er sich mehr um so etwas gekümmert, aber jetzt hatte er irgendwie keine Kraft mehr dafür. Janosch aß im Wohnzimmer auf dem Sofa, während er sich durch das Fernsehprogramm schaltete. Früher, mit Sofie, wäre es ihm nie eingefallen, vor dem Fernseher zu essen, aber jetzt…

Er zappte sich durch mehrere Seifenopern und Quizshows, Nachrichten und einen Film, von dem er wusste, dass er ihn schon mehrmals gesehen hatte, aber von dem ihm der Titel trotzdem nicht einfallen wollte, und blieb bei einer Diskussionsrunde hängen. Janosch trank sein Bier in kleinen Schlucken und erst nach einiger Zeit wurde ihm klar, dass die Runde im Fernsehen über ein Buch diskutierte. "Das ist ein Skandal!", sagte ein Mann, "noch nie wurde so etwas so unverblümt ausgedrückt". Eine kleine nervös wirkende Frau antwortete ihm, dass sie besonders interessant fände, dass sich das Buch so stark von seinen Vorläufern unterscheide und dass … Janoschs Gehirn streikte. Er fand Bücher grauenhaft. Er konnte nicht verstehen, warum Leute sich so viel Zeit für eine doch offenbar so sinnlose Sache wie das Lesen nahmen. Er hatte keine Geduld dafür. Ja, früher, wo Sofie noch da war, da hatte er auch noch hin und wieder gelesen und ganz früher, als er Kind war, da hatte er sogar recht häufig gelesen, viele Abenteuerromane, Indianerbücher, aber irgendwann hatte er kaum noch Zeit gehabt und lieber fern gesehen. Deutlich erinnerte er sich an die Bücherstapel auf Sofies Nachttisch, auf dem Wohnzimmertisch, im Bad  — ständig war man darüber gestolpert — sie hatte die Bücher förmlich verschlungen, aber als sie auszog, hatte sie alle mitgenommen und die paar, die er später noch in einer Kiste gefunden hatte, hatte er wutentbrannt in den Müll geworfen. Bücher und Sofie, das gehörte zusammen und das Kapitel war nun endgültig abgehakt.

Um zehn schaltete Janosch den Fernseher aus. Er ging ins Bad, putzte sich die Zähne und zog sein Hemd aus. Er griff in die Hosentaschen, um sie auszuleeren und die Hose gleich in die Maschine zu werfen, und hielt plötzlich einen säuberlich zusammengefalteten rosa Zettel in der Hand. Janosch runzelte die Stirn und starrte den Zettel an. Er konnte sich nicht daran erinnern, ihn schon einmal gesehen zu haben. Langsam faltete er ihn auseinander. Die Nachricht darauf war kurz und äußerst merkwürdig:

Sonntag bei Nebel am Ostkreuz.
07.30 Uhr auf der Katzenbank.

*

Am nächsten Morgen ging Janosch ziemlich müde zur Arbeit. Er hatte sogar fast verschlafen. Die halbe Nacht hatte er wach gelegen und über den merkwürdigen Zettel  nachgedacht. Er konnte sich nicht erklären, wie er in seine Hosentasche geraten war und vor allem, was die seltsame Botschaft darauf zu bedeuten hatte. Irgendwie hatte er an diesem Morgen das Gefühl, als würde sich etwas in seinem Leben bewegen, aber er war sich nicht sicher, ob diese neue Komponente ihm wirklich gefiel. Janosch war ein Gewohnheitsmensch, seine Gewohnheiten und täglichen Routinen waren sein stabiler Rahmen, in dem er sich bewegte, und jede Kleinigkeit, vor allem wenn sie so unvorhergesehen passierte wie diese, warf ihn durcheinander wie ein zu kleines Boot bei starkem Wellengang.

Die Woche verlief jedoch ereignislos. Janosch ging wie immer zur Arbeit und danach den gewohnten Weg nach Hause und es tauchten keine weiteren Zettel auf. Am Samstagabend, als Janosch von einer Partie Pool mit einem alten Freund nach Hause kam und den Fernseher anschaltete, kündigte der Wetterbericht gerade für den nächsten Tag eine Nebelbank an, die sich bis zum Nachmittag hartnäckig halten würde. In Janoschs Kopf summte es plötzlich.

SonntagbeiNebelamOstkreuz SonntagbeiNebelamOstkreuz SonntagbeiNebelamOstkreuz. Janosch schaltete den Fernseher aus und ging ins Bett. Dort fasste er einen Entschluss.

*

Um diese Zeit war der Bahnhof wie ausgestorben. Wo sich wochentags Menschenmengen die alten ausgetretenen Stufen hinauf- und hinunterwälzten, herrschte am Sonntagmorgen gähnende Leere. Es sah fast wie auf einem Geisterbahnhof aus und bei diesem Nebel, durch den man kaum fünf Meter weit sehen konnte, wirkte alles noch trostloser. Janosch kam es vor, als hallten seine Schritte auf dem Pflaster, aber das konnte auch Einbildung sein. Etwas weiter entfernt fuhr ratternd eine Bahn vorbei, dann wurde es wieder still. Fröstelnd zog sich Janosch die Jacke um die Schultern. Er musste verrückt sein, um diese Zeit hierher zu kommen. Was wollte er überhaupt hier? Und alles nur wegen dieses albernen Zettels! Was sollte der überhaupt bedeuten?  Wer hatte ihn herbestellt? "Vielleicht war das alles nur ein Scherz, um dich aus dem Bett zu locken, und du Trottel bist natürlich prompt darauf reingefallen", dachte Janosch ärgerlich. Vermutlich beobachtete ihn jetzt gerade jemand, wie er hier albern zu einer unmöglichen Zeit herumlief und lachte sich halbtot darüber. Jetzt war er schon den ganzen Bahnhof abgelaufen und keine Spur von jemandem, den er kannte. Janosch dachte gerade darüber nach, dass es ihm gar nicht ähnlich sah, solchen Aufforderungen einfach zu folgen, als er sie sah: eine kleine schwarze Katze, die die Treppe zum oberen Bahnsteig hinauflief. Janosch heftete sich an ihre Fersen. "Jetzt verfolge ich schon Katzen", dachte er missmutig. Die Katze lief die Treppe bis zum Ende hinauf und bog dann um einen Getränkeautomaten, der vor Janosch aus dem Nebel auftauchte, dann sprang sie auf eine Bank und rollte sich auf ihr zusammen, als würde sie jeden Tag dort liegen. Janosch ließ sich vorsichtig neben ihr nieder. 7.30 auf der Katzenbank. Nun ja -  eine Katze hatte er und eine Bank war auch da. Seine Uhr zeigte 7.35 Uhr, aber nichts passierte. Janosch streichelte ein wenig die Katze und kam sich reichlich dumm vor. Durch den Nebel drang das Rumpeln der Züge und Schritte klangen aus der Ferne herüber und verklangen wieder. Die Geräusche hörten sich bei Nebel so anders an, irgendwie seltsam gedämpft. Komisch, dass ihm das nie vorher aufgefallen war. Janosch schloss die Augen und streichelte dabei weiter die Katze, die leise zu schnurren begann. Ihr Fell war ganz weich und sehr warm. Als er die Augen wieder öffnete, erschrak Janosch. Neben ihm am anderen Ende der Bank saß jemand. Er hatte nicht gehört, dass überhaupt jemand  gekommen war. Janosch starrte die Person an. Sie trug einen schwarzen Pulli und fleckige Jeans. Die Kapuze des Pullis war über den Kopf gezogen und die Person hatte ein Buch auf dem Schoß und las darin, als würde sie schon ewig dort sitzen. Janosch war sich sicher, dass er die Augen nur wenige Sekunden geschlossen hatte. Er räusperte sich und sein Gegenüber blickte von seinem Buch auf. Einige pinkfarbene Haarsträhnen blitzten unter der Kapuze hervor und Janosch erkannte erstaunt das Mädchen mit den Piercings, das in der Bahn neben ihm gesessen hatte.

"Da sind Sie ja!", stellte sie mit einem kurzen Blick auf ihn fest, als wäre er und nicht sie eben erst aufgetaucht. Janosch war sprachlos.

"Ja", stotterte er hilflos und begann in seiner Tasche zu kramen bis er den rosa Zettel gefunden hatte. Er faltete ihn auseinander und reichte ihn dem Mädchen, das ihn stirnrunzelnd las. "Katzenbank, aha", sagte es, "nun, da sind Sie ja offenbar richtig, die Katze ist ja schon da." Janosch war nun vollends verwirrt. "Aber ich hab keine Ahnung, wer mich herbestellt hat und warum." "Tja, das frage ich mich auch jeden Tag", meinte das Mädchen und sah ihn nachdenklich mit seinen unergründlichen dunklen Augen an. "Kaugummi?", wechselte es dann plötzlich abrupt das Thema.

"Wie?" Janosch zuckte verwirrt zurück und sah dann, dass sie ihm ein abgenutzt aussehendes Kaugummi hinhielt. Er bejahte zerstreut. Was machte es schon, dass er nie Kaugummi aß? Achselzuckend riss sie das Kaugummi in zwei Hälften und gab ihm eine davon. Die andere wickelte sie aus und steckte sie genüsslich in den Mund. Das Kaugummi sah rosa aus wie der Zettel, den Janosch in seiner Hosentasche gefunden hatte und schmeckte nach künstlichem Erdbeeraroma. Für eine Weile saßen sie beide in Gedanken versunken kauend auf der Bank und starrten stumm in den Nebel. "Tolles Wetter, oder?", unterbrach das Mädchen schließlich wieder die Stille.

"Was?", fuhr Janosch auf, "das hier? Diese Suppe?"

"Ich find’s toll. Denken Sie nicht auch, dass der Nebel so was Erhabenes hat? Irgendwie beruhigend. Er macht alles still und die Welt irgendwie kleiner und übersichtlicher. Man sieht nicht mehr so viel von der Hektik, sondern nur noch einen Teil davon." Janosch dachte darüber nach. Da war schon was dran. "Außerdem ist alles so geheimnisvoll", fuhr sie fort, "schauen Sie nur – dort drüben." Ihre Hand wies nach rechts und Janosch sah verschwommen eine große dunkle Silhouette.

"Das ist der alte Wasserturm. Sieht er nicht schaurig aus?" Sie flüsterte nun fast. "Ich stelle mir bei Nebel immer vor, ich wäre in einem fremden Land und müsste nun die Umgebung um mich herum erstmal erkunden. Das ist fast dasselbe Gefühl." Janosch dachte, dass das Mädchen neben ihm wirklich sehr seltsam war. "Ich komme mir auch ohne Nebel immer vor, als wäre ich in einem fremden Land", rutschte es ihm heraus und erschrocken hielt er inne. Aber das Mädchen schien seine Bemerkung überhaupt nicht komisch zu finden. Es nickte und streichelte geistesabwesend die Katze, die immer noch zusammengerollt zwischen ihnen lag. Sein Blick folgte ihrer Hand und fiel dabei auf das Buch, das sie neben sich auf die Bank gelegt hatte.

"Was liest du denn da?" Er fragte sich, ob man Mädchen in dem Alter überhaupt noch duzen sollte und wie alt es denn wohl sein mochte.

"Interessiert Sie das wirklich?", fragte es. "Ich glaube, Sie lesen nicht wirklich viel, wahrscheinlich sogar nie." In seinem Inneren fragte eine aufgebrachte Stimme, woher sie das wohl wissen konnte und wie sie dazu käme, ihm so etwas einfach zu unterstellen, doch er widersprach nicht. Stattdessen nickte er nur. "Meine Frau hat viel gelesen", stellte er fest.

"Hat", sagte sie trocken und warf ihm einen ihrer unergründlichen Blicke zu. Ihre Augen waren so dunkel, dass sich darin nichts erkennen ließ, und Janosch musste an zwei dunkle Brunnen denken. "Bevor sie ausgezogen ist, um mit einem anderen Mann zusammenzuleben." Janosch fragte sich, wieso er ihr das alles erzählte. Schließlich kannte er sie gar nicht und das ging sie gar nichts an. "Mmhh", machte sie nur.

"Alles geht nur um den Tiger", stellte sie plötzlich fest. Tiger? Janosch runzelte die Stirn bis er begriff, dass sie von dem Buch redete. "Ja, der Tiger, mit dem Pi auf dem Rettungsboot gefangen ist auf offener See und der ist natürlich hungrig und stellen Sie sich mal vor, Sie sind mit einem Tiger auf einem Boot zusammen, da würden Sie auch nicht so ruhig bleiben!"

"Nein, würde ich wahrscheinlich nicht", dachte Janosch und dann dachte er noch, dass das Ganze total verrückt war, dass er hier saß mit diesem seltsamen Mädchen auf einer Bank, die Katzenbank hieß, und über Tiger in Rettungsbooten redete.

"Ich könnte Ihnen was vorlesen", schlug das Mädchen unvermittelt vor und pustete sich eine pinkfarbene Haarsträhne aus dem Gesicht. "Oder haben Sie es eilig?" Janosch schüttelt mechanisch den Kopf. Nein, eilig hatte er es nicht. Und verrückter konnte es ja kaum noch werden. Das Mädchen holte tief Luft und spuckte das Kaugummi aus. Es flog weit über die Bahnsteigkante und verschwand lautlos im Nebel. Dann schlug es das Buch auf und begann zu lesen.

Nach den ersten Worten schloss Janosch die Augen. Er hatte lange nichts gelesen und vorgelesen hatte ihm noch viel länger niemand mehr. Er hätte nicht gedacht, dass es ihm gefallen könnte, aber genau das tat es. Das Mädchen hatte eine sehr gute Stimme, eine Stimme, die prädestiniert dafür schien, jemandem vorzulesen. Sie war tief und melodisch und schwang in sanften Bewegungen auf und ab, auf und ab, auf und ab, wie Wellen es taten. Kleine Wellen und dann große mit Schaumkämmen. Die Luft schmeckte plötzlich salzig und Janosch driftete davon. Wasser schlug ins Boot, manchmal, wenn die Wellen zu hoch waren, und endlose Weiten umgaben ihn. Das kleine Boot tanzte verloren auf den Wellen und Gischt spritzte auf Janoschs nackte Arme. Janosch sah hinunter auf seine Hände, er hielt ein kleines Ruder -  was sollte er damit in diesem riesigen Ozean ausrichten - und dann drehte er den Kopf noch ein wenig und erstarrte. Vor ihm, vielleicht zwei Meter entfernt im Bug des Bootes, saß ein großer bengalischer Tiger und schaute ihn aus funkelnden gelben Augen an.

Als Janosch die Augen aufschlug, klappte das Mädchen das Buch zu.

"Der Nebel hat sich gelichtet", sagte es und Janosch blickte sich um und sah den Wasserturm dunkel und deutlich unweit entfernt. Eben fuhr zischend ein Zug ein. "Tschüs!", rief das Mädchen und sprang in die Bahn, deren Türen sich hinter ihm schlossen. Janosch blickte sich um. Die Katze war verschwunden, einige Leute eilten vorbei. Der Tiger war auch verschwunden, hinter den Bäumen, und Janosch lebte, genau wie Pi. Er konnte es nicht fassen. Als er auf die Uhr sah, war es fast fünf. Sein Magen knurrte und ächzend stand er auf. Auf dem Heimweg fiel ihm ein, dass er das Mädchen nicht einmal nach seinem Namen gefragt hatte.

*

Am Mittwoch entschied sich Janosch, die Tomaten im Kühlschrank zu entsorgen. Dann ging er zum Supermarkt. Auf dem Weg dorthin ging er langsamer als sonst. Er hing seinen Gedanken nach und blieb am Ende vor einem Schaufenster stehen. Erst nach einer Weile bemerkte er, dass es das Schaufenster eines Bücherladens war. Im Supermarkt kaufte er Zutaten für einen Salat – und warf nach einigem Zögern am Ende auch allen anderen fragwürdigen Inhalt aus seinen Küchenschränken in den Müll. Auf dem Weg zurück ins Haus öffnete Janosch seinen Briefkasten. Er fand darin die Telefonrechnung, einen Werbeprospekt und einen kleinen rosa Zettel.

Samstag, 07.30 Uhr auf der Katzenbank.
Natürlich bei Nebel.

Der Inhalt überraschte ihn nicht mehr. Es wunderte ihn nur, wie sie herausgefunden hatte, wo er wohnte.

*

"Wie heißt du eigentlich?", wollte Janosch wissen. Er goss sich aus der Thermoskanne Tee ein. Diesmal war er vorausschauender gewesen, er hatte auch Brote gemacht, vorsichtshalber für zwei. Er wollte nicht noch einmal halb verhungert nach Hause kommen. Es war Samstag und der Nebel war grau und undurchdringlich, so dass Janosch sich auf der Bank fühlte wie auf einer in Watte verpackten Insel. "Zoe", sagte sie. "Reicht das?" Dann biss sie herzhaft in eines der Brote. Irgendwie wirkte sie, als hätte sie schon länger nichts gegessen. Sie trug denselben schwarzen Pulli mit der Kapuze und ihre Haare standen wild vom Kopf ab, als wäre sie eben erst aus dem Bett gefallen. Vielleicht war sie das ja auch. Für eine Weile kaute sie schweigend und Janosch warf ab und zu einen schnellen Blick zur Seite während er vorsichtig an seinem Tee nippte. Zwischen ihnen hatte sich die Katze zusammengerollt und schnurrte leise im Schlaf. Janosch fragte sich zum wiederholten Mal, ob sie wohl zu Zoe gehörte. Sofie hatte Katzen auch gemocht, fiel Janosch plötzlich ein. Jahrelang hatte sie ihm damit in den Ohren gelegen, aber er hatte sich stets geweigert, ein Haustier anzuschaffen. Warum eigentlich? Die Gründe, die ihm damals so plausibel erschienen waren, fielen ihm nun nicht einmal mehr ein. Heute schien ihm der Gedanke, eine Katze zu haben, gar nicht mehr so abwegig.

"Wie lange leben Sie eigentlich schon allein?", unterbrach Zoe die Stille. "Haben Sie nie daran gedacht, sich neu zu verlieben?" Janosch verschluckte sich an seinem Tee und musste husten. Daran gedacht, sich neu zu verlieben – was für eine seltsame Formulierung!

"Daran gedacht schon", gab er zögernd zu, "aber irgendwann habe ich mich wohl nicht mehr getraut – ja, das ist es wohl. Ich habe ja auch nicht so viel mit Frauen zu tun und…" Er stockte verlegen, als er sich dessen bewusst wurde, dass Zoe aufgehört hatte zu kauen und ihn direkt anschaute. Nervös wandte er sich ab und stieß dabei versehentlich an die Katze, die schläfrig mit dem Schwanz zuckte. Zoes Augen waren wirklich beunruhigend. Zwei helle Suchscheinwerfer, die bis auf den Grund seiner Seele zu leuchten schienen und dort gnadenlos alles ans Tageslicht zerrten, das dort unten schon jahrelang lag und mittlerweile von einer meterhohen Staubschicht bedeckt sein musste.

"Oder vielleicht können Sie sich ja auch gar nicht mehr verlieben." Eine Pause entstand. "Glauben Sie eigentlich an die wahre Liebe?", fragte sie plötzlich unvermittelt. Janosch dachte nach. Der Nebel schien nicht nur die Welt um ihn herum, sondern auch sein Denken zu verlangsamen. "Nein", meinte er schließlich zögernd. Sofie – ja, geliebt hatte er sie sehr, aber richtig bewusst geworden war ihm diese Tatsache erst, als sie fort war und mit ihr all ihre Sachen -  als ihre Zahnbürste aus dem Bad verschwunden war und ihre Kleider aus dem Schrank und besonders ihre Bücher. "Es tut mir leid, Janosch", hatte sie gesagt, "ich muss unsere Liebe irgendwann einfach unterwegs verloren haben. Vielleicht habe ich nicht genug darauf aufgepasst." Aber er hatte noch viel weniger darauf aufgepasst. Die Wochen danach waren einsame Wochen, einsam mit zu viel Stille hinter den Schränken und in den leeren Kommodenschubladen, die daraus entwischte, so sehr man auch aufpasste, und sich heimtückisch in der ganzen Wohnung ausbreitete. Janosch schob die Erinnerungen zur Seite. Auch an das konnte man sich gewöhnen.

"Für manche gibt es sie wohl – die eine große Liebe", sinnierte Zoe. Sie hatte plötzlich ein Buch in der Hand. Janoschs Puls beschleunigte. "Für Hajime und Shimamoto zum Beispiel."

"Shimamoto", Janosch kostete den Namen wie eine Praline. "Shimamoto… – wirst du mir von ihr erzählen?", fragte er und erschrak gleichzeitig vor seiner Frage. Zoe lächelte ihr unergründliches Lächeln und schlug das Buch auf. Ihre Stimme zog Janosch weit fort, nach Tokio. Er stand in einer Bar hinter dem Tresen und ihm gegenüber saß sie – Shimamoto.  Sie zog an einer Zigarette und ihre blutroten Lippen bildeten einen atemberaubenden Kontrast zu ihrer fast weißen Haut. Im Hintergrund spielte Musik – Janosch kannte das Stück, es klang wie "Star-Crossed Lovers" – und Shimamotos Augen sahen ihn unverwandt an. Sein Blick folgte ihren schlanken Fingern, mit denen sie sich elegant eine feine Haarsträhne aus dem Gesicht strich, ihre anmutigen, fast zarten Bewegungen und dann Shimamotos Gesicht, das sich plötzlich verschob und zu Sofies Gesicht wurde, Sofie mit ihren brauen Augen, Sofie, die nach Gingkoseife duftete, Sofie…

*

Der Herbst war ungewöhnlich trüb. Regentage kamen und gingen und selten wurde es richtig hell. Manchmal regnete es nicht – an diesen Tagen kam der Nebel. Janosch störte das Wetter nicht. Zoe und er sahen sich nun öfter, aber der Rhythmus ihrer Treffen schien sich nach keinem Schema zu richten, vom Wetter abgesehen. Der Ort ihrer Treffen jedoch war immer derselbe. Die Katzenbank war nie besetzt, wenn Janosch kam – außer von Zoe. Es schien ihm fast, als wäre sie bei Nebel nur für sie beide reserviert. Bei schönem Wetter allerdings schien sie eine ganz normale Bank zu sein mit Leuten, die darauf Platz nahmen um auf die nächste Bahn zu warten oder um sich einfach auszuruhen.

Zoe kündigte ihre Treffen immer einige Tage vorher an. Er versuchte vergeblich, herauszufinden, wie sie das zustande brachte. Manchmal klebte eine Nachricht an seiner Haustür, ein anderes Mal entdeckte er einen rosa Klebezettel an seiner Thermosflasche und auch in seiner Brieftasche fanden sich mitunter rosafarbene Notizen. Einmal fand er sogar einen Zettel in seinem Terminkalender. Doch nicht nur ihre Methoden, in sein Leben einzudringen, blieben für Janosch schleierhaft. Zoe selbst war ihm ein Rätsel. Er fand heraus, dass sie Salamibrote mochte und dass sie Katzen für ihre Seelenverwandten hielt (wie sie ihm erklärte, hatte sie einmal ein Buch gelesen, in dem jemand mit Katzen sprechen konnte), aber das war auch schon alles. Über Zoes Leben erfuhr Janosch nichts. Zoe selbst erzählte nie von sich und Janosch fragte auch nicht. Meist redeten sie über abstruse Daseinstheorien und oft schwiegen sie auch einfach und schauten, während jeder seinen eigenen Gedanken nachhing, hinüber zur nebelverhangenen Silhouette des Wasserturms. Schweigen war leicht mit Zoe, genauso leicht wie es war, ihr zuzuhören. Und während es Janosch anfangs noch seltsam vorgekommen war, mit einem gepiercten Mädchen mit pinkfarbenem Haar auf einer Bahnhofsbank zu sitzen und sich vorlesen zu lassen, so erschien es ihm mittlerweile fast natürlich. Zoes magische Stimme hatte ihn nach und nach wie mit einem feinen Faden umsponnen und langsam verzaubert.

"Lies mir vor!", bat er und Zoes Schmeichelstimme öffnete Tür und Tor der lang verschmähten Bücher und zog ihn weit mit sich fort auf lange Reisen über unwegsame Straßen und nie beschrittene Pfade. Sie ließ ihn mit hunderten Augen sehen und mit tausenden neuen Sinnen fühlen. Auf dem Heimweg klang die Melodie von Zoes Stimme in ihm nach und oft saß er noch den ganzen Abend auf dem Sofa. Der Fernseher schwieg. Janosch hatte ihn abgestellt, um die Melodie nicht zu übertönen.

*

Eines Tages kam Janosch zu spät zum Bahnhof. Er hatte verschlafen – das erste Mal seit vielen Jahren. "Was sie mir wohl heute vorliest?" fragte er sich und beschleunigte seine Schritte. Die Wahl, die Zoe traf, schien stets völlig planlos zu sein – wie einer plötzlichen Laune entsprungen.

Der Nebel verschluckte Janoschs Schritte, als er die Treppe hinaufhastete, aber er schien mit jeder Stufe nach oben etwas nachzulassen. Auf der obersten Treppenstufe bemerkte er überrascht, dass er den Wasserturm schon fast vollständig sehen konnte. Als er um den Getränkeautomaten bog, war die Katzenbank leer. Von Zoe keine Spur, und auch die Katze war nirgends zu entdecken. Janosch blickte sich um. Der Nebel hatte sich bereits so sehr gelichtet, dass er von einem Ende des Bahnsteigs zum anderen blicken konnte, doch er war völlig allein. Erst beim zweiten Hinsehen bemerkte er, dass auf der Bank etwas lag. Es war ein kleines Päckchen, das mit Zeitungspapier eingeschlagen war. Janosch ließ sich auf die Bank fallen. Noch immer war niemand zu sehen. Auf dem Päckchen klebte ein rosafarbener zusammengefalteter Zettel. "An Janosch auf der Katzenbank", verkündete die vertraute Schrift. Langsam faltete er den Zettel auseinander und las:

"Janosch, ich bin sicher, dass du mich jetzt nicht mehr brauchst.
Viel Glück, Zoe"

Janosch schlug das Zeitungspapier auseinander. "Der Vorleser", verkündete der Titel auf dem Buch. Janosch hatte ihn noch nie gehört, aber er gefiel ihm. Lange starrte er auf den kleinen rosa Zettel in seiner Hand.

Er konnte nicht sagen, wie lange er dort auf der Katzenbank gesessen hatte. Langsam belebte sich der Bahnhof. Züge fuhren ein und aus, Türen öffneten sich zischend und schlossen sich wieder, Leute hasteten vorbei.

"Schönes Wetter heute, nicht wahr?", riss ihn plötzlich eine Stimme nah neben sich aus seiner Betäubung.  Er wandte sich zur Seite und blickte in braune Augen, die von kleinen Lachfältchen umgeben waren. Die Frau deutete mit der Hand in Richtung Wasserturm. Erst jetzt bemerkte Janosch, dass die letzten Reste des Nebels inzwischen völlig verschwunden waren und dass die Sonne herausgekommen war.

"Einfach toll, diese Helligkeit nach all dem trüben Wetter." Die Frau neben ihm blinzelte in die Sonne und strich sich geistesabwesend eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Die Bewegung erinnerte Janosch an etwas, aber er vermochte nicht zu sagen, was es war.

"Was lesen Sie denn da?", fragte sie mit einem Blick auf sein Buch. Janosch sah hinunter auf seinen Schoß, wo noch immer das Buch lag – Zoes Buch. Behutsam strich er über den Einband. Er zögerte. "Haben Sie gerade etwas Zeit?", fragte er dann aus einer plötzlichen Eingebung heraus.

"Ja", sagte sie langsam, "eigentlich schon", und ein zögerndes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.

Da öffnete Janosch das Buch, räusperte sich und begann mit klarer Stimme zu lesen.