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Kultur- und Nachbarschaftszentrum

Buch 2005
 

 

Zu diesem Buch

 

Diese Anthologie ist der Ertrag eines Literaturwettbewerbs, den die Nachbarschaftseinrichtung RuDi, gemeinsam mit ihren Partnern, nun schon zum dritten Mal ausgerufen und — dank der schreibenden Mitbürgerinnen und –bürger — zu einem glücklichen Ende gebracht hat. Von einer Tradition zu sprechen, wäre übertrieben, aber wer auf Knalliges versessen ist, könnte das vorliegende Buch als dritten Band einer Ostkreuz-Trilogie ansehen. Und zumindest die eine skeptische Frage, ob dieser wohl größte, aber sicherlich nicht ansehnlichste Nahverkehrsknotenpunkt Berlins literarisierbar ist, als literarischer Topos überhaupt in Frage kommt und "etwas hergibt", dürfte sich nunmehr hinreichend beantwortet haben.

Nach dem Alltag von Ostkreuz, zweimal täglich (2002), den hoffnungsvollen oder bangen Blicken zurück in die Zukunft von Ostkreuz 2020 (2003) kommt nun mit Liebe am Ostkreuz das Sehnen und Suchen und wieder Verlieren und weiter Suchen, das Ein und Alles, kurz: die Magie zum Wort.

 

Über die Liebe schreiben, also sich erinnernd davon erzählen, heißt für den Schreiber, die Schreiberin, sich mit der Sprache auf ein Terrain zu begeben, das letztlich nicht verbalisierbar ist, es aber dennoch versuchen zu müssen. Und da das Erzählen von der unerklärlichen Liebe nicht selten ein Erzählen vom unerklärlichen Scheitern der Liebe ist, verdoppeln sich die Schwierigkeiten, dieses doch so allbekannte und dabei so unergründliche Phänomen in eine bündige Sprache und mitteilbare Bilder zu bringen.

Einschlägige Fachleute halten Verliebtheit für eine milde Form des Irrsinns. Verliebte sind Irre. Aber jeder, der einstmals zu diesen Irren gehört hat, wird bestätigen, dass das kryptische Gestammel und Geraune, mit dem Verliebte miteinander kommunizieren, die selbstverständlichste und beredteste Form des Austauschs ist. Der Satz "Ich liebe dich!" ist, semantisch gesehen, essentiell dürftig und für einen Nichtverliebten eher Unsinn. Aber jeder von uns erinnert sich an Momente, in denen eben dieser Satz das einzig Adäquate war und gesagt wurde, einfach heraus musste, ohne sich dabei im Mindesten unverstanden oder gar lächerlich vorzukommen.

Literatur und Liebe, das ist demnach eine vertrackte, komplizierte Sache. Manche behaupten, es gäbe in der gesamten Weltliteratur ohne dies nur etwa ein Dutzend echter Liebesgeschichten und damit hätte es sich; alles weitere wären nur die Variationen und Perpetuierungen des ewig Gleichen einschließlich der unsäglichen Abteilungen Triviales und Vulgäres, leider. Mit dem Aufkommen der Massenliteratur ist der "Liebesroman" zu einem Synonym für Kitsch geworden.

Und dennoch: trotz — oder gerade wegen? — all dieser Unwägbarkeiten, die sich dem Schreiben von Liebesgeschichten in den Weg stellen, ist der Reiz, es dennoch zu versuchen, groß. Woher käme es sonst, dass dieses Buch weitaus dicker geworden ist als seine beiden Vorgänger?

Das Gute an der Liebe ist: jeder kennt sie. Und jeder, auch wenn er nicht schreibt, erinnert sich an seine Liebesgeschichten, an Augenblicke mit Menschen, die von bedenkenloser Zuwendung erfüllt waren, die unanfechtbar bleibt, und von der gesagt werden darf: ja, das war es, da war ich nicht allein, da sind wir zusammengerückt, da habe ich etwas Großes erlebt, das Wunder, wie ich so vollkommen außer mir und zugleich so ganz und gar bei mir sein konnte. In einer einzigen so gelungenen Geste steckt schon mehr Glück, als wir verkraften können.

Um über die Liebe zu schreiben, etwas zu sagen, das über das interne Stammeln hinaus geht, bietet sich der Vergleich, die Metapher, die Allegorie an. Seit du bist wie eine Blume ist das so, und auch in den hier versammelten Texten ist das nicht anders. Jedes Mal muss das Erzählen von der Liebe neu erfunden werden, und selbst die bizarrsten Bilder können letztlich doch nur annähernd ausdrücken, was wir eigentlich meinen. Da ist jemand "gemalt wie von Picasso" oder Toulouse-Lautrec, da wird das Verspeisen von Früchten zum Bild für etwas ganz anderes, und ein Getreidemilchkaffee (den, soviel ich weiß, nicht nur Kellnerinnen hassen) zum Geheimcode.

Der Dichter, sagt Paul Valéry, produziert das, wonach es ihn verlangte. Er stellt etwas her, das imstande ist, ihm die Energie, die es ihn gekostet hat, zurückzugeben oder sogar noch mehr. Analoges gilt auch für die Rezeption von Kunst. Bleibt nur noch, diesem Buch viele vergnügte, nachdenkliche und angeregte Leserinnen und Leser zu wünschen.

Berlin, im März 2005

 

Organisator dieses Wettbewerbs war das Nachbarschaftszentrum RuDi in Kooperation mit dem Online-Magazin KultStral. Das Projekt wurde unterstützt und gefördert durch das Förderprogramm der Europäischen Union URBAN II. Eine Jury, deren Vorsitz vom früheren Bürgermeister des Bezirkes Friedrichshain, Helios Mendiburu, übernommen wurde, wählte die besten Beiträge aus, prämiierte sie und stellte die Preisträger in einem feierlichen Rahmen der Öffentlichkeit vor. Auf die Zusammenstellung dieser Anthologie hatte die Preisvergabe keinen Einfluss. Sie folgte den kompositorischen Prinzipien.

Über das Taschenbuch hinaus werden alle Beiträge im Online-Stadtteilmagazin KultStral (www.kultstral.de) veröffentlicht und so noch einem weiteren Kreis von Interessenten zugänglich gemacht werden.

Abschließend sei allen Dank gesagt, die am Wettbewerb und am Zustandekommen dieser Anthologie beteiligt waren. Das schließt auch diejenigen ein, die die Förderung dieses Projekts durch die Europäische Union und das Land Berlin ermöglicht haben.

Buch 2005
 

 

Zu diesem Buch

 

Diese Anthologie ist der Ertrag eines Literaturwettbewerbs, den die Nachbarschaftseinrichtung RuDi, gemeinsam mit ihren Partnern, nun schon zum dritten Mal ausgerufen und — dank der schreibenden Mitbürgerinnen und –bürger — zu einem glücklichen Ende gebracht hat. Von einer Tradition zu sprechen, wäre übertrieben, aber wer auf Knalliges versessen ist, könnte das vorliegende Buch als dritten Band einer Ostkreuz-Trilogie ansehen. Und zumindest die eine skeptische Frage, ob dieser wohl größte, aber sicherlich nicht ansehnlichste Nahverkehrsknotenpunkt Berlins literarisierbar ist, als literarischer Topos überhaupt in Frage kommt und "etwas hergibt", dürfte sich nunmehr hinreichend beantwortet haben.

Nach dem Alltag von Ostkreuz, zweimal täglich (2002), den hoffnungsvollen oder bangen Blicken zurück in die Zukunft von Ostkreuz 2020 (2003) kommt nun mit Liebe am Ostkreuz das Sehnen und Suchen und wieder Verlieren und weiter Suchen, das Ein und Alles, kurz: die Magie zum Wort.

 

Über die Liebe schreiben, also sich erinnernd davon erzählen, heißt für den Schreiber, die Schreiberin, sich mit der Sprache auf ein Terrain zu begeben, das letztlich nicht verbalisierbar ist, es aber dennoch versuchen zu müssen. Und da das Erzählen von der unerklärlichen Liebe nicht selten ein Erzählen vom unerklärlichen Scheitern der Liebe ist, verdoppeln sich die Schwierigkeiten, dieses doch so allbekannte und dabei so unergründliche Phänomen in eine bündige Sprache und mitteilbare Bilder zu bringen.

Einschlägige Fachleute halten Verliebtheit für eine milde Form des Irrsinns. Verliebte sind Irre. Aber jeder, der einstmals zu diesen Irren gehört hat, wird bestätigen, dass das kryptische Gestammel und Geraune, mit dem Verliebte miteinander kommunizieren, die selbstverständlichste und beredteste Form des Austauschs ist. Der Satz "Ich liebe dich!" ist, semantisch gesehen, essentiell dürftig und für einen Nichtverliebten eher Unsinn. Aber jeder von uns erinnert sich an Momente, in denen eben dieser Satz das einzig Adäquate war und gesagt wurde, einfach heraus musste, ohne sich dabei im Mindesten unverstanden oder gar lächerlich vorzukommen.

Literatur und Liebe, das ist demnach eine vertrackte, komplizierte Sache. Manche behaupten, es gäbe in der gesamten Weltliteratur ohne dies nur etwa ein Dutzend echter Liebesgeschichten und damit hätte es sich; alles weitere wären nur die Variationen und Perpetuierungen des ewig Gleichen einschließlich der unsäglichen Abteilungen Triviales und Vulgäres, leider. Mit dem Aufkommen der Massenliteratur ist der "Liebesroman" zu einem Synonym für Kitsch geworden.

Und dennoch: trotz — oder gerade wegen? — all dieser Unwägbarkeiten, die sich dem Schreiben von Liebesgeschichten in den Weg stellen, ist der Reiz, es dennoch zu versuchen, groß. Woher käme es sonst, dass dieses Buch weitaus dicker geworden ist als seine beiden Vorgänger?

Das Gute an der Liebe ist: jeder kennt sie. Und jeder, auch wenn er nicht schreibt, erinnert sich an seine Liebesgeschichten, an Augenblicke mit Menschen, die von bedenkenloser Zuwendung erfüllt waren, die unanfechtbar bleibt, und von der gesagt werden darf: ja, das war es, da war ich nicht allein, da sind wir zusammengerückt, da habe ich etwas Großes erlebt, das Wunder, wie ich so vollkommen außer mir und zugleich so ganz und gar bei mir sein konnte. In einer einzigen so gelungenen Geste steckt schon mehr Glück, als wir verkraften können.

Um über die Liebe zu schreiben, etwas zu sagen, das über das interne Stammeln hinaus geht, bietet sich der Vergleich, die Metapher, die Allegorie an. Seit du bist wie eine Blume ist das so, und auch in den hier versammelten Texten ist das nicht anders. Jedes Mal muss das Erzählen von der Liebe neu erfunden werden, und selbst die bizarrsten Bilder können letztlich doch nur annähernd ausdrücken, was wir eigentlich meinen. Da ist jemand "gemalt wie von Picasso" oder Toulouse-Lautrec, da wird das Verspeisen von Früchten zum Bild für etwas ganz anderes, und ein Getreidemilchkaffee (den, soviel ich weiß, nicht nur Kellnerinnen hassen) zum Geheimcode.

Der Dichter, sagt Paul Valéry, produziert das, wonach es ihn verlangte. Er stellt etwas her, das imstande ist, ihm die Energie, die es ihn gekostet hat, zurückzugeben oder sogar noch mehr. Analoges gilt auch für die Rezeption von Kunst. Bleibt nur noch, diesem Buch viele vergnügte, nachdenkliche und angeregte Leserinnen und Leser zu wünschen.

Berlin, im März 2005

 

Organisator dieses Wettbewerbs war das Nachbarschaftszentrum RuDi in Kooperation mit dem Online-Magazin KultStral. Das Projekt wurde unterstützt und gefördert durch das Förderprogramm der Europäischen Union URBAN II. Eine Jury, deren Vorsitz vom früheren Bürgermeister des Bezirkes Friedrichshain, Helios Mendiburu, übernommen wurde, wählte die besten Beiträge aus, prämiierte sie und stellte die Preisträger in einem feierlichen Rahmen der Öffentlichkeit vor. Auf die Zusammenstellung dieser Anthologie hatte die Preisvergabe keinen Einfluss. Sie folgte den kompositorischen Prinzipien.

Über das Taschenbuch hinaus werden alle Beiträge im Online-Stadtteilmagazin KultStral (www.kultstral.de) veröffentlicht und so noch einem weiteren Kreis von Interessenten zugänglich gemacht werden.

Abschließend sei allen Dank gesagt, die am Wettbewerb und am Zustandekommen dieser Anthologie beteiligt waren. Das schließt auch diejenigen ein, die die Förderung dieses Projekts durch die Europäische Union und das Land Berlin ermöglicht haben.

Liebe Ostkreuz

 

Rosa Meir
Eine Liebe am Ostkreuz

 

Dies ist die Geschichte einer Liebe, die nur einen Winter dauerte. Sie begann im Gleisbett einer Berliner S-Bahn-Station. Christa fuhr mit der Ringbahn zum Bahnhof Ostkreuz. Es war kurz vor Betriebsschluss, die letzte Bahn auf dem Ring. Am Ostkreuz stieg sie aus, wartete bis der Zug abgefahren war, dann sprang sie. Sie fiel ins Gleisbett und verlor das Bewusstsein.

Zwei Tage später wachte sie wieder auf, ihre Wunden waren noch nicht verheilt, aber ihre Erinnerungen größtenteils verschwunden. Sie hatte geträumt von einem Raum, der komplett weiß war. Ein weißer, luftiger, traumhafter Raum. Im Traum lag sie in einem großen Himmelbett. In der Mitte des Raumes stand ein runder, niedriger Tisch aus Plaste. Es gab zwei kugelförmige Schalensessel mit roten Sitzflächen und eine Stehlampe mit weißem Stiel, oben gebogen wie eine Straßenlaterne. Der Lampenschirm war aus rotem Glas. Der Fußboden war aus Marmor. Neben ihrem Bett stand ein messingfarbener kleiner Beistelltisch, darauf eine Schale mit Früchten und ein Brief in einem weißen Umschlag.

Christa musste auf die Toilette. Sie öffnete die Tür und kam in einen Flur aus rauem Beton, die Elektroleitungen lagen über Putz, Kabelschlingen hingen herunter, es war kalt. Der Flur verlief kreisrund, in der Mitte war eine metallene Treppe. Da sich auf dieser Etage keine Toilette zu befinden schien, stieg sie ein Stockwerk höher. Dort fand sie eine kleine Tür, die so aussah als ob, und dahinter war tatsächlich, was sie suchte. Sie trug keine Schuhe oder Strümpfe und so empfand sie es als sehr angenehm, dass hier der Boden geheizt war, denn außerhalb des weißen Raumes überkam sie die Kälte. In der Toilette war selbst die Toilettenbrille warm. Es gab ein muschelförmiges Waschbecken, einen kleinen goldenen Wasserhahn mit porzellanenem Steuerrad zum Aufdrehen. Auf dem Toilettenpapier stand servus. Christa machte sich nichts weiter daraus, verrichtete ihr Geschäft und lief zurück in das Zimmer mit dem Himmelbett.

Drei kleine Fenster, längliche, querformatige Fenster gab es, durch Jalousien verhüllt, die von außen angebracht waren. Christa stellte sich auf den messingfarbenen Beistelltisch, um ihre Neugierde zu stillen. Sie schaute also hinaus und sah in einiger Entfernung einen kleinen See glitzern, sie sah Bäume, Hochspannungsmasten und sie konnte auch eine Straße sehen, die über eine Brücke führte.

In diesem Moment öffnete sich die Tür, jemand trat ein ohne geklopft zu haben.

"He, hallo, du bist wach! Wie jeht's dir? Komm lieber da runter, der Tisch ist nich besonders stabil. Wer weeß, sonst liegste gleich wieda im Koma. Ick hab dir wat zu essen mitjebracht, 'n Hühnchen von de Imbissstube, keene Ahnung, schmeckt dir so wat? Ick weeß ooch nich, ob dit jut is, von wegen Krankenkost, aber Hühnchen is,  gloob ick, in Ordnung. Mein Jeld hat nicht für zwee jereicht, wenn de mir die Flügel überlässt…

Ach so, ick bin übrigens der Heiko. Ick bin hier der Hausmeester. Der Chef is grade in Hamburg und kommt erst in drei Monate wieda. So lange kiek ick hier nach dem Rechten und, na ja, meene Bude is nicht so schick. Ofenheizung und so und der Boiler is kaputt, keen warmet Wasser also und ick hab ooch nur een ollet Bett und uff de Couch da schläft imma dit Frollein, wat meen Hund is. Naja, du wirst ja hier nüscht kaputt machen, wa? Ick kriege dann nämlich mordsmäßigen Ärger, weeßte. Aba nun sag doch ooch mal wat."

Christa war in der Zwischenzeit vom kleinen Messingtisch runter gesprungen und hatte sich am Kopfende des Bettes hingesetzt, mit angezogenen Beinen und die Decke bis zum Kinn.

"Ick weeß ja nich, wo ick hier bin", sagte Christa als erstes, wobei sie auf die Imbisstüte starrte und mit dem Brechreiz kämpfte, obwohl sie Hunger verspürte. Beim Herunternehmen der Früchte vom Messingtisch hatte sie bemerkt, dass diese unecht waren. Eine Banane oder einen Apfel hätte sie vielleicht essen können. "Wo de bist? Na, dit is hier der Turm. Dit jehört eenem reichen Typ, der is son Beraterfritze, weeß ick, wat der jenau macht, aba Kohle hat der, da träumste von. Dit is für den hier ooch nur son Spaß, der hat noch 'ne Dachjeschossbude irgendwo, naja und in Hamburg, da hat er een Haus. Aba willste denn jar nich essen? Also ick hab janz schön Kohldampf in de Rippen."

"Was für'n Turm denn?"

Christa versuchte, sich an etwas zu erinnern, aber sie bekam nur Kopfschmerzen. Sie rutschte runter ins Bett und drehte sich zur Seite. "Ich will kein Hühnchen", sagte sie noch, dann schlief sie wieder ein.

Heiko war gut aussehend, gutmütig und auf der Suche nach einer treuen Seele.

Christa, 35 Jahre alt, schulterlanges, dickes, kastanien­braunes Haar, grüne Augen und zierliche Figur, wollte sich das Leben nehmen. Sie war von zu Hause geflohen, vor dem ewig gleichen Alltag mit ihrem 16-jährigen Sohn, der den ganzen Tag vor dem Fernseher oder dem Computer hockte, nicht mit ihr redete und nur zum Essen aus seinem Zimmer kam. Zur Schule ging er zwar, aber er kam dort meistens nicht an bzw. blieb nicht lange. Dann trieb er sich rum oder er kam nach Hause und verkroch sich in sein Zimmer. Christa wollte nicht mehr ihre Zeit, ihre Energie und ihre Liebe verschwenden. Sie hatte keine Kraft, gegen diese Übermacht zu kämpfen, die von morgens bis abends aus dem Fernsehapparat flutete, um sich schoss und die Gehirnzellen zersetzte. Auch wollte sie nicht mehr die Geräusche von den in der Spielkonsole rumorenden Gewaltexzessen hören, das alles fraß an ihrem Gemüt und an ihren Hoffnungen. Sie selbst interessierte sich für so viele Dinge, dass sie manchmal das Gefühl hatte, ihr Leben würde nicht ausreichen für das, was sie machen und erleben wollte. Aber ihr Sohn war das Gegenteil von ihr, er war ihr fremd geworden. Er war mehr Teil dieser medialen Welt und es war keine Phantasiewelt, sondern eine Sucht erzeugende Manipulation durch Dealer, die in großen Konzernen saßen und ihr Geld damit verdienten, solche Dinge auf den Markt zu bringen und sie als Spiele zu bezeichnen, um zu vertuschen, worum es sich eigentlich handelte: um Gehirnzellen fressende Killerviren, handlich verpackt in Plastehüllen.

Christa hatte Angst vor der Zukunft und sie wollte nicht von der Gesellschaft verantwortlich gemacht werden für etwas, das die Leute schlechte Erziehung nennen würden. Christa hatte ihren Sohn allein groß gezogen und so war da eine große Schwachstelle in dem Organismus, den sie mit ihrem Sohn bildete. Durch diese Schwachstelle, durch diesen blinden Fleck, den sie nicht ausfüllen konnte, drang die Außenwelt an ihren Sohn, eine Außenwelt, die sie sich nicht ausgesucht hatte und der sie sich selbst weitestgehend zu entziehen versuchte. Sie hatte nicht ein Kind auf die Welt gebracht, um ihr Leben damit zu verbringen, wie eine Torhüterin im Eishockeytor zu stehen und dick geschützt mit einem Holzstiel die schwarzen Scheiben abzuwehren. Sie war bereit, ihr Kind zu fördern, ihm Liebe zu geben, die Phantasie anzuregen. Aber sie hatte nicht mit diesen hartnäckigen Feinden gerechnet, die für ihr Kind bunter und verlockender oder einfach nur bequemer waren. Sie musste einsehen, dass sie immer mehr an Einfluss verlor, je mehr die anderen gewannen. Und so stieg sie in die Ringbahn am Bahnhof Ostkreuz, fuhr einmal bis zum Ende, wartete auf die nächste Bahn, um den Ring zu vollenden und dann sprang sie von der Brücke auf die Gleise. Sie verlor das Bewusstsein, hatte aber Glück im Unglück, denn sie wurde gefunden, noch bevor der Intercity durch die Nacht rauschte. Sie wurde gefunden von einem Schlosser der Deutschen Bahn, der die Gleise inspizierte. Sein Name war Heiko und Heiko war Ersthelfer. Er leitete die erforderlichen ersten Schritte ein und rief über sein Mobiltelefon die Notrufnummer. Christa wurde ins Krankenhaus Friedrichshain gebracht, wo sie drei Wochen bleiben musste. Drei Wochen, in denen Heiko jeden Tag kam, um sie zu besuchen. Drei Wochen, in denen sie über ihr Leben nachdachte, drei Wochen, in denen sich der Vater ihres Sohnes kümmern musste, ob er wollte oder nicht. Christa freute sich, wenn Heiko kam. Er war ein ruhiger, sensibler und besonnener Mann und er las ihr Geschichten vor, wenn er an ihrem Bett saß. Nach drei Wochen wurde Christa entlassen und sie hatte sich entschlossen, zu Heiko zu ziehen. Heiko hatte sich im Wasserturm eine Wohnung ausgebaut und er hatte auch einen von den kleinen Gärten zwischen Gleisanlage und Markgrafendamm.

Wenn Heiko zur Arbeit ging, joggte Christa am Paul-und-Paula-Ufer. Sie hatte vorher nicht gejoggt, aber sie wollte es schon immer mal machen. Sie lief bis zur Haftanstalt und wieder zurück, sie pausierte am Geländer vor dem italienischen Café und hielt ihr Gesicht in die Sonne. Sie beobachtete die Schwäne und dann lief sie zurück. Sie begann zu malen: sie malte den Wasserturm von allen möglichen Seiten, am schönsten erschien er ihr von der Bucht aus, eingerahmt von den Ästen der Bäume, den Blättern und Ranken der Sträucher und ohne die Bahnanlagen.

Heiko war glücklich, nicht mehr alleine leben zu müssen, er hatte sich so lange danach gesehnt, wieder für eine Frau zu sorgen. Seine Frau hatte sich vor fünf Jahren von ihm scheiden lassen und er konnte es lange nicht verwinden. Heiko hatte eine Tochter. Maria besuchte ihn alle vierzehn Tage von Donnerstag bis Sonntag. Sie lernte an der freien Schule. Maria war zu langsam für den Stundenplan an der Regelschule aber dafür spielte sie Flöte und sie fotografierte, am liebsten Menschen, die sie kannte. Maria hatte Talent und wollte Fotografin werden. Christa und Maria verstanden sich und Christa begann, öfter mit ihrem Sohn zu telefonieren. Die Gespräche waren jedoch immer einsilbig und danach kämpfte Christa mit einer großen Traurigkeit und dem Gefühl versagt zu haben. Dann joggte sie umso mehr, sie lenkte sich ab, sie lief inzwischen bis zur Insel der Jugend und manchmal noch weiter bis zum Eierhäuschen.

Christa mochte Heiko, aber sie konnte nicht sagen, dass sie verliebt war. Sie genoss es, umsorgt zu werden, aber etwas bohrte in ihr. Eine innere Unruhe befiel sie und es wurde von Tag zu Tag mehr. Den ganzen Dezember und Januar war sie nun schon bei Heiko im Wasserturm und im März wollte er mit ihr für eine Woche verreisen. Sie freute sich zwar, aber eine unbestimmte Sehnsucht bemächtigte sich ihrer. Sie träumte von Vietnam oder von den Indianern in Mexiko, seit sie eine Reportage gesehen hatte. Sie wollte etwas erfahren, von dem sie nicht wusste, was es war. Sie suchte. Heiko hatte Angst, sie zu verlieren und er begann, sie zu verwöhnen. Es war Anfang Februar, Christa kam von einem Wochenendworkshop in Aktmalerei zurück, den Heiko ihr geschenkt hatte. Es war Sonntagabend. Sie schloss die Tür zum Wasserturm auf und stieg die Treppe nach oben. Aus der großen Küche drang Musik und Stimmen waren zu hören. Heiko hatte gekocht, der Tisch war festlich gedeckt mit Kerzen und Servietten, Maria und Chris, ihr Sohn, schälten Obst für den Nachtisch und Heiko begrüßte sie mit einem Lächeln auf den Lippen und in den Augenwinkeln, im Hosenbund steckte das Küchenhandtuch. Maria und Chris hatten ihm aus Krepppapier eine Kochmütze gebastelt. Die Überraschung verschlug Christa die Sprache und außerdem traute sie ihren Augen und Ohren nicht.

Es gab Schweinebraten mit Rotkohl und Klößen, dazu Malzbier, zum Nachtisch kleine Obststückchen mit Schlagsahne und für sie und Heiko einen Espresso. Heiko hatte Kinokarten besorgt für Maria und Chris, und als sie den Wasserturm verlassen hatten, legte er eine alte Queen-Platte auf und zu "We are the champions" tanzten sie. Heiko zog Christa eng an sich und er war glücklich, das konnte man sehen. Christa wusste nicht, was sie fühlen sollte. Sie hatte beim Aktmalkurs Jim kennen gelernt, der den Kurs leitete. Jim war 52, sah aber aus wie 41, wirkte auch in seiner Art jugendlich. Jim kam ursprünglich aus Los Angeles, war aber schon seit fünfzehn Jahren in Deutschland. Jim und Christa kamen sich in der sehr kurzen Zeit sehr nah und Christa spürte eine enorme Anziehungskraft. Jim weckte in ihr Gefühle und Wünsche, für die sie sonst kein Verständnis hatte. Sie war aufgewühlt und in diesem Moment wollte sie Heiko auch nicht verletzen. Sie begannen sich zu küssen und Christa stellte sich Jim dabei vor. Später fragte sie Heiko, wie er es angestellt hatte, Chris in den Wasserturm zu locken. Heiko lachte und erzählte ihr, dass es ganz einfach gewesen wäre, als er ihm sagte, es würde Schweinebraten zu essen geben. Christa schlief wenig später vor Verwirrung ein, Heiko wartete in der Küche auf Chris und seine Tochter. Es war ein Uhr nachts, als Heiko endlich den Schlüssel im Schloss hörte und nachdem er sich vergewissert hatte, dass alles in Ordnung war, die beiden sich untereinander und ihm eine gute Nacht gewünscht hatten, legte er sich zu Christa ins Bett, kuschelte sich an sie, seine Hand gefüllt mit ihrer Brust. Sein Schlaf war kurz, denn um sechs Uhr klingelte schon der Wecker. Um sieben weckte er Maria, um sie zur Schule zu fahren. Christa wurde von Chris geweckt um zehn vor acht, als er fragte, ob sie ihm Geld geben könne für einen Fahrschein. Sie rieb sich die Augen, stand auf, gab ihm das Geld, sah ihm in die Augen und wollte gerne noch mit ihm reden. Chris aber hatte es eilig, er wollte zur Schule. Er rief "Tschö" und war schon verschwunden. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel von Heiko. "Mach dir einen schönen Tag, ich liebe dich." Christa fuhr in Jims Atelier. Sie konnte es kaum erwarten, aber als sie ankam, war Jim nicht da. Sie verstand das nicht, denn sie waren doch verabredet. Sie suchte sich ein kleines Café in der Nähe und wollte warten. Sie las die Zeitung, trank einen Kaffee, aß ein Laugenbrötchen und versuchte es eine Stunde später noch einmal. Sie drückte gerade auf den Klingelknopf, als sie jemand auf den Hals küsste. Es war Heiko. Er sah erst auf den Namen am Klingelschild und dann sie an. "Ja, hallo?", hörte sie Jims Stimme aus der Sprechanlage, Heiko hörte sie auch. Er sagte: "Werbung, bitte", und die Tür begann zu summen. Christa verschwand im Hausflur.

Lisa Brückner - Die Liebe für ihn war spielerisch, denn ist die Liebe nicht ein Spiel?

Lisa Brückner
Die Liebe für ihn war spielerisch,
denn ist die Liebe nicht ein Spiel?

 

Sein Aussehen scheint abstrakt, wie gemalt von Picassos Hand, genauso unlogisch zusammengefasst in einer Flut von Farben, die das Auge kaum wahrnehmen kann, sprich unlogisch zusammengefasst in Form und Farbe, aber Picasso und unlogisch?

In unlogischer Logik logisch, aber genial ist er irgendwie schon, aber der wahre Phantast ist Malewitsch. Aber sein Aussehen zeigt, entzückt, denn es ist ein Farbenspiel der Sinne.

Die Haare hoch getürmt, blondiert und grün, ausgefranst am oberen Ende, feines Gesicht, hellblaue Augen, so tief wie ein tiefer Ozean, so blau wie ein blauer Ozean.

Kleidung vermag auch nicht zusammenzupassen, aber er sagt es ja selbst, "Punk’s not dead", ist für Anarchismus, lebt für die Sex Pistols, Vivien Westwoods Modekreation und liebt die Geschichten über Hausbesetzung und so steht er da in Lederjacke, mit Gerümpel behangen, den halben Eisenwarenladen im Gesicht, karierte Hosen, wie die Schotten Röcke tragen und die Springerstiefel zurecht geknotet mit roten Senkeln.

Er behauptet, Alter und Name vergessen zu haben, aber sein Personalausweis zeigt Name und Alter an, steht da für jemand, wenn er jemand seinen Ausweis zeigen würde, aber wer ist schon jemand? Jemand kann jedermann sein.

Die Schönheit ist ihm ins Gesicht geschrieben, aber ob’s ihm nützt, weiß er selber nicht. Er sitzt oft da, wo er oft sitzt, warten am Ostkreuz, aber warten tut er nicht auf Züge, die ein- und ausfahren, sondern auf das, was früher mal war. Aber was früher war, kann jetzt nicht mehr sein, aber er will es nicht wahr haben, will es nicht oder kann es nicht, eins von beiden.

Und wenn er da so da sitzt, wartend am Ostkreuz, tausend Gedanken schweben an ihm vorbei und Züge fahren ein, Ansagen, einsteigen und zurückbleiben, hin oder her, ihm ist es egal. Auch kann der Tod nicht rückgängig gemacht werden, in der Literatur wäre es wirklich und möglich, da ist alles möglich, im Inbegriff der Literatur stehen die Dinge anders, nichts erscheint ihm so reell wie damals.

"Ich liebe dich", hatte sie oft gesagt, immer hieß, ich liebe dich, sie liebten sich, nicht nur körperlich. Ob sie schön aussah, weiß er nicht, aber die Gedanken zu ihr sind umso schöner. Oft hatten sie genau dort gesessen, wo er jetzt sitzt, manchmal küssend, manchmal stillschweigend, manchmal auch nur ab und an ein zärtlicher Streichler.

Und so saßen sie dann immer da, um die Leute zu beobachten, die zu den einfahrenden Zügen hetzten und wetzten und immer johlte die schier nervige Durchsagenormalität:

"Einsteigen— bitte! Zurückbleiben— bitte!" Wenigstens ein bitte über die sonst so müden, kalten Lippen. Er saß da, sie in seinen Armen. Lachen taten sie beide über fettige, massige Körper, über schleifende Gangarten, besoffene, schizophrene Monster und Gestalten, die man noch nicht mal bei Nacht hätte rauslassen dürfen.

Wurde es dann zu kalt, glitten beide davon, zurück ins Nirgendwo, in seine Behausung, die sich sein Heim nennt und dort nach regelrechten Kochorgien, mal indisches Curryhühnchen, dann mal deutsches Hühnchen oder einfach nur Eis, aber meistens Hühnchen, denn sie liebte Hühnchen. Nach Kochorgien der Leidenschaft, gestehe, denn Liebe geht bekanntlich durch den Magen, wurden Kleider vom Leibe gerupft und das körperliche Liebesspiel begann.

Leidenschaftlicher denn je war es, wenn gefeiert wurde, wie etwa, wenn man ein Jahr zusammen war, dann zwei und schließlich drei, und nach diesem dritten und für ihn doch eigentlich schönsten Jahr, sollte dann Schluss sein.

Er sitzt so da, Züge übers Ostkreuz fahrend, und er wartend, wartend auf sie, aber kommen wird sie nicht mehr. Wie von Picassos Hand gemalt, getaucht in einen unlogischen Reim der Farben, quasi Magie. Was ist Magie und Bernward Vesper?

Schwört auf keine Politik, denn jede Politik ist der reinste Mist, wenn es nur der Anarchismus wäre, denn das ist die wahre Politik und gegen Nazis ist er auch. Aufnäher auf seinem Armeerucksack umschreiben es, da heißt es "Nazis raus" und dazu durchgestrichen, fett und offensichtlich das Hakenkreuz.

Sie konnte so schön seinen Namen sagen, mit ihrer rauchigen Stimme, in etwa wie die von Zarah Leander. Sie konnte so toll stricken, häkeln, sticken, gelernt hatte sie von der Oma mütterlicherseits, ihrerseits Flüchtling aus Pommern.

Sie konnte so schön zärtlich sein, mit Finger und Spitze den Rücken streicheln, mit etwas Druck die Wirbelsäule entlang fahren und vor allem war die Sache, dass er sie geliebt hatte. Kriegsähnliche Zustände gab es oft, denn allein die Frage nach welcher Seite hin wer schlafen soll, sie außen und er innen oder er außen und sie innen, endete damit, dass er die Decke packte, die als Überwurf diente, und sich verkroch, liegend auf dem Teppich von Ikea, eingeklemmt zwischen Kühlschrank und Herd.

Denn er sagte immer, besser schläft sich’s in der Küche. Der Essensgeruch stillt auch im Schlaf den Hunger. Essensgeruch sättigt.

Später schlich sie dann immer zu ihm, fasste seine Hand, kroch zu ihm unter die Decke, später erwachte er und spürte ihre so vertraute Wärme und ein leichtes Lächeln und er dachte an Kindskopf und so weiter, summte noch ein Lied von Pantera und besann sich dann wieder in den Schlaf zurück.

Kennen gelernt hatte er sie am Ostkreuz, genau dort, wo er jetzt sitzt. Sie hatte dagesessen, auf der Bank, zutiefst betrübt und sah aus wie von Toulouse-Lautrec gezeichnet/ gemalt, so perfekt umspielt waren ihre Formen des Körpers und Gesichts. Haare einfach locker im Nacken zusammengebunden, wirr, vielleicht nachlässig durchgekämmt, nicht beachtet, dass es eigentlich hundert Bürstenstriche sein müssen.

Er fand sie so liebreizend, so rosenfreudig, so krass genial eigentlich schon.

Obwohl sie gerade Rotz und Wasser flennte, ging er zu ihr, fragte nach dem Problem, was sei, und sie erzählte ihm, dass sie im Leben kein Leben sah und alles grausig dumm finden würde, und aus diesem Satz ergriff sich ein dreistündiges Gespräch, schon beinah eine ganze Lebensphilosophie und aus diesem einen doch so banalen, belanglosen Satz, den sie von sich gegeben hatte, war am Ende schon der erste zurückhaltende Kuss, aber überaus zärtliche Kuss. Sie sah in ihm einen Adonis in punkrevolutionärer Gestalt, hielt ihn für intelligent, intellektuell und sonst auch so rasend hübsch und auch das Gefühl, dass er bei ihr saß, machte sie rasend. Drei Jahre ging alles gut und dann so weiter.

Beide ergänzten sich wie Hell und Dunkel, Feuer und Wasser, Leben und Tod, dazwischen diese Angst, die er hatte, sie zu verlieren.

Aber nach drei Jahren der Leidenschaft, des Unendlichen im Unendlichen, verstand er erst jetzt den Doppelsinn. Es ging alles wirklich ganz schnell. Innerhalb von nur drei Wochen stürzte sie in eine Depression, aus der sie nicht mehr herauskam und auch er hatte alles schier Unmögliche versucht, sie da wieder herauszuholen, aber es gelang ihm einfach nicht.

Drei Wochen kein leidenschaftlicher Kuss und er erblickte in dem Anfang ein Ende. Das Bye an sie, denn er wollte sie so nicht haben, aber sie verstand nicht.

Zwei gezielte Pulsaderschnitte und sie schied aus dem Leben.

Und er sitzt da, alles im Gedankenrausch, rauschender Rausch im Rausch der rauschenden Gefühle der fühligen Gefühle in seiner gefühlvollen, vollfühlenden Gefühlswelt. Aufgerüttelt, fertig, seelisch abgeleitet.

In Beobachtung, die Ostkreuzbahngänger. Bahnhof Ostkreuz war für ihn Ort und Treffpunkt der Liebe gewesen. Aber wo der Tod, da kein Leben mehr. Aber er kann einfach nicht vergessen, kann sie nicht vergessen. In Gedanken zu ihr spürt er es immer noch, das Gefühl der Liebe. So oft er drüber nachgedacht, ein Ort, ein Bahnhof, den im Jahr Dutzende von tausend Menschen passieren, überqueren, an so einem stets überfüllten Ort hatte er sie getroffen. Die Sache mit ihr ist schon so lang her. Bald sind es fünf Jahre, wenn er richtig zählt, aber vergessen kann er sie nicht, sie bleibt für ihn stets unvergessen.

Er sagt von sich, dass Name und Alter unwichtig seien, so hat er angeblich Name und Alter vergessen, aber würde man ihn nach dem Personalausweis fragen, vorgezeigt, und dort steht für irgend jemand Name und Alter, aber wer ist schon irgend jemand?

Zur Musik von den Sex Pistols, wie sie immer sagte "Chill-out-Musik", haben sie Curry-Hühnchen gegessen und sie niedlich piksend mit der Gabel nach den fein klein geschnittenen Hühnchen sichten. Er hatte ihr immer das Hühnchen geschnitten, wie bei einem kleinen Kind. Ein wankelmütiges Lächeln über ihren Lippen.

Sie und er, laufend über S-Bahnschienen, die zum Ostkreuz führen, mitten in der Nacht, hörend nach den Geräuschen der kommenden Bahn.

Er und sie, in Zweisamkeit bis hin in absolute Einsamkeit. Sie hielt nichts von Büchern, denn wie sie immer sagte, das sei Verschwenderei, denn Worte und Papier, was bringen sie dir. Erinnerungen hin und her, Gedanken sind Phrasen, Gedanken sind phrasenhaft und er spielt mit Gedanken, all das zu vergessen, hinab zu gleiten in das unbewusste Sein, sein Abscheiden der Gesellschaft, sein Herabschreiten in alles oder nichts, denn es ging um alles oder nichts.

Vermag zu keinem Entschluss zu kommen, aber wieder hört er einen einfahrenden Zug, wieder die Lispelstimme, die sagte:

"Einsteigen— bitte! Zurückbleiben— bitte!"

Stürmende, hetzende, wetzende Menschenmassen, behangen mit Taschen, Körben, Kindern, Partnern und Hunden. Täglich sitzt er hier, gemalt wie von Picassos Hand, wie ein Gemälde, sitzend auf dem Bahnhof, Name: Ostkreuz und immer hundertmal täglich: Einsteigen— bitte. Zurückbleiben— bitte.

Die Liebe am Ostkreuz hatte er getroffen, aber auch dort gelassen. Erinnerungen und Gedanken an sie. Die Liebe für ihn war spielerisch, denn ist die Liebe nicht ein Spiel?

Juliane Jeske - Bahnhofsmission

Juliane Jeske
Bahnhofsmission

 

Wir möchten die Geschichte von Oleg erzählen. Eine Geschichte, die gewöhnlich und ungewöhnlich zugleich ist. Sonntagstraße 17 — so die Adresse dieses eigenartigen, manchmal hektisch wirkenden Mannes, dessen lockig raues, schwarzes Haar das offensichtliche Leiden an schuppiger Kopfhaut kaum zu verbergen vermag. Hinter zwei Gläsern gegen die Kurzsicht blinzeln unentwegt und völlig nervös zwei dunkelbraune Augen. Diese periodischen Zuckungen der Augenlider sind vermutlich ein Ergebnis des netzhautmissbrauchenden, täglichen Gestarres auf den PC-Bildschirm. Wie er mit dieser offensichtlichen Überstrapazierung seines Sehnervs noch lesen kann, ist ein Rätsel. Und Oleg liest viel — Stendhal, Molière oder die GEO, seine Wohnzimmerschrankwand gleicht in Größe und Fülle einem Bibliotheksregal.

Der 31-jährige war bisher nie mit einer Liebe beseelt und seine sozialen Kontakte beschränkten sich auf das Schrippen Kaufen beim Bäcker und das monatliche Kaufen der ABC-Monatskarte immer am Ersten, immer am Ostkreuzschen Fahrkartenschalter. Von da aus auch fährt er jeden Tag pünktlich zur Arbeit; und wenn er nach Feierabend mit der letzten Bahn am Gleis 14 hält, macht er es sich manchmal auf einem der Stühle der letzten Sitzgruppe bequem und schweigt vor sich hin und versucht in der Stille Geräusche wahrzunehmen. Wenn er ein Papiertaschentuch in der Jackentasche hat, reißt er unentwegt kleine Stücke davon ab und rollt sie zu Kügelchen und versucht sie auf die Schienen zu schnipsen. Da der Bahnhof nachts trotz eingestellten Zugverkehrs nicht abgeschlossen wird, vergeht die Zeit, ohne dass es ihn kümmert. Warum er da sitzt, fragt er sich dennoch jedes Mal und warum er nicht nach Hause geht. Vielleicht ist es das nun menschenleere Gleis, das am Tage so gut besucht ist, das ihn aus unerfindlichen Gründen fesselt. In einsamer Wichtigkeit schaut er dann zum Wasserturm hinüber. Oleg ist auch jemand, der immer noch mal nachfragt, wenn er etwas längst verstanden hat, um auf diese Weise ein noch so bedeutungsloses Gespräch bedeutend zu machen. Auf seiner Arbeit hingegen ist er eher der wortkarge Typ, der sich trotzdem großer Beliebtheit erfreut, da die Redakteure, die für seinen Arbeitgeber schreiben, ihn um sein computertechnisches Fachwissen und seine augenscheinlich quadratische Art zu denken beneiden, die ihnen so manches mal den Anus gerettet hat, weil Oleg spurlos verschwundene Artikel aufspüren kann. Privat hat jedoch keiner seiner Kollegen weiter mit ihm zu tun, denn man nimmt an, der Laptop belege seine eine Doppelbettseite.

An einem kalten Dezembermorgen stand er wie üblich auf dem Bahnsteig und wartete auf seine Bahn Richtung Schönefeld. Er biss in einen fast aufgegessenen, giftgrünen Apfel und verharrte einen Moment, als er eine Frau mit orangeroten Haaren erblickte. Er dachte an etwas Schönes. Ihr war kalt und deshalb tippelte sie mit den Füßen hin und her. Sie studierte den Abfahrtsplan und er sah darin die Begründung dafür, sich in ihre Nähe begeben zu können. Er dachte auch, dass er, bevor er dies täte, den Apfel mal von seinem Mund entfernen müsste, der, wie ihm schien, durchaus schon sehr lange mit ins Fruchtfleisch gebohrten Zähnen an den Lippen hing, da die Gier, nach einem Weibe zu starren, alle anderen Tätigkeiten leicht in den Hintergrund rücken lässt. Den Griebsch also schmiss er vorschriftsmäßig in den entsprechenden Mülleimer. Mit übertriebener Gelassenheit begab er sich zu der Rothaarigen, die sein plötzliches Erscheinen mit einem flüchtigen Blick quittierte. Während er so tat, als suchte er seine Abfahrtszeit, träumte er davon, wie er sie ansprechen und spontan den Tag Tag sein lassen würde und vielleicht um den Müggelsee spazieren würde. Einen Strauß Blumen würde er ihr pflücken, weil in seiner Fantasie Sommer ist.

"…Nee. Ich muss zur Arbeit und Gott weiß, wohin die jetzt muss und überhaupt, war ja auch nur so 'ne Idee." Als er nun zwischen der vermeintlichen Möglichkeit des Ansprechens und der, es zu lassen, abwägte, kribbelte seine Nase und er spürte die Kraft eines heranwallenden Niesens und widersetzte sich ihr nicht, sondern sah sich in Anwesenheit dieser fremden Dame gezwungen, die Hand zum Munde zu führen, durch deren Fingerlücken ein paar Schleimtröpfchen entwischten, die auf der Fahrplanscheibe ein Ziel gefunden hatten und im Licht der einfallenden Wintersonne glitzerten. Oleg verzog das Gesicht, die Rothaarige stiefelte angewidert davon. Glücklicherweise wusste sie bereits, welche Bahn sie heute Abend zu nehmen hatte, damit sie rechtzeitig zur Orchesterprobe erscheinen würde. Genuives ist Kontrabassspielerin. Am gleichen Abend kam sie mit einem der letzten S-Bahnzüge am Ostkreuz an und wünschte sich nichts mehr, als die Füße hoch zu legen. Eine nicht ganz auskurierte Angina quälte sie seit nunmehr zwei Wochen und ab und zu wurde ihr heute schon schwarz vor Augen. Das Umherschleppen ihres neben ihr doch sehr groß — geradezu bombastisch wirkenden Kontrabasskoffers, erleichterte ihr Vorankommen nicht unbedingt. Beim Aussteigen schon merkte sie, dass ihr schlecht wurde und alle Zeichen deuteten auf eine sich anbahnende Ohnmacht hin. Sie hatte nur noch die letzte Sitzgruppe des Bahnsteiges vor Augen, zu der sie sich vorkämpfen wollte, um nicht einfach umzufallen. Den Koffer lehnte sie an die Scheibe des Wartehäuschens, um dann letztendlich doch selbst innerhalb weniger Sekunden einfach nur weggetreten dazuliegen. Ein Sicherheitsservicemitarbeiter sah wenig später den leblosen Frauenkörper und eilte mit Besorgnis zu diesem hin. "Schaffhäuser hier. Einen Krankenwagen!", funkte er die Kollegen in der Zentrale an, denn alle Versuche das blasse, zierliche Persönchen in die Realität zurückzuholen, schlugen fehl. Auch beim Eintreffen des Krankenwagens war Genuives Zustand unverändert. Man fuhr sie in die Poliklinik und legte ihr sofort eine Infusion. Ihr Arbeitseifer und Ehrgeiz verboten es ihr, in der nahe liegenden Vergangenheit an ihre Gesundheit zu denken und so musste sie sich mit 39 Grad Fieber und wiedergewonnenem Bewusstsein den lehrerhaften Vortrag eines Assistenzarztes in der Notaufnahme anhören. Als die Fieber senkenden Arzneien ihre Wirkung zeigten, empfahl man ihr, ein Taxi für den Nachhauseweg zu wählen. Als die Straßenlichter der Petersburger wie ein Schleier an ihr vorüber zogen, schrie sie plötzlich schüchtern auf: "Mein Kontrabass! Äh, S-Bahnhof Ostkreuz bitte!", befahl sie dem Taxifahrer regelrecht, der nur ein schwaches "Ja" brummte und verständnislos mit dem Kopf schüttelte. "Ein Uhr 45, mein Kontrabass! Verstehen Sie? Ich hab ihn auf dem Bahnsteig vergessen, beziehungsweise… ach egal. Beeilen Sie sich bitte einfach, ja?" Die Hitzewallungen, die sie nun aufgrund ihrer Erregung über den erst jetzt bemerkten Verlust überfielen, waren ihrer Verfassung nicht gerade zuträglich. Es dauerte nicht lange und Genuives stand wie versteinert vor der einsamen Sitzgruppe und blickte mit leeren Augen hinüber zum Wasserturm.

Circa eine Stunde zuvor fuhr die letzte Bahn aus Schönefeld ein, aus der Oleg stieg um seinem "Gleis-14-Hobby" zu frönen. Er ließ sich wie immer auf der letzten Sitzgruppe nieder und bemerkte erst nach einer Weile den Kontrabasskoffer. Verwundert durchsuchte er die nähere Umgebung nach besitzanzeigenden Personen. Niemand da, außer ihm und dem Koffer. Einen Moment lang beobachtete er ihn, schaute dann wieder rüber nach Rummelsburg. Im Stillen hatte er längst beschlossen, den ominösen Koffer beim Losgehen einfach mitzunehmen.

In der Sonntagstraße angekommen lagen nun nur noch fünf Etagen zwischen seinem Fundstück und dessen neuem Zuhause. Oleg schloss die Tür auf und linste noch mal kurz zum Spion der Nachbarstür, als würde dieser seinen neuen Besitz sofort als Diebesgut enttarnen. Zunächst stellte er das Objekt neben die Ritterrüstung im Flur. Die hatte er sich vor Jahren als Dekorationsaccessoire zugelegt, weil sie ihn an seinen Traum aus Kindertagen erinnert, ein ehrenwerter Ritter zu werden — nicht irgendein Konjunkturritter, nein, Oleg selbst, ja er höchstpersönlich würde im Alleingang, keine Gefahr scheuend, den Drachen besiegen und die Prinzessin befreien — so oder so ähnlich jedenfalls. Als er dann älter wurde, musste er mit großem Bedauern feststellen, dass heutzutage niemand mehr einen solchen Ritter braucht. Lediglich der Traum und die Eigenwilligkeit, die auch der Rest seines Wohnungsinterieurs ausstrahlt, sind ihm geblieben. Nachdem er Jacke, Schal und Mütze abgelegt hatte, konnte er seine Aufmerksamkeit voll und ganz dem Instrumentenkoffer widmen. Schlitzohren gleich öffnete er diesen, als würde er den Aktenkoffer nach einem Juwelenraub öffnen und auf das Strahlen der sich darin befindenden Diamanten warten. Stattdessen lag wie schlafend ein wunderschönes Instrument vor ihm gebettet auf tannengrünem Satin. Behutsam nahm er es heraus und zupfte könnerhaft an den Saiten, als ihm ein kleiner, gefalteter Zettel ins Auge fiel. Darauf geschrieben stand in Blockschrift: "GENUIVES PRIMAVERA, LENBACHSTRASSE 6, 10245 BERLIN". Oleg sprach den Namen noch mal laut aus: "Genuives Primavera", und wendete verdutzt den Zettel, um nach weiteren Informationen zu fahnden. Nichts.

Genuives derweil lag unruhig und wach, wie sie es oft bei Vollmondnächten tut, und betrachtete ihren Kunstdruck von Dalí, "Die Madonna von Port Lligat", und wartete auf irgendein Zeichen, dass ihr den Verbleib ihres ach so geliebten Kontrabasses verrät. Um sich abzulenken, wusch sie Wäsche. Teilnahmslos starrte sie in die Scheibe der Waschtrommel und dachte: "Ein neues Instrument. Das muss erst eingespielt werden. Jeder wird hören, dass es neu ist." Und während sie sich fragte, woher sie überhaupt das Geld dafür nehmen sollte, klingelte es an der Tür. "Fünf Uhr morgens?", erschrak sie kurz und schlich zur Sprechanlage. "Ja?"

Ihr Besuch ließ sich mit seiner Antwort Zeit: "Entschuldigen Sie die späte Störung. Mein Name ist Oleg, … Oleg Losow", seine Stimme klang sympathisch, "ich hab ihre Adresse gefunden — in dem Kontrabasskoffer meine ich. Ich wollte ihn zurückgeben." Genuives durchfuhr ein wohliges Gefühl, vergleichbar mit dem Gefühl, das man hat, wenn die Sonne einem das Gesicht wärmt, nachdem der Himmel wochenlang bewölkt und grau die ohnehin schon enge Stadt zerdrückte. Wortlos betätigte sie den Summer und eilte in das Treppenhaus hinaus dem ehrlichen Finder entgegen. Oleg traute seinen Augen kaum: "Die Rothaarige!", konnte er seine Feststellung grade noch für sich behalten. "Warten Sie, ich trag es Ihnen hoch", winkte er ihr Angebot zu helfen ab. Oben angekommen versuchte Genuives ihre Freude zu zügeln. "Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Also es ist ja prinzipiell schon Frühstückszeit. Sie… ach, tun Sie mir doch den Gefallen und lassen Sie sich auf einen Kaffee einladen." Aus einem Kaffee wurden zwei.

Horst-M. Müller - Am Ostkreuz

Horst-M. Müller
Am Ostkreuz

 

’ne Fete wie’s sie öfter gibt:
ich sehne mich nach Frauenhaut
und – haar, nach ihren Körpersäften
will spüren, schmecken, riechen.

Wir reden, lachen
und du rauchst
du trinkst
(ach würdest du das lassen,
statt dessen mit mir … ?)

Wir gehen zum Ostkreuz,
du sagst mir Namen
und dein Telefon
Abschied ohne Zärtlichkeit
gut gebremste Emotion
darüber Stahl, Beton und alte Bretter.

Die Bahn rast durch die Winternacht
— wär’s Sommer
begänn es jetzt zu dämmern—.
Erinnerung an dein Gesicht
das Mal auf deiner Stirn.
Und deine Seele?
wie verletzlich
ist wohl
deine
Seele?

Doris Bewernitz - Amors Durchbruch Ein Schicksalsstück in sechs Akten

Doris Bewernitz
Amors Durchbruch
Ein Schicksalsstück in sechs Akten

 

I. Akt

"Verstanden?!", fragt das Schicksal streng. Amor nickt. "Dann wiederhole die Namen. Nicht dass du wieder alles verdirbst. Im Übrigen sind die Sechs morgen in Berlin."

Amor beißt sich auf die Lippen und schluckt seinen Ärger herunter. Er zählt auf: "Irina Konstantin mit Pjotr Andrejowitsch, Astrid Valmi mit Yasim Puti, Andrea Züllow mit Fred Vollmer."

"Die Fotos liegen im Archiv für dich bereit."

"Ich weiß." Diesen Kommentar kann er sich nun doch nicht verkneifen. Wieso behandelt ihn das Schicksal eigentlich immer wie den letzten Deppen? Schließlich hat er oft genug erfolgreich gearbeitet. Wenn es auch einige Male, zugegebenermaßen, gründlich schief gelaufen ist. Aber lag das einzig und allein an ihm? Diese Menschen heutzutage wollten sich doch gar nicht mehr verlieben! Und selbst wenn er es geschafft hatte, waren die meisten nicht nach ein paar Wochen wieder auseinander gerannt? Was für eine schöne Zeit hatte er vor zweihundert, dreihundert Jahren! Da wurde sich noch anständig verliebt, geschmachtet, irgendwann verlobt und schließlich geheiratet. Ach ja!

"Träum nicht schon wieder! Wie willst du jemals anständig arbeiten, wenn du nie bei der Sache bist!"

"Ich bin bei der Sache."

"Hoffentlich. Und vergiss die Bilder nicht!"

Die sechs Pfeile, die ihm das Schicksal reicht, drei rote für die Frauen und drei blaue für die Männer, steckt Amor trotz seines Ärgers behutsam in den Köcher. Optimistisch schwingt er den Bogen über die Schulter. Er hat schon einen Plan. Diesmal wird es glücken. Er will sich nicht wieder anhören, dass er für seinen Job unfähig sei. Nur weil er selbst noch keine Frau gefunden hat, wie böse Zungen behaupten. Er wird es ihnen zeigen. Es gibt da in Berlin so einen belebten S-Bahnhof, da wird er sie aufeinander treffen lassen. Dann kann er alles auf einmal erledigen und hat noch Zeit für einen Stadtbummel.

Der Archivar erwartet ihn schon.

"Na Kleiner, hab gehört, du hast in Berlin zu tun? Das wird ja bestimmt nicht einfach."

"Fängst du auch schon an auf mir rumzuhacken?"

"Sei doch nicht immer so empfindlich. Schließlich hast du dich in letzter Zeit nicht mit Ruhm bekleckert."

"Ich kann es schon bald nicht mehr hören. Ihr habt ja keine Ahnung, wie es da unten zugeht. Du sitzt hier in deinem Archiv — na prima. Hier ist es wie immer…"

"Komm schon, nichts für ungut. Hier sind die Bilder. Mein Gott, was für eine Menge Alleinstehende es in dieser Stadt gibt. Da habt ihr noch Arbeit für Jahre, du und deine Kollegen!"

"Das heißt Singles."

"Was?"

"Man sagt nicht mehr Alleinstehende, das heißt jetzt Singles."

"Merkwürdig. Naja. Sehen ja nicht schlecht aus, die sechs Einsamen, aber hier guck mal, die beiden sind schon ganz schön alt, findest du nicht?"

"Zum Verlieben ist man nie zu alt – und ab morgen gibt’s sechs Singles weniger in Berlin."

"Na wollen wir es hoffen", murmelt der Archivar, was Amor so ärgert, dass er grußlos aus der Tür rauscht. Warum traut ihm eigentlich keiner etwas zu? Ihm, der auf eine Familientradition von sechs Generationen zurückblicken kann und sogar noch den Bogen seines Urgroßvaters benutzt? Er wird es ihnen allen zeigen.

 

II. Akt

Irina steht auf dem oberen Bahnsteig Richtung Grünau. Sie friert, obwohl sie in einen dicken schwarzen Wollmantel mit Pelzkragen gehüllt ist, aus dem ihr zartes Gesicht wie ein verfrorenes Mausekind herauslugt. Vom Schicksal ist sie also Pjotr zugedacht, doch das weiß sie nicht. Ja, sie kennt ihn noch nicht einmal.

Pjotr steht auf dem unteren Bahnsteig Richtung Spandau und kauft sich zwei Navelorangen am Obststand. Er stampft mit den Füßen auf die kalten Steine. Nicht vor Kälte. Und nicht etwa vor Wut. Pjotr ist ein friedlicher Mensch. Er stampft aus Sehnsucht. Sehnsucht ist sein einziges Problem, und zwar Sehnsucht erstens nach einer Frau und zweitens nach seiner Heimat. Gerade jetzt, in dieser vorweihnachtlichen Zeit, wird die erste Sehnsucht wieder richtig quälend. Und deshalb kauft er zwei Apfelsinen. "Vielleicht", denkt Pjotr, "treffe ich sie ja heute. Ich habe so ein Gefühl. Und dann kann ich ihr eine Apfelsine schenken." Wie wir sehen ist Pjotr sehr romantisch veranlagt.

Irina und Pjotr stehen nur knappe fünfzig Meter Luftlinie voneinander entfernt. Amor, der sich mehr schlecht als recht zwischen ihnen auf dem Dach eines Bäckerstandes postiert hat, flucht leise vor sich hin. Das mit den verschiedenen Bahnsteighöhen ist sehr unangenehm. Das glaubt ihm nachher wieder keiner. Als wolle er sich selbst verhöhnen, fällt ihm jetzt auch noch der passende Satz aus dem Lehrbuch für Engel ein: "…eine vorherige Ortsbegehung ist anzuraten."

Die Menschenmassen auf diesem Bahnhof bringen ihn völlig durcheinander.

"Konzentriere dich!", sagt er zu sich selbst, "geh an die Arbeit!"

Schon seit Jahrzehnten beschäftigt ihn die Frage, wie es möglich wäre, die Pfeile in Richtung Mann und Frau gleichzeitig abzuschießen. Die durch das Nacheinander entstehende Zeitverzögerung senkt die Erfolgsquote ganz erheblich, davon ist Amor überzeugt. Am Anfang des vorigen Jahrhunderts organisierte er sogar eine Konferenz der weltweit tätigen Liebesengel zu diesem Thema, die außer einigen akrobatischen Übungen (gleichzeitiges Schießen mit zwei Armbrüsten, was nur wenigen gelang) leider nicht sehr erfolgreich war. Amor seufzt tief auf.

Er legt seinen Bogen in Richtung Irina an. Zieht, zielt, schießt. Und trifft. Irritiert greift sie sich mit dieser unnachahmlichen Geste ans Herz, wie nur frisch getroffene Frauen sie zustande bringen. Trotz seiner langen Berufserfahrung steigen Amor auch diesmal wieder Tränen der Rührung in die Augen. Rasch wendet er sich Pjotr zu, aber sei es die Taube, die just in diesem Moment über das leicht schräge Dach läuft, sei es seine tränenbedingte Sichteinschränkung — der blaue Pfeil landet nicht in Pjotrs Herz sondern in einer der beiden Apfelsinen, die er immer noch sehnsuchtsversunken in den Händen hält. Pjotr erwacht aus seinen Träumereien und schaut verwundert nach oben. In diesem Moment fährt der Zug nach Grünau ein und Irina betritt ihn. Verzweifelt muss Amor mit ansehen, wie sich die Blicke der beiden genau in dem Moment begegnen, als sich Irinas S-Bahn in Bewegung setzt.

"Was für ein schöner Mann da unten", denkt Irina. (Sie denkt es natürlich auf Russisch). Pjotr denkt gar nichts. Er steht lange Zeit wie angewurzelt auf dem Bahnsteig.

Dann zieht er den kleinen blauen Pfeil aus der Apfelsine und steckt ihn sich an den Jackenkragen.

 

III. Akt

Amor ist Kerl genug, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, statt lange über das Missgeschick zu lamentieren. Obwohl sein Stresspegel schon deutlich gestiegen ist. Mit Erleichterung stellt er fest, dass seine nächsten Klienten beide auf einem Bahnsteig angekommen sind.

Astrid kauft sich einen Kaffee am Ditsch-Stand. Sie hat es eilig. Sie ist unterwegs zu einem Bewerbungsgespräch und sehr darauf bedacht, sich den Kaffee nicht über den roten Wollrock zu schütten. Hinter ihr steht Yasim, der heute den ersten Tag in Berlin ist, untergekommen bei einer Tante seines Cousins, die ihm sogar etwas Geld vorgestreckt hat. In ihrer Wohnung erstickte er allerdings vor lauter Plüsch und Spitzendeckchen und flüchtete in die riesige fremde Stadt. Nun weiß er nicht, wo er eigentlich hin will. Die Frau, die da vor ihm steht, gefällt ihm ausnehmend gut. Er würde sie gerne ansprechen. Aber leider mangelt es ihm an den nötigen Deutschkenntnissen.

"Einen Kaffee bitte", hört er sie sagen.

Als Astrid zur Seite tritt, rutscht sie auf einem Stück gefrorener Pizza aus und Yasim greift ihr instinktiv unter den Arm, um sie am Fallen zu hindern. Dabei schwappt ihr Kaffee und ergießt sich über ihren Rock. Yasim versteht nicht, warum die Frau mit weit geöffnetem Mund erst zu fluchen und dann zu weinen anfängt, als wäre ein großes Unglück geschehen. Er findet eher, dass ein Glück geschehen ist, denn er hat jetzt ihren Arm in seiner Hand und diesen Zustand würde er gerne beibehalten.

Die Frau scheint völlig verzweifelt zu sein. Doch als sie einmal kurz hoch schaut und Yasim ins Gesicht blickt, durchfährt es sie wie der Blitz. Wir ahnen schon, dass Amor genau in diesem Augeblick seinen roten Pfeil abschoss.

Astrid trocknet ihr Gesicht mit einem Taschentuch ab, während sie hervorstößt: "Ich habe ein Bewerbungsgespräch. Was mache ich denn jetzt bloß?"

"Würden Sie mal zur Seite gehen!", sagt ein dicker Mann mit Hund hinter Yasim, "man kommt ja hier gar nicht ran!"

Yasim hat Astrids Arm inzwischen doch losgelassen. Er ist irritiert. Er wüsste gern, was die schöne Frau da eben zu ihm gesagt hat. Es klang sehr emotional. Vielleicht galt es ihm? Sie weint jetzt auch nicht mehr. Ihren halbvollen Kaffeebecher hält sie ratlos in der Hand wie einen unbekannten Gegenstand. Sie blickt dem schwarzhaarigen Mann geradezu hypnotisiert in die Augen. "Na bitte", sagt Amor auf seinem Dach zu sich selbst, während er den blauen Pfeil aus dem Köcher zieht, "sie unterhalten sich schon."

"Wollen wir einen Kaffee trinken gehen?", fragt Astrid. Aber Yasim versteht sie nicht, obwohl ihn in diesem Moment der Pfeil erreicht, exakt in der Herzmitte. Er spürt es wie einen leichten elektrischen Schlag.

"Ich Yasim", sagt er und schaut ihr in die grauen Augen, die ihn mehr als alles faszinieren. Eine Weile stehen sie schweigend da. Er merkt, dass die Frau ihm etwas sagen will. Sie merkt, dass dieser Mann sie magisch anzieht. Das Bewerbungsgespräch tritt in den Hintergrund ihres Bewusstseins. Der Kaffeefleck auf dem Rock breitet sich langsam aus. Astrid lächelt verlegen und Yasim findet sie noch schöner.

Amor genießt diesen Anblick. Er freut sich. Er ist also doch kein Versager.

"Ich bin Astrid", sagt sie, "dieses Bewerbungsgespräch — so kann ich doch da nicht hin." Sie deutet auf ihren Rock. Yasim missversteht diese Geste und schüttelt beschämt den Kopf. Nein, denkt er verwirrt, so hatte sein Vater doch recht? Es stimmt also, dass alle Frauen in Deutschland verdorben sind, sündig, mit jedem ins Bett wollen, auf der Stelle… das ist ja furchtbar! Erschrocken dreht er sich um und rennt die breite Treppe zum oberen Bahnsteig hinauf als wäre der Leibhaftige hinter ihm her. Auf der Treppe zögert er kurz. Diese Frau hatte etwas… nein, aber so geht das doch nicht! Oben springt er sofort in die einfahrende S-Bahn, um nicht die schöne Frau mit den grauen Augen zu sehen, die immer noch dort unten steht, wie verloren.

Wenig später läuft Astrid auf den oberen Bahnsteig. Aber da ist Yasim schon fort.

Amor versteht die Welt nicht mehr.

 

IV. Akt

Andrea ist aufgeregt. Ob es heute klappt? Es ist ihr drittes Annoncentreffen. Diesmal hat sie ein gutes Gefühl. Ein wirklich interessanter Gesprächspartner war das gestern am Telefon. Er machte einen geistreichen Eindruck und war so offen. Aber sie ist alt genug um zu wissen, dass ein Telefongespräch noch nichts heißen muss. Wie er wohl aussieht? Es ist nicht einfach, wenn man fast fünfzig ist.

Mit klopfendem Herzen begibt sie sich zum Fahrkartenschalter, Ausgang Sonntagstraße.

Fred zupft noch immer an seinem Schlips herum. Allzu oft trägt er keinen und es bereitet ihm Mühe, sich die Knotentechnik zu merken. Er hat das erste Mal auf so eine Annonce geantwortet und ist immer noch ganz beeindruckt von dem gestrigen Gespräch. Die Ansichten der Frau gefielen ihm. Auch ihre Stimme. So weich.

Als er aus der S-Bahn steigt, amüsiert ihn der Gedanke, dass sämtliche Menschen, die er hier sieht, den Bahnhof nur aufgesucht haben, um sich mit jemandem zu treffen. Fred genießt die Vorstellung, dass sie nachher alle Hand in Hand den Bahnhof verlassen und die umliegenden Cafés aufsuchen. Er fragt sich, wie viele Singles es wohl in Berlin gibt. Er läuft die Treppen zur überdachten Fußgängerbrücke hinauf und begibt sich hoffnungsfroh zur Schalterhalle.

Auch Amor landet nach dem erfolglosen Absuchen aller acht Bahnsteige dort. Er erkennt die beiden sofort. Eine klassische Situation. Sie gehen in dem Moment aufeinander zu, als er die Halle erreicht. Amor beginnt zu schwitzen. Er darf sich jetzt keinen Fehler mehr erlauben. Warum zittern denn seine Finger? Warum sind seine Hände so feucht? In höchster Konzentration legt er den Bogen an und zielt auf das Herz von Fred…

Plötzlich gibt es einen lauten Knall.

Fred bleibt erschrocken stehen und auch Andrea blickt in Amors Richtung. Zu erkennen ist allerdings nur eine Staubwolke. Niemand sieht den weinenden kleinen Engel in ihr, der auf dem Boden sitzt, in jeder Hand eine Bogenhälfte. Der gute, alte, liebe Bogen seines Urgroßvaters ist zerbrochen. Amor ist vor Schreck erstarrt. Nun ist es aus mit ihm. Und wieder kommt ihm der passende Satz aus dem Lehrbuch für Engel in den Sinn: "Immer Ersatzwerkzeug dabei haben…"

Durch Tränen und Staub nimmt er undeutlich wahr, wie Andrea und Fred sich höflich, aber sehr kurz unterhalten, um dann in verschiedenen Richtungen davonzugehen. Nun weiß er, dass er versagt hat. Dass sie recht haben, das Schicksal, der Archivar und die anderen himmlischen Kollegen. Dass er unfähig ist.

Völlig kraftlos bleibt er auf den kalten Steinen sitzen.

 

V. Akt

"He du!", wispert eine feine Stimme neben ihm.

Was ist das? Wird er jetzt zu allem Übel auch noch seiner Unsichtbarkeit beraubt?

"Sei nicht traurig!"

Amor starrt in Richtung Stimme, kann aber vor lauter Staub nichts entdecken.

"So was passiert eben, ich kenne das."

Langsam lichtet sich die Staubwolke. Amor glaubt seinen Augen nicht zu trauen. Vor ihm steht ein ganz und gar liebreizender männlicher Engel, so groß wie er selbst, mit frecher Stupsnase und strohblonden Locken, und lächelt ihn an.

"Wer bist du?"

"Dein Kollege. Na komm schon. Ich hab gesehen, wie dir heute alles schief gelaufen ist. Lass uns einen Kaffee trinken gehen." Dieser Satz kommt Amor irgendwie bekannt vor. Noch ganz benommen steht er auf und klopft sich den Staub von seinem Gewand. "Nicht nur heute," sagt er dann fast trotzig, "es ist schon lange so. Ich tauge zu nichts mehr."

"Na, na", entgegnet der andere auf eine so liebevolle Art, dass es Amor ganz warm ums Herz wird. Und plötzlich bricht all sein Unglück aus ihm heraus: dass er sich als Versager fühlt, dass er zu alt ist, dass er die Welt nicht mehr versteht, dass er heute nicht ein einziges Paar zusammengebracht hat… Seine Tränen laufen jetzt hemmungslos und es tut ihm so gut, so unendlich gut, das alles mal erzählen zu können, in seinem Schmerz nicht immer nur alleine zu sein. Nach einer Weile holt sein Gegenüber mit einer rührenden Geste ein kleines rosa Taschentuch aus dem Engelsgewand, fasst zärtlich Amors Kopf und wischt ihm die Tränen ab. Dieser weiß nicht, wie ihm geschieht. Immer muss er in die taubenblauen Augen schauen. Was ist nur plötzlich mit ihm?

Bis in die späte Nacht ziehen zwei Engel durch Berlins Straßen und haben sich viel zu erzählen. Und nicht nur das.

 

VI. Akt

"Und?", fragt das Schicksal, "warst du erfolgreich?"

Es sitzt an seinem großen Schreibtisch und blättert konzentriert in riesigen verstaubten Aktenbergen.

"Sehr."

In diesem einen Wort liegt soviel Selbstbewusstsein, Stolz und Freude, dass das Schicksal unwillkürlich aufblickt. Mit allem hat es gerechnet, aber nicht damit, zwei Engel vor sich zu sehen, eindeutig bis über die Ohren verliebt, Händchen haltend wie zwei Teenager.

"Was ist denn das…"

"Ich war in doppelter Hinsicht erfolgreich", beginnt Amor, "erstens habe ich den Mann meines Lebens gefunden und zweitens habe ich das Problem der zeitverzögerten Pfeile gelöst. Wir möchten in Zukunft als Team arbeiten. Einer kümmert sich um die blauen Pfeile, einer um die roten…" — "…unter Umständen auch jeder um einen blauen…", ergänzt sein Freund grinsend.

"…oder jeder um einen roten, je nach dem", meint Amor, "jedenfalls können wir so sicherstellen, dass die Menschen, auf die es ankommt, sich zeitgleich verlieben…" — "…was ja wichtig wäre", fügt sein Freund hinzu und lächelt wieder sein unglaubliches Engelslächeln.

Das Schicksal starrt die beiden eine Weile ungläubig an. Und dann geschieht etwas höchst Seltenes. Etwas, das nur alle eintausendzweihundertdreiundsiebzig Jahre vorkommt, immer dann, wenn das Schicksal etwas Neues begreift. Beginnend mit kleinen Glucksern, als hätte es sich verschluckt, fängt es an zu lachen. Erst ganz leise. Es klingt ein bisschen eingerostet, was ja nach so langer Zeit kein Wunder ist. Das Schicksal klopft sich auf die Schenkel und lacht aus vollem Herzen. Zwischendurch schnappt es nach Luft und ruft: "Einverstanden! Ein – ver – stan – den!! Das ist genial!"

Sein Lachen scheint den ganzen Himmel anzustecken. Es poltert immer lauter und gewaltiger aus ihm heraus, bis ihm schließlich die Tränen aus den Augen springen, im Zickzack an den alten verschrumpelten Wangen herunter laufen und im Bart versickern.

Brigitte Apel - Die Bahnhofsbank

Brigitte Apel
Die Bahnhofsbank

 

Sie ging einfach rüber, wie fast jeden Tag. Damals gab es zwar Sektorengrenzen, aber keine Mauern. Sie ging zum S-Bahnhof Treptower Park, erstens, weil es der nächste war, und zweitens natürlich, weil sie für 40 Pfennig Ost hin und zurück fahren konnte, wohin immer sie wollte. Heute war Sonntag, und sie wollte nicht zum Zoo fahren, wie sonst immer zur Arbeit, nein, heute fuhr sie erst mal bis zum Bahnhof Ostkreuz. Dort hatte sie ein Rendezvous mit ihrem Freund. Weiß der Kuckuck, warum gerade am Ostkreuz — aber anscheinend war es an der richtigen Linie für beide, sie wollten nämlich raus fahren zum Baden. Die Badetasche flott über die Schulter gehängt, ging sie den lang vertrauten Weg, vorbei an ihrer alten Grundschule, wo sie eingeschult worden war, und die sie drei Jahre besuchte, bis es eine neue Schule im Westsektor gab. Vorbei an der geliebten Buchhandlung Plesser- Ecke Elsenstraße, wo sie immer Reclambändchen für die tägliche S-Bahnfahrt kaufte, heute war keine Zeit für schmachtende, sehnsuchtsvolle Blicke ins Schaufenster. Vorbei auch an der alten roten Backsteinkirche, wo sie vor Tag und Tau mit ihrer Schwester den Kindergottesdienst besucht hatte. Nicht dass man bei ihr zu Hause besonders gläubig war, aber die Mutter meinte: da wüsste sie wenigstens einmal, wo sie sich herumtreiben. Ja, das konnte man verstehen, sie ging immer arbeiten und hatte keinen großen Überblick. Natürlich spielten alle Kinder damals in den Trümmern, das war das Größte überhaupt, und natürlich hatten die Eltern es streng verboten. Sie trieben sich in großen Gruppen auf den Straßen, Höfen und Plätzen herum, bauten sich ganze Wohnungen auf dem Fahrdamm, mit Decken und Puppenmöbeln, Stube, Küche, Schlafzimmer. Autos gab’s ja kaum. Und kam mal eines vorbei, dann war immer noch genügend Zeit, den Kram ein bisschen zusammenzuräumen, so schnell waren die damals nicht. Weit kamen sie sowieso nicht, nur bis zur Kontrollstelle ein bisschen weiter die Straße runter.

Sie kannte die Gegend ihr Leben lang, es war ihre unmittelbare Heimat. Durch einen kuriosen Zufall bei der Grenzziehung nach dem Kriege war ihre Straße geteilt in Ost und West, die eine Seite gehörte mit Vorgarten zum amerikanischen Sektor und die gegenüber liegende Seite, samt Kohlenplatz und schönen alten Häusern, gehörte zum Osten. Aber das interessierte die Kinder überhaupt nicht, Ost oder West, sie nahmen alles in Besitz.

Inzwischen war sie am Bahnhof angekommen, hatte die Fahrkarten gelöst, hin und zurück, was sonst, und wartete auf den Zug. Für sie war es das ganz normale Leben, hier zu stehen und sie blickte wie immer auf das riesige Gebäude der Elektro-Apparate-Werke Treptow, das zwischendurch, oder immer noch, Josef Stalin geheißen hatte, Elektro-Apparate-Werk-Josef-Stalin. Was für ein erstaunlich langer Name, mehr dachte sie dabei nicht. Die Empörung der Westler gegen den ganzen Osten konnte sie nie teilen, zu viel Gutes hatte sie erlebt, alltäglich Gutes. Natürlich waren sie immer im Osten einkaufen gegangen, das bisschen Geld, das da war, wurde umgetauscht, sonst hätten sie noch ärmlicher leben müssen. Zum Beispiel hatte sie als Kind ihr Taschengeld für "Blankes putzen", 40 Pfennig im Monat, bei ihrem Vater umgetauscht und damit mindestens vervierfacht, das bedeutete Kino, Badeanstalt, Eis essen, mehrfach. Das war doch was! Später, etwas älter, als Jugendliche, war es das schönste Spiel, über die Grenze zu gehen in der Hoffnung, die jungen Vopos würden sie nach dem Ausweis fragen …, dabei bekam man den doch erst mit sechzehn!!! Na, und die Losungen und Schriftbänder an den Häusern, die wurden nur milde belächelt, mit Politik beschäftigten die jungen Mädchen sich nicht, die hatten ganz andere Sorgen. So richtig konnte sie den ätzenden Spott und die hämischen Bemerkungen der Erwachsenen sowieso nicht verstehen, was war denn einzuwenden gegen: "Deutsche an einen Tisch" oder "Frieden und Völkerfreundschaft" — fand sie gut eigentlich, aber darüber redete man besser nicht, gab nur Streit. Nun wurde es aber langsam Zeit, die Bahn kam und sie fuhr die eine Station über die riesige alte Eisenbrücke, guckte runter auf die Spree, auf die Weiße Flotte, dachte kurz an die Ausflüge als Kind mit Vater, Mutter und Schwester nach Schmetterlingshorst, die einzigen Reisen, die die Familie je zusammen unternommen hatte, ach, schön war das! Heute aber wollten sie zum Wannsee raus fahren, ins Strandbad, wenn er nur schon da war und alles klappte.

Am Ostkreuz stieg sie vergnügt aus dem Zug und wandte sich freudig erregt der Treppe zu, um hinunter zu gehen, aber aus irgendeinem Grunde stolperte sie ein wenig und zerriss ihre Sandale. So ein Mist aber auch. Wie nur weitergehen? Diese Sandale wurde nämlich nur von einem Zehenriemen am Fuß gehalten und hing jetzt lose um ihren Knöchel herum. Mühsam und vorsichtig humpelte sie also die Treppe hinunter, und da war er schon und legte seine langen Arme um sie. So standen sie eine kleine Weile traumverloren im Menschengewühl, gingen dann zu einer Bank, das Schuhproblem musste ja irgendwie gelöst werden. "Weißt Du noch, als wir uns das erste Mal trafen, hatte ich auch ein Schuhproblem", sagte sie und er schmunzelte bei der Erinnerung daran.

Eigentlich war er der Freund ihrer liebsten Freundin, die sie gebeten hatte, sich mal mit ihm zu treffen, damit er nicht auf dumme Gedanken kam, während sie verreist war. Und ohne Arg oder Hintergedanken war sie natürlich auch bereit dazu. Es wurde ein Treffen ausgemacht, ganz unkompliziert, denn sie kannten sich ja schon, wenn auch flüchtig. Sie wusste also, dass er sehr groß und schlank und blond war, ein Student, sonst in Westdeutschland beheimatet. Um so groß wie nur möglich zu sein, wollte sie zu dem Treffen ihre einzigen hochhackigen Pumps anziehen, rot waren sie, und vom ersten Lehrlingsgeld gekauft. Leider waren die Absätze so abgelaufen, die konnte sie unmöglich anziehen, dann müssen es eben die Ballerinenschuhe auch tun, ganz, ganz flache, ärgerlich, aber nicht zu ändern. Der erste Treffpunkt war irgendwo an der Endhaltestelle der U-Bahn und da sie etwas zu früh da war, ging sie in eine Telefonzelle, um ein wenig mit einer Freundin zu plaudern. In Wirklichkeit aber, um nicht so offensichtlich auf jemanden zu warten…

Als sie ihn kommen sah, beendete sie ihr Gespräch, wollte aus der Zelle hinausgehen, stolperte über eine Kante und flog in seine Arme — "Das war aber nicht eingeplant, dass ich dir gleich an den Hals fliege", sagte sie — und er hielt sie gleich fest und sie lachten und lachten und verliebten sich auf der Stelle ineinander, es war einfach unaufhaltsam. Ach, du liebe Zeit, das war ja nun nicht vorgesehen, so richtig frei waren sie eigentlich beide nicht.

Inzwischen war die Sandale mit Hilfe einer Sicherheitsnadel notdürftig repariert und sie konnten ihren Ausflug starten, aber noch saßen sie umschlungen und ineinander versunken auf ihrer Bahnhofsbank. "Wenn es doch nur immer so bleiben könnte", dachte sie.

Eine bittere Aufgabe hatte sie noch vor sich, die ihr selbst völlig contre cœur ging. Sie musste ihm sagen, dass sie sich heute für längere Zeit zum letzten Mal sehen können, denn morgen würde ihr so genannter Verlobter nach Berlin kommen, eine Quatsch-Verlobung, natürlich würde sie nie im Ernst etwas so Spießiges tun, aber das war schon so lange geplant und verabredet, es gab einfach kein Zurück, so sehr sie das auch wünschte. Sie hatte überhaupt keine Lust mehr auf den anderen Kerl, natürlich nicht, wusste aber keinen anderen Rat, als alles zu erzählen. Wahrscheinlich war es das Ende dieser so beglückenden und locker begonnenen Beziehung. Er würde ohnehin in den Semesterferien nach Hause fahren müssen und erst zum Wintersemester wiederkommen. Einfach alles zu beenden war die einzige Lösung, die ihr eingefallen war — und sie war sehr erfindungsreich. Schließlich konnte sie dann auch ihrer zurückgekehrten Freundin wieder in die Augen sehen, erzählen konnte sie ihr die ganze Chose sowieso nicht. Unmöglich! Im Winter würde man dann weiter sehen.

Im Laufe des herrlichen Sommertages, beim Baden und Sonnen vergaß sie aber erst mal ihre Sorgen. Zu schön war es, gemeinsam mit ihm auf der Decke zu liegen, ganz nah beieinander, bisschen schmusen, reden, die mitgebrachten Vorräte aufessen, umschlungen an der Strandpromenade auf und ab gehen und Popcorn kaufen. Sie hatte einen nagelneuen Badeanzug an aus einem ganz super modernen Material, irgendein Kunststoff, der eng am Körper lag und schnell trocknete. Er schwärmte von ihrer schönen Rückenlinie — na, und natürlich von dem ganzen Rest.

"Kommst du nachher noch mit zu mir?" fragte er sie in diesen glücklichen Momenten, nein, musste sie sagen, heute geht es nicht, aber er war nicht verstimmt, ein andermal eben, für ihn war der Sommer noch lang.

Er hatte sie schon einmal in sein möbliertes Zimmer geschmuggelt, Damenbesuche waren natürlich streng verpönt, aber wie sie schon von ihrer Freundin wusste, hatte er einige Übung darin. Sie hatten auf dem Bett gelegen, denn Sitzen war nirgends möglich, bisschen Musik gehört, Wodka getrunken und hingerissen von ihrer Lebendigkeit und ihrer Neuköllner Schlagfertigkeit hatte er ihr übermütig Komplimente gemacht: er sprach von ihren schönen lachenden Augen und na ja, von der schon erwähnten berückenden Rückenlinie, das hörte sie natürlich gern, insgeheim war sie nicht seiner Meinung. Aber dann sagte er noch: "Du bist wie dieser Wodka hier und deine Freundin ist dagegen eher wie schales Bier". Entsetzt wies sie das zurück, so etwas wollte sie auf keinen Fall hören. "Warum bist du mit ihr zusammen?", fragte sie, und er antwortete, sie sei eben ein lieber Mensch und er hätte sonst niemanden. Das schien ihr akzeptabel zu sein und sie kuschelte sich wieder in seine Arme und ließ sich drücken und küssen und streicheln. Sie hatten es so gut miteinander. Was sie für den verheißungsvollen Vorfilm hielt, war für ihn aber schon die Hauptvorstellung. Na klar, jetzt fiel es ihr wieder ein, das hatte ihre Freundin auch mal berichtet und es wohl ganz in Ordnung gefunden, sie hatte es aber nicht recht glauben können. Als er ihr aber diese Liebesvariante auch noch als sicheres Verhütungsmittel anpries, lachte sie ihn aus und sagte, er sei einfach ein alter Egoist und maulte aus Spaß ein bisschen herum, wie sehr sie doch zu kurz gekommen sei. Aber nun war es doch spät geworden und sie musste unbedingt die letzte U-Bahn kriegen und weg war sie.

Heute also nicht, es ging nicht, ihre Eltern warteten, es gab jedenfalls überzeugende Gründe. Am späten Nachmittag fuhren sie gemeinsam zurück, er brachte sie wieder bis zum Ostkreuz und sie wollte und wollte ihn nicht gehen lassen, die Minuten dehnen, den bitteren Abschied hinaus schieben. So saßen sie wieder auf ihrer Bank und hielten sich fest. Als er dann fragte: "Sehen wir uns die Woche?", da erzählte sie die ganze vertrackte Geschichte ohne alle Ausflüchte. Aber sie spürte schon, wie er sich in ihren Armen ganz versteifte und als sie ihm ins Gesicht blickte, sah er aus, als hätte sie ihn geschlagen. Das war das Ende ihrer Geschichte — obwohl, noch nicht ganz.

Zum Semesterbeginn war er wieder in der Stadt und wollte sie treffen. Vielleicht doch ein Neubeginn, der so genannte Verlobte war längst weggeschickt, sie war frei. Ach, war sie froh, wieder von ihm zu hören, sie hatte es so sehr gehofft.

Sie trafen sich gleich bei ihm in seinem engen Zimmer, an der neugierigen Wirtin vorbei, und stürzten sich auf- und ineinander, hungrig und gierig und voller Leidenschaft, alle Missstimmung, Schmerz und Sorgen waren vergessen. Jedenfalls erlebte sie das so und war glücklich und erleichtert. Aber seine Wirklichkeit muss eine andere gewesen sein, denn bei ihrer nächsten Verabredung erschien er nicht und meldete sich auch nie wieder. Erst war sie verwundert, dann enttäuscht, sie kam sich benutzt vor. Ein bisschen feige und auch ein bisschen mies, fand sie es, sich so davonzustehlen. Sie begann die Nacht in einem etwas anderen Licht zu sehen: hatte er etwas beweisen wollen oder müssen, ihr oder sich selbst? Eine Retourkutsche auf ihr leises Gespöttel wegen der sicheren Verhütungsmethode? Oder weil sie ihn so sehr verletzt hatte, dort auf der Bank am Ostkreuz, wollte er ihr nun auch Schmerz zufügen. Es war bitter, das nie wirklich erfahren zu können. Telefonisch erreichte sie ihn nicht und auf ihren Brief bekam sie keine Antwort.

Merkwürdigerweise traf sie ihn manchmal wieder in der großen Stadt. Im Frühsommer des folgenden Jahres sah sie ihn mit einer deutlich schwangeren Frau den Kudamm entlanggehen, aber nicht so wie sie immer gegangen sind, eng umschlungen, sondern mit einer gewissen Distanz, sie gehörten zusammen, das schon. Das wäre eine Erklärung für sein merkwürdiges Verhalten und sie dachte spöttisch und mit einer kleinen Schadenfreude: "Hoffentlich habe ich ihm das nicht eingebrockt, auf seine sichere Methode hat er da anscheinend verzichtet."

Einige Jahre später, selbst glücklich verheiratet und Mutter zweier kleiner Töchter, traf sie ihn in der Nähe der Akademie der Künste, ebenfalls mit zwei Kindern, etwas älter als ihre beiden. Aber es gab kein Erkennen, zu schnell waren sie aneinander vorbei und sie erschrak im Nachhinein darüber, dass das möglich war.

Einmal noch hörte sie von ihm. Jahrzehnte später traf sie in der Klinik, in der sie tätig war, unverhofft eine seiner erwachsenen Töchter, der Name war unverkennbar. Sie überlegte lange, aber dann traute sie sich doch, nach dem Vater zu fragen, wollte nur wissen, ob es ihm gut ginge. Sie stellte sich als eine alte Bekannte aus seiner Studienzeit vor, Freundin einer Freundin, die ihn und seinen Bruder damals, 1958, sogar in seinem Heimatort besucht hätten. Ja, es ginge ihm prima, erzählte die Tochter, ihre Eltern lebten beide in Berlin, seien aber geschieden und ihr Vater hätte gerade zum dritten Mal geheiratet. Nun, sein Leben schien auch nicht so ganz einfach verlaufen zu sein. Sie trug also der Tochter einen Gruß aus ferner Jugendzeit auf, vielleicht würde er sich ja erinnern. Sie selbst war sich da aber ziemlich sicher, nicht so sehr der verpassten Liebeschance wegen, die gab es, wenn man Glück hatte im Leben ja öfter, sondern wegen seiner kleinen Schäbigkeit damals, das haftet im Gedächtnis.

Wenn sie in den letzten fünfzehn Jahren mal mit der S-Bahn über Ostkreuz fuhr, musste sie immer an ihre kaputte Sandale denken, jedes Mal, nach all den Jahren. Aber es kam selten vor, sie lebte schon lange nicht mehr in Neukölln.

Mikis Wesensbitter - Himmelstor: Ostkreuz

Mikis Wesensbitter
Himmelstor: Ostkreuz

 

Die S-Bahn hatte sich im Schritttempo bis zum Ostkreuz geschleppt und dort mussten alle aussteigen. Der Zugverkehr war wegen des Blitzeises eingestellt worden, sollte aber jeden Moment wieder aufgenommen werden. Ich hatte beschlossen zu warten, was sollte ich auch sonst tun? Andere Verkehrsmittel fuhren ja erst recht nicht bei dieser Witterung und nach Hause laufen war unmöglich. Inzwischen war eine Stunde vergangen und jetzt würde ich hier wohl sterben. Meine Hände waren als erstes taub geworden, inzwischen spürte ich meinen ganzen Körper nicht mehr. Am Anfang hatte mich noch der Alkohol gewärmt, aber inzwischen war diese Energie längst verbrannt. Ich war im Sitzen eingeschlafen und nun konnte ich mich nicht mehr bewegen. Ich war starr, es würde wohl nicht mehr lange dauern, bis mein Blut gefroren und ich tödlich unterkühlt wäre. Erfroren mitten in Berlin! Natürlich würden die Zeitungen schreiben, dass der Alkohol Schuld wäre, dabei hatte ich gar nicht so viel getrunken. Ich vertrug halt einfach keine Feuerzangenbowle. Wer würde weinen um mich? Und wem würde Mutter meine Tagebücher vererben? Egal, Hauptsache, sie würde sie nicht selber lesen. Denn wenigstens sie sollte mich als guten Menschen in Erinnerung behalten.

"Hey, komm hoch, steh auf, du erfrierst sonst", hörte ich eine sanfte Stimme. "Mein Engel, der gekommen war, um meine Seele in den Himmel zu begleiten, konnte also ironisch sein", dachte ich. Na, das war doch die erste positive Überraschung in meinem neuen Leben. Aber mein Engel konnte auch handgreiflich werden. Er zerrte an mir, er stieß mich und er schlug mich. Wenn ich mich bloß bewegen könnte, dann würde ich ihn kitzeln. Ich wollte so gern sein Lachen hören. Ich schlug die Augen auf. Na hallo, das war bestimmt kein Engel! Engel mit Rastazöpfen und Pudelmütze gibt es nämlich nicht.

"Mann, Alter, jetzt streng dich endlich an. Stell dich hin. Komm, ich helf dir!"

Schwankend richtete ich mich auf und legte meinen Arm um ihre Schulter.

"So ist es gut. Und jetzt ganz langsam vorwärts. Ein Bein vor das andere."

Meine Gelenke waren steif und ich hatte das Gefühl, jeden Moment in mich zusammenzusinken, aber mit jedem Schritt wurde ich sicherer. Sie dirigierte mich geschickt und bestimmt. Irgendwann liefen meine Füße wie von selbst.

"Okay, jetzt sind wir gleich da."

Sie schob mich in ihre Wohnung und gleich weiter ins Bad. Dort zog sie mich aus, bevor sie mich unter die Dusche stellte. Das heiße Wasser lief an mir herab und wärmte mich ganz langsam auf. Es war, als wenn Millionen Nadeln gleichzeitig in meine Haut stechen würden. Von der Hitze des Wassers war mein Körper krebsrot, aber es schien noch alles intakt zu sein. Ich konnte meine Hände wieder bewegen. Und selbst in meinen heiligen Eiszapfen kehrte Leben zurück, auch wenn dies nicht der Moment für sichtbare Zeichen zu sein schien. Zumal sie gerade wieder ins Bad kam. Sie betrachte mich skeptisch und sagte: "Typisch Kerle. Vor fünf Minuten noch fast verreckt und nun schon wieder rumprahlen!" Aber sie grinste dabei.

Später saß ich, in einen flauschigen Bademantel gehüllt, mit einer dicken Daunendecke umwickelt, am Küchentisch und sie servierte dampfenden Glühwein.

"Wie heißt du eigentlich?", fragte ich sie.

"Miranda. Und das hat nichts mit der blöden Limo zu tun. Die heißt nämlich Mirinda! Und wie heißt du?"

"Thorstein. Danke Miranda. Ohne dich wäre ich jetzt schon ganz woanders."

"Na darauf kannst du Gift nehmen! Wie kann man auch so blöd sein, sich bei minus 15 Grad besoffen auf eine Bank zu setzen! Hat dir dein Vater so was nicht beigebracht? Das ist ja wohl die erste Regel, die man lernt, wenn man mit dem Saufen anfängt!"

"Mein Vater war bei der Stasi, der hat mir sowieso alles verboten."

"Haha, wenn das eine Ausrede sein sollte, dann war es eine miese!"

"Ist aber keine. Und so was passiert mir sonst nie. Daran ist nur dieser verschissene Bahnhof schuld. Jedes Mal wenn ich da aussteige, gibt es ein Unglück!"

Ich sah ein Blitzen in ihren Augen.

"Ehrlich? Erzähl!"

"Eigentlich rede ich nicht darüber, weil immer alle denken, ich hab einen Knall. Dann werd ich kräftig ausgelacht und krieg 'nen Therapeuten empfohlen."

"Ich lache nicht. Versprochen!"

"Keine Ahnung warum, aber das geht schon immer so. Als kleines Kind, wir waren gerade auf dem Weg zum Pionierpark, kam eine Ratte über den Bahnsteig gehuscht und hat mir den kleinen Zeh fast abgebissen. Seit dem trage ich übrigens keine Sandalen mehr. Mit fünf hat sich ein depressiver Bahnpolizist das Hirn weggepustet und mir dabei das linke Ohr halb abgeschossen. Mit acht hat mir auf der Treppe eine Oma ihren Rollkoffer in die Kniekehle gerammt, und mich zum freien Fall gebracht. Ich weiß noch, dass ich kurz vor dem Aufprall ihr Gesicht erblickte. Sie fixierte mich hasserfüllt und streckte mir ihre vergilbte, runzlige Zunge heraus. Dann durchfuhr meinen Körper eine gleißende Welle des Schmerzes und ich tauchte in tiefe Dunkelheit ab. Das Schlimme ist, dass ich ständig daran erinnert werde, denn sie sah aus wie Angela Merkel. Mit zehn wurde ich von Lok-Leipzig-Hooligans verprügelt, mit vierzehn… Immer nur Ostkreuz. Immer nur da. In der Charité kannten sie mich schon und nannten mich 'Das wilde Ostkreuzkind'."

"Scheiße, mir ging das so mit der Schönhauser Allee. Auch das komplette Programm. Armbruch, Beinbruch, Puppe überrollt, Bierflasche auf dem Kopf zerschlagen… Ein Wunder, dass wir uns nie in der Charité begegnet sind oder uns vorgestellt wurden. Aber irgendwann hab ich das geknackt!"

"Echt? Wie?"

"Okay, aber diesmal darfst du nicht lachen. Rational ist das nämlich nicht zu fassen. Also, auf den Bahnhöfen wohnen Geister. Die wohnen ja eigentlich überall, aber auf den Bahnhöfen wohnen besonders bösartige. Ruhelose eben, ist ja klar, weil ein Bahnhof ja auch kein gemütliches Zuhause ist. Na ja, und die suchen sich dann Opfer, an denen sie ihre Wut auslassen können. Dafür sind Kinder natürlich bestens geeignet. Und wenn sie dich einmal gezeichnet haben, dann erkennen sie dich immer wieder. Noch einen Glühwein?"

Ich nickte und drehte mir eine Zigarette. Geister? Welche Drogen hatte sie genommen? Welche würde sie mir geben? Wenn sie jetzt mit Bachblüten und dem ganzen Esokram anfangen würde, dann würde ich gehen. Gehen müssen!

"Ist der Glühwein eigentlich Öko?", fragte ich und biss mir sofort auf die Lippen.

"Klar, und die Wohnung ist vom Feng-Shui-Meister abgenommen. Zum Frühstück ess ich Reikibrezeln und meine Achselhaare rasiere ich nur bei Vollmond."

"Sorry, war nicht so gemeint, ich weiß nicht, na ja, wie soll ich das erklären, aber bei diesem Esoterikzeug, da wird mir immer komisch. Tut mir leid, ich wollte dich nicht…"

"Das hat gar nichts mit Esoterik zu tun. Nur weil irgendwelche dahergelaufenen Birtes, Fraukes und Wilfrieds sich den Arsch vergolden, indem sie alles Spirituelle in Seminare packen und dir für viel Geld verraten, in welche Ecke des Zimmers du dein Bett stellen darfst, gehört ihnen plötzlich alles was mystisch und unerklärlich ist auf dieser Welt? Weil der hyperaktive Frank in seiner lila Latzhose meint, Kurse geben zu müssen, ist die ganze Yogalehre gleich komplette Scheiße?", sagte sie mit wütender Stimme.

Und sie hatte recht! Diese Erkenntnis traf mich unerwartet.

"Stimmt! Ich hab immer Steine gesammelt, bis mir so eine dicke Kuh erklärt hat, dass die Steine, für die ich mich interessiere, ja wohl eindeutig nur für Frauen geeignet sind. Da solle ich doch mal drüber nachdenken. Seit dem fand ich Steine immer komisch. Aber wie war denn nun deine Lösung?"

"Ganz einfach. Ich hab mit Birte, Frauke und Frank im Mauerpark eine gemeinsame Meditation gemacht. Dann hat noch eine dicke Kuh auf die Klangschalen gehauen und alles war gut. Bei dir ja hoffentlich auch, denn heut hat ja keiner über deine Geschichten gelacht, dann kannst du ja getrost andere verarschen!" Sie hatte Tränen in den Augen.

"Mann, Miranda, ich hab mich doch schon entschuldigt. Das war wirklich nicht böse gemeint!"

Ich stand auf, umarmte sie und küsste vorsichtig ihre Tränen weg. Waren die ökosalzig? Ihre Zunge war es nicht, und unsere Umarmung wurde inniger.

"Ich hatte Sex auf dem Bahnhof. Das können Geister nämlich gar nicht leiden, weil es ihre Macht bricht. Und seit dem kann ich da Skateboard fahren, Handstand machen, ohne Ticket fahren und den Kontrolleuren den Finger zeigen. Der Fluch ist nicht nur gebrochen, sondern scheinbar sogar umgekehrt!", flüsterte sie in mein Ohr.

"Echt? Würdest du mit mir, vielleicht, ich meine, na ja…"

"Gerne, nur nicht jetzt. Das ist viel zu kalt. In meinem Bett ist es viel wärmer. Wenn Frühling wird, dann können wir das gerne versuchen. Aber wir müssen vorsichtig sein!"

"Wegen der Geister?"

"Nee, die können uns ja nichts anhaben. Aber guck mal da." Sie zog die Gardine zur Seite und zeigte mit ihrem Finger auf ein diffuses violettneongrünes Lichtgebilde, das am Himmel, in einiger Höhe über dem Bahnhof schwebte.

"Was ist das denn?"

"Keine Ahnung! Aliens vielleicht? Das kreist da schon ein paar Monate. Seit dem verschwinden wohl immer wieder Liebespaare am Ostkreuz. War mir bis jetzt ziemlich egal, aber nun ist ja alles anders."

Während wir uns in ihrem Bett aneinander kuschelten und ich ihren warmen, festen Körper spürte, fragte ich mich, was es wohl noch alles für seltsame Dinge um mich herum gab, von denen ich nicht einmal den blassesten Schimmer hatte. Aber ich war mir sicher, Miranda würde sie mir zeigen.

Axel Barth-Nawrath - Erkenntnis

 

Axel Barth-Nawrath
Erkenntnis

 

Und ich bestieg dich
morgens und abends
sieben Jahre lang
mit Gleichgültigkeit
und mit Scham. Bis
ich erkannte: DU BIST
MEIN BAHNSTEIG!

Ingrid Benada - Liebe überwindet nicht alles

Ingrid Benada
Liebe überwindet nicht alles

 

Es war Ende der sechziger Jahre an einem kalten, diesigen Herbsttag. Ich saß in einem Café am Ostkreuz und wartete auf einen guten Freund, der sich wie immer verspätete. Ich war ärgerlich. Aber er war nun mal so.

Mir gegenüber saß ein Mann. Ich schätzte ihn so auf vierzig Jahre. Er war stämmig, hatte einen kurzen dunklen Vollbart und schüttere schwarze Haare. Er bestellte eine Tasse Kaffee nach der anderen, die er langsam und bedächtig trank.

Nur selten hob er seinen Blick und dann starrte er irgendwo ins Leere. Meist aber schaute er angestrengt auf seinen schwarzen Kaffee.

Ich war neugierig geworden und überlegte, was er wohl für ein Problem haben könnte. Nach einiger Zeit überwand ich meine Zurückhaltung und sprach ihn an: "Heute ist ein ungemütliches Wetter. Wenn doch bloß mal die Sonne scheinen würde!"

Er hob den Kopf und schaute mich erstaunt an.

"Ja, Sie haben Recht", sagte er.

Das war der Anfang eines langen Gesprächs, in dessen Verlauf er mir folgende Geschichte erzählte:

"Mir ist heute etwas sehr Unangenehmes und mit großen Folgen geschehen", begann er mit zögerlicher Stimme. "Ich bin arbeitslos geworden. Und das Schlimme daran ist, dass ich selbst schuld bin. Ich bin betrunken in den Betrieb gegangen. So etwas ist mir noch nie passiert. Ich muss von allen guten Geistern verlassen gewesen sein. Zum Glück ist es dem Betriebsschutz schon am Eingang aufgefallen. Wissen Sie, ich arbeite in einem Chemiebetrieb, da kann so etwas sehr gefährlich sein. Der Betriebsschutz hat mich bis zu meinem Chef begleitet. Der hat natürlich getobt. Obwohl es das erste Mal war, ist er gleich zur Personalabteilung gelaufen und hat meine Papiere geholt. Er ließ keine Entschuldigung gelten. Unterdessen habe ich wie ein armer Sünder auf einem Stuhl gesessen, vom Betriebsschutz bewacht. Der Schock hat mich natürlich sofort nüchtern gemacht. Sie werden fragen, wie konnte das geschehen? Ich will es Ihnen sagen.

Ich hatte vor gar nicht langer Zeit oft im Osten, besonders hier in Ostberlin, zu tun. Sie verstehen, beruflich. Dort habe ich einmal so wie heute in einem Café gesessen. Ich aß Kuchen, trank Kaffee. Wissen Sie, ich esse sehr gern Süßes. Das ist natürlich nicht gut für meine Figur. Aber was soll’s."

Er machte eine Pause. Offensichtlich fiel es ihm schwer, zum Eigentlichen zu kommen. Geistesabwesend stierte er wieder an mir vorbei in den Raum. Ich wartete.

Dann fuhr er fort: "Plötzlich stand eine junge Frau an meinem Tisch und fragte: 'Ist hier noch frei?' Ich bejahte, und sie setzte sich mir gegenüber. Sie war sehr zierlich, hatte graue fragende Augen und aschblonde Haare. Wir kamen gleich ins Gespräch. Sie war mir sofort sympathisch, denn sie konnte so wunderbar lachen. Dabei lag ein Leuchten in ihren Augen und auf ihrem Gesicht. Das hat mir so gut gefallen, dass ich sie immer wieder zum Lachen animiert habe. Ich war an dem Tag aber auch besonders gut drauf. Ich gab eine Anekdote nach der anderen zum Besten. Sie amüsierte sich köstlich. Ich bin ein fröhlicher und optimistischer Mensch. Sie verstehen, aber heute … Na ja, an jenem Tag musste ich bald wieder nach Westberlin zurück. Wir verabredeten, dass wir uns in vierzehn Tagen, wenn ich wieder in Ostberlin sei, im selben Café treffen würden. Ungeduldig erwartete ich den Tag. Ich glaube, es war Liebe auf den ersten Blick. Zu unserem Rendezvous nahm ich sogar Rosen mit. Ich wunderte mich selbst darüber. Bisher war es mir immer peinlich gewesen, mit einem Blumenstrauß irgendwohin zu gehen. Männer sind da manchmal komisch. Ich sah ihr an, wie sehr sie sich über die Rosen freute. Ich war ganz verlegen. An dem Tag erfuhr ich auch mehr aus ihrem Leben. Sie war allein, Lehrerin, unterrichtete in der Unterstufe und hatte noch ein Fernstudium angefangen, um in die Oberstufe wechseln zu können. Merkwürdig, ich hatte mir Lehrerinnen ganz anders vorgestellt, ernster und langweiliger. Was man manchmal für Klischees im Kopf hat! Sie war das ganze Gegenteil.

Es kam wie es kommen musste. Wir trafen uns einige Monate regelmäßig. Und eines Tages, als ich mal mehr Zeit hatte, ging ich dann mit in ihre Wohnung. Sie wohnte in einem Neubauviertel.

Es begann für uns eine schöne Zeit. Ihre Liebe war so natürlich und spontan, so selbstverständlich. Ich fühlte mich bei ihr rundum wohl. Mein Chef wunderte sich, dass ich plötzlich gern nach drüben fuhr und es gar nicht erwarten konnte, bis es soweit war. Aber ich sagte ihm anfangs nichts, hatte ich doch Angst, er könnte befürchten, dass ich meinen Aufgaben nicht so gewissenhaft wie bisher nachkommen würde. Allerdings sah er mich manchmal forschend und misstrauisch an. Vielleicht bildete ich mir das aber auch nur ein. Es wurde eine große Liebe. Und das Bedürfnis nach Zusammensein wuchs von Mal zu Mal. Eines Tages sprachen wir auch darüber, wie schön es wäre, wenn wir ein gemeinsames Leben führen könnten, uns nicht nur alle vierzehn Tage mal für kurze Zeit sehen würden. Aber wie sollten wir das machen? Schließlich sprach ich doch mit meinem Chef. Er war an dem Tag besonders aufgeschlossen und sagte: 'Alles kein Problem. Sie holen sie herüber. Arbeit werden wir auch für sie finden. Übrigens, ich habe mir so etwas schon gedacht. Sie waren in letzter Zeit anders als sonst. Es konnte doch nur eine Frau dahinter stecken.'

Aber das Herüberholen war doch nicht so einfach. Wie sollte sie denn rüber kommen? Illegal? Einen Ausreiseantrag stellen? Verwandtenbesuch anmelden? Letzteres konnte nicht funktionieren, dazu war sie doch zu jung. Außerdem hatte sie auch keine Verwandten in Westdeutschland oder Westberlin. Beruflich hatte sie auch keine Chance, nach dem Westen zu fahren. Illegal getraute sie sich nicht. Was ich auch verstand. Es war zu gefährlich.

Also blieb nur, einen Ausreiseantrag zu stellen und zu warten.

Eine Variante gab es für sie allerdings noch. Ich sollte nach drüben kommen. Eines Tages sprach sie es aus. Ich war sehr erstaunt. Diese Möglichkeit wäre mir nie eingefallen. Es war absurd. Sollte ich meine Arbeit, meine Existenz aufgeben und nach dem Osten gehen, in eine ungewisse Zukunft? Sicher hätte ich Arbeit gefunden. Aber ich hätte ein vollkommen anderes Leben führen müssen, ohne Reisen ins westliche Ausland und so. Wie konnte sie nur auf so eine Idee kommen! Ich war aufgebracht.

Sie erzählte mir Beispiele von Leuten, die das gemacht hatten. Ich wollte es nicht glauben. Bisher kannte ich nur Leute, die vom Osten in den Westen gegangen waren. Inzwischen weiß ich, dass es so etwas wirklich gegeben hat.

Sie war enttäuscht, dass ich es nicht in Erwägung zog, wo es doch für sie das Einfachste war. Sie glaubte, aus Liebe zu ihr müsse ich das tun. Es gab die erste Missstimmung zwischen uns. Wir litten darunter.

Sie stellte keinen Ausreiseantrag. Ich kann nicht sagen warum. Fühlte sie sich ihren Schulkindern verpflichtet, ihrem Land? Hatte sie Angst vor einer unbekannten Zukunft? Wenn ich sie fragte, wich sie mir aus. Ich glaube, es war von allem etwas. Vielleicht nahm sie auch an, dass ich in Westberlin ein anderer sei, ihr etwas verschweige, dass ich eine Illusion zerstören könnte, dass unsere Liebe diesen Abstand brauche. Erstaunlich, sie war ein so fröhlicher und aufgeschlossener Mensch. Aber sobald ich unsere gemeinsame Zukunft ansprach, wurde sie ernst, zurückhaltend. Frauen sind wohl oft unergründlich. Einmal erzählte sie mir aber von einer Kollegin, die einen Ausreiseantrag gestellt hatte. Sie musste den Schuldienst quittieren, arbeitete dann bis zur Genehmigung ihres Antrages als Reinigungskraft. Ob es das war? Sie sagte auch, dass ihre Prüfungen im Westen nicht anerkannt würden. Sie müsste dort noch mal von vorn beginnen. Dazu hätte sie keine Lust. Ich kann gar nicht sagen, wie enttäuscht ich war. Ich zweifelte an ihrer Liebe. Wie hätten Sie denn gehandelt?"

Ich bemerkte, dass man so etwas nur sagen kann, wenn man in der gleichen Situation steckt.

"Sie haben Recht", fuhr er fort.

"Wir führten also erst einmal unsere Beziehung weiter. Aber irgendwie hatten wir beide das Gefühl, dass es so nicht weitergehen konnte.

Wir quälten uns viele Monate. Unsere Liebe wurde auf eine harte Probe gestellt. Alles Leichte und Fröhliche verschwand aus ihr. Wir konnten uns nicht mehr auf unser Treffen freuen, uns nicht mehr so hemmungslos wie früher lieben. Ich wurde eifersüchtig, glaubte, da müsste noch ein anderer Mann sein. Ich sagte es ihr auch, habe ihr sicher damit sehr wehgetan. Aber warum wollte sie auch keinen Ausreiseantrag stellen? Hätte ich wirklich rüber gehen sollen, alles im Westen aufgeben? Das hätte die größte Liebe nicht ausgehalten. Diese ungelösten Fragen standen also zwischen uns. Aber eine Entscheidung musste gefällt werden.

Und so trennten wir uns schließlich. Diesen Tag werde ich nie vergessen. Sie können mir glauben, es ist mir nicht leicht gefallen. Ich habe sie sehr geliebt. Ich konnte mit unserer Trennung lange nicht fertig werden. Ich hätte mir ein gemeinsames Leben gut vorstellen können, aber eben nur im Westen."

Wieder schwieg er. Ich glaubte schon, dass er nicht weiterreden würde, da sagte er: "Gestern Abend habe ich einen Anruf von ihrer besten Freundin bekommen. Ich habe sie mal bei einem Besuch in ihrer Wohnung kennen gelernt. Ich denke, sie hat mit ihr über alles gesprochen."

Er stockte. Es fiel ihm sichtlich schwer weiter zu sprechen. Wieder wartete ich.

"Ihre Freundin", fuhr er mit heiserer Stimme fort, "erzählte mir am Telefon, dass meine Geliebte in letzter Zeit Schwierigkeiten mit ihren Augen bekommen hatte. Die Ärzte prophezeiten ihr, dass sie eventuell erblinden könnte. Da hat sie sich vorgestern das Leben genommen.

Die Freundin meinte aber auch, dass es nicht nur deswegen war. Sie konnte unsere Trennung nicht verwinden. Das war sicher der Hauptgrund.

Da habe ich mich das erste Mal in meinem Leben betrunken. Bloß, es ändert nichts an der Tatsache. Ich muss damit fertig werden. Leider bin ich kein cooler Typ. Nun habe ich sogar noch ein zusätzliches Problem: Arbeitslosigkeit.

Wissen Sie, ich war so unglücklich nach dem Anruf. Ansonsten wäre mir das nicht passiert. Wieso hatte mein Chef kein Verständnis dafür? Er wusste doch von unserer Trennung. Ich erzählte ihm, ehe er in die Personalabteilung ging, von ihrem Tod. Aber er ist so ein Genauer, Selbstgerechter. Ihm würde so etwas natürlich nicht passieren. Er würde sich nicht betrinken, meint er. Ich bin enttäuscht von ihm. Wir haben uns doch immer gut verstanden." Wieder machte er eine Pause.

"Nun bin ich noch mal rüber gekommen."

Er schaute auf die Uhr. "In wenigen Minuten bin ich mit ihrer Freundin verabredet. Sie will mit mir sprechen. Vielleicht erfahre ich den wahren Grund, warum sie nicht in den Westen wollte."

Dann schwieg er. Er wollte wohl auch nichts mehr sagen.

Ich getraute mich nicht, ihn noch einmal anzusprechen. Er war ganz in sich zusammengesunken und starrte wieder in seine Tasse.

Da sah ich meinen Freund kommen. Ich gab ihm durch Zeichen zu verstehen, vor der Tür zu warten, bezahlte und ging hinaus.

Als ich an der Tür noch einmal zurückschaute, saß er noch immer mit gesenktem Kopf da.

Sabine Franzke - Radsalat

Sabine Franzke
Radsalat

 

"Verdammt", knurrt Alex, das Ostkreuz in Richtung Sonntagstraße verlassend. Irgendein Dussel hat seinen dämlichen rostbraunen Drahtesel an Alex’ himbeerfarbenes Rad angekettet. Auf dem fremden Rahmen klebt ein freundlicher Regenbogen. Wutentbrannt tritt Alex gegen den Rahmen, wartet und linst scheel zum Ausgang vom Ostkreuz. Niemand in Sicht, nur der türkische Obstverkäufer.

Alex stapft über die Pfützen zu dem bunten Stand, kauft sich eine Tüte Kirschen und stopft sie sich gierig in den Mund. Genüsslich schmatzend überlegt Alex nach Hause zu gehen. Bis zur Böcklinstraße ist es nur ein Katzensprung, maximal fünfzehn Kirschen. Hmmmh! Alex schaut nach oben und beschließt angesichts der Abwesenheit tückischer Regenwolken, doch zu warten. Obwohl Ende Oktober, ist es noch nicht so kalt; und glücklicherweise hat Alex eine der "Stadtgeschichten" von Armistead Maupin dabei. Seine lichtgestrickten, unterhaltsamen Geschichten sind überaus witzig. Zudem kann man sich schnell im Geschehen von San Francisco verlieren.

Alex liest konzentriert, auf der rechten Hand das abgegriffene Buch, die linke suchend in der Kirschtüte auf dem Sattel, zuweilen auflachend und sich drei bis fünf Kirschen in den Mund schiebend. Um das Rad häufen sich die Kerne, bis jemand in den Radius des Radständers tritt. Alex will gerade zu einem markigen Spruch ansetzen, hat aber den Mund voll und erstarrt, verschluckt versehentlich ein paar Kirschkerne, öffnet Mund wie Augen und starrt fasziniert auf das sich entfaltende Lächeln um ein paar wunderschöne Mundwinkel. Der Blick wandert höher, dann tief in die gleichfalls lächelnden Augen des Gegenübers. "Solche Augen möcht’ ich haben", denkt Alex, langsam aus der Starre erwachend, winkt großzügig ab und hört sich wie von weitem krächzen: "Gar kein Problem, das. Dann habe ich wohl einen Kaffee fürs Warten gut, was?"

"Warum nicht, ich wollte sowieso ins Übereck", schnellt Chris die Antwort wie einen Pingpongball auf Alex’ nicht ganz ernst gemeinte Frage zurück. "Tut mir leid, dass ich aus Versehen dein Rad mit angeschlossen habe und du deswegen warten musstest. – Ich bin übrigens Chris", sagt Chris, zeigt lachend ein perfektes Gebiss, klopft sich mit dem Zeigefinger gegen die Vorderzähne und macht ein fröhliches "Bing!".

"Ein kesses Lächeln das", denkt Alex. "Kess: draufgängerisch, frech, flott, schick, gescheit, chaotisch", erscheint plötzlich die Erläuterung des Herkunftswörterbuches in einer Comicblase vor dem inneren Auge. Alex wedelt sie fort, schüttelt verwirrt den Kopf, sagt knapp "Alex" und nickt dabei. "Hände schütteln ist jetzt wohl nicht angebracht… Oh, das Buch." Alex lässt es in den offenen Rucksack fallen. Dieser neigt sich zur Seite und schüttet seinen Inhalt zwischen die ausgespuckten Kirschkerne; das Buch, ein Schweizer Taschenmesser, zwei Überraschungseier und einen Dietrich. Alex sammelt leicht verlegen die Sachen auf, während Chris dezent eine Augenbraue hochzieht.

Danach winden sie ihre Räder auseinander und schieben sie schweigend zum Übereck Lenbachstraße/Sonntagstraße. Ein paar Besucher des ersten Cafés hier im Kiez sitzen noch draußen. Alex und Chris setzen sich seitwärts auf eine unbesetzte Bank daneben und beobachten die Leute auf dem kleinen, aber grünen Lenbachplatz. Ein Junge stelzt in den Absatzstiefeln seiner träumenden Schwester zu einem irischen Wolfshund und streichelt ihn hingerissen. Der Hund wedelt wild mit dem Schwanz eine Thermoskanne von der Bank hinter ihm. Ein wenig erinnert die Szenerie an Zille und Sonntag. Letzterer verpachtete hier im 18. Jahrhundert Gemüseparzellen an die Berliner. Das war damals "janz weit draußen" und eine Ewigkeit von der unfreiwilligen Schönheit bröckliger Fassaden zu Ostzeiten entfernt. Heute sind die umstehenden Häuser farbenfroh sauber renoviert. Nur das gräuliche Ostkreuz mit seinen verlassenen Gleisen, verschachtelten Holztreppen und pittoresken Aufgängen könnte weiterhin als Kulisse für melancholische Schwarzweißfilme im Großstadtmilieu fungieren.

Nach einigen Minuten spannungsloser Stille zu Phrancs Lied "Dress Code", das aus dem Café herüberwütet, nimmt eine schnoddrige Bedienung Alex’ und Chris’ Bestellung in der schwächelnden Sonne entgegen. "Yogitee ham wa hier nich", sagt sie maulig.

"Gut, dann nehme ich einen Getreidemilchkaffee", sagt Chris und registriert schadenfroh die heruntergezogenen Mundwinkel der Bedienung. Eine gute Freundin hat einmal erzählt, dass Kellner Getreidemilchkaffees grundsätzlich hassten, was sich nun durchaus zu bewahrheiten scheint.

Die Bedienung indes bewegt sich im Schildkrötentempo hinter den Tresen und legt eine CD von Melendiz ein. Ein merkwürdiges Lächeln weitet die vorherig zusammengekniffenen Lippen, während Alex und Chris einträchtig ihre beschlagenen Brillen putzen; Alex mit einem T-Shirt-Zipfel, Chris mit einem Brillentuch.

"Danke auch für den Kaffee. Ist mir übrigens noch nie passiert, das", meint Alex.

Chris erwidert Alex’ anhaltenden Blick, lächelt noch einmal breit und sagt ohne zu blinzeln: "Mir schon. Mir passieren dauernd komische Sachen. Erst neulich habe ich mein Rad vor der Unibuchhandlung abgestellt. Als ich wieder herauskam, klemmte ein Zettel mit einer Telefonnummer an der Handbremse. Komisch, dass die Leute einen nicht direkt ansprechen. Das ist vielleicht dröge."

"Ach ja?", sagt Alex betreten und denkt bei sich: "Wie überheblich… Jetzt könnten wir auch mal etwas Vernünftiges reden." Doch das Fach für originelle Entgegnungen im Gehirn ist leer. Beruflich ist Alex fit im Smalltalk, doch privat ungewollt sprachlos, ein Zeichen maßloser Arroganz für manche.

Wenig später bringt die Bedienung Alex und Chris die Kaffees. Sie warten bis die Getränke abgestellt sind, schauen sich auf die Fingerkuppen und mustern einander verstohlen. Chris trägt Kaurimuscheln um den Hals. Dunkle, zurück gekämmte Haare. Braune Augen hinter einer Küblböckbrille. Mehr als sieben Sommersprossen. Die Hose ist braun-gelb gestreift. Auf dem hellen T-Shirt unter der Kordjacke leuchtet ein knallrotes Verbotsschild. In der Mitte rot durchgestrichen, steht BUSH und darunter in fetten Lettern "Befreit Amerika von Bush!"

Alex’ abgewetzte Lederjacke ist schwarz wie die Hüfthose. Das T-Shirt über dem lachsfarbenen Pullover leuchtet grün wie Alex’ Augen hinter einer randlosen Brille. Über das T-Shirt hangeln sich drei bösäugige Spinnen. Alex’ Haare sind nur einmal am Morgen gekämmt worden. Selbstständig und unaufhörlich umwickelt der rechte Zeigefinger eine Locke und zieht sie lang.

"Einer Freundin von mir ist das mal passiert", sagt Alex in die Pause, lockenwickelnd. "Auf einer Disko. Sie meinte, sie hatte viel getanzt, weil so gute Musik lief. Einmal hat sie sich kurz hingesetzt. Da hat ihr jemand einen Zettel mit Kaffeetasse und Telefonnummer drauf in die Hand geschoben. Sie war derart überrascht, dass sie nicht mal richtig mitbekommen hat, wer ihr den Zettel überhaupt zugesteckt hat."

Chris zeigt mäßiges Interesse: "Und, hat sie dort angerufen?"

"Schon. Sie hat den ganzen AB voll gesprochen, dass sie sich super gefreut hätte und so, aber sie könnte sich nicht treffen, weil sie in einer Beziehung wäre. Aber ein bisschen wollte sie sich doch treffen, hat sie mir erzählt. — Mich interessieren Kennlerngeschichten ungemein. Ich frage oft Leute, wo sie sich kennen gelernt haben. Die sind auch immer froh, wenn sie darüber reden können, besonders, wenn sie frisch verliebt…"

"…wie beginnt eigentlich deine Kennlerngeschichte?", kommt Chris vorausschauend Alex’ Frage zuvor.

"Auf einem Segelboot."

"Wie das?"

"Bevor ich dir das erzähle, bestelle ich mir aber ein Bananeneis. Das gibt’s hier neuerdings. Willst du auch noch was; die charmante Bedienung ist gerade hier?"

"Ein Bananeneis, und für mich ein Wasser ohne Gas", sagt Chris zur Bedienung, und als diese zur Cafétür geschlurft ist, "Mensch, der muss echt aufpassen, dass er nicht seine schicken Khakihosen verliert. Sieht aus wie eingek… Oh, 'tschuldige. … Wie war das noch mit dem Segelboot?"

"Nicht er."

"Was?"

"Das ist kein er, das ist eine sie. Die Bedienung, meine ich. Das sieht man doch", trumpft Alex auf, legt die Lederjacke achtlos auf die Bank, dreht sanft das Eis aus seinem silbrigen Papierkleid und leckt hingebungsvoll den Schokoladenschmelz vom Bananencorpus.

"Ach, ich habe mich schon über die Musik gewundert", sagt Chris etwas lahm, den Blick unverwandt auf die Zunge gerichtet, und bohrt dann hartnäckig weiter: "Und wie geht nun deine Geschichte?"

"Hmmmmh, es hat mal im Herbst eine Regatta gegeben mit extrem viel Wind und so. Unser Boot ist fast gekentert. Auf dem Rettungsboot sind wir enger zusammengerückt. Hinterher sind wir ein bisschen ins Gespräch gekommen. Dann haben wir uns erst viel später zufällig bei einem Schachturnier wieder gesehen und uns verabredet; zu einer Disko für Behinderte… Und dann hat es halt begonnen hmmmh… Hat immerhin zwei tolle Jahre gehalten. Zum Schluss ist es zu einer Fernbeziehung geworden und hat einfach nicht mehr funktioniert", sagt Alex, die Zunge gedankenverloren weiter um die langsam schmelzende Schokolade windend.

Aus dem Café hinter ihnen schleicht sich jetzt die herausragende Rasiermesserstimme von Marla Glen mit "The Cost of Freedom" heraus.

"Ja, das ist schwierig, hat aber auch seine Reize. Ich kenne das. Bei mir hat es ganz schnöde mit E-Mails nach Südafrika begonnen. Dann bin ich richtig neugierig geworden und einfach hingeflogen. Tolle Erfahrung. Klar sieht man zuerst nur die Sonnenseiten. Erst später ergibt sich, ob man auch mit den dunklen Seiten leben kann. Und mit den Schattenseiten bin ich nicht klargekommen, als Leslie für eine Weile nach Berlin kam."

Alex blinzelt und trägt selbstvergessen Schicht um Schicht des Eises mit ungepiercter Zunge ab. Auch sonst hat Alex keinerlei Tätowierungen oder Durchbohrungen; nur eine Kreole im Ohrläppchen. Den Freunden erzählt Alex meist, Tattoos sollte man innen tragen wie dieser Typ in dem neuseeländischen Streifen "Once were Warriors", "Die letzte Kriegerin".

Chris starrt intensiv auf die kirschfarbene Zunge und das Eis, sieht dann ruckartig fort und auf die Bahnhofsgleise, die in der Sonne einer dürren Spree gleichen. Im Café wird nun "Constant Craving" von K. D. Lang gespielt.

Alex schaut Chris tiefgründig in die Augen, kneift sie zu Schlitzen zusammen und fragt hinterhältig lächelnd: "Du möchtest wohl das Eis sein, was?"

"Nein, dann lieber dein T-Shirt."

Die Pupillen, die eben noch groß und schwarz waren, verengen sich zu finsteren Stechpunkten. Das Gesicht wird puterrot. "Tja, wenn’s am schönsten ist, soll man aufhören", ruft Alex brüsk aufspringend, presst Kirschtüte und Lederjacke an sich und schnippt das zerbröselte Eispapier zum leeren Aschenbecher. Alex dreht sich um, stiert auf das verfehlte Ziel und sagt: "War nett. Also dann. Man sieht sich."

Chris nickt, bemerkt die Kirschflecken auf Alex’ ex-grünem T-Shirt und murmelt halblaut: "Ich kann helle Sachen auch immer nur einmal anziehen. Da haben wir ja schon mal was gemeinsam… Schade… Erst erzählen wir uns hier Geschichten wie in 'Claire of the Moon', 'Claire vom Mond', und dann tänzeln wir genauso um uns herum wie die beiden Hauptfiguren." Doch da ist Alex schon davongestakt und hat sich entgegen Chris’ heimlicher Wette nicht noch einmal umgedreht.

Chris trinkt den lauwarmen Kaffee aus, geht aufrechten Ganges ins Café, nimmt sich an der Eingangstür eine Siegessäule aus dem Zeitungsständer und zahlt am Tresen.

Während "Closer to fine" von den Indigo Girls zu spielen beginnt, sortiert die Bedienung belustigt Chris’ genau abgezählte Münzen in ihr Portemonnaie.

 

***

 

In den nächsten Tagen radelt Chris immer wieder von der Wohnung in der Pfarrstraße zum Ostkreuz und macht morgens und nachmittags extra den Umweg über die melancholischen Überführungen, um am Ausgang Sonntagstraße vergeblich Ausschau nach einem himbeerfarbenen Rad zu halten. "Würde mich nicht wundern, wenn Alex das Fahrrad umgespritzt hat", murmelt Chris und gibt die Suche auf.

Am darauf folgenden Montag ist Chris’ Auto repariert, das Rad im Keller und Ostkreuz links liegen geblieben. Durch das Abendstudium an der Uni vergisst Chris über die Winter- und Frühlingsmonate die Begegnung mit Alex beinahe, wenn da nicht die Musik wäre. Denn hin und wieder, wenn im Autoradio ein Lied von Rosenstolz gespielt wird, werfen sich Alex’ kirschfarbene Zunge und T-Shirt über die tristen Werbeposter auf der Stadtautobahn.

Für Alex verschwinden Traurigkeiten effektiv durch einen vollen Terminkalender in Büro und Freizeit. Im Winter sammeln sich im Büro viele Überstunden an. Nachmittags gibt Alex Deutschunterricht, töpfert freitags öfters mit Axel und Ute, tippt Reiseeindrücke von Australien und Neuseeland, lernt Französisch, geht mit Matt regelmäßig in den Fitnessclub am Ostkreuz und sonnabends in den "Sonntagsklub" oder ins Kino und gelegentlich sonntags wandern mit Martinas Gruppe.

Zum Vergessen ist zudem Musik essenziell. Von vielen, manchmal schwülstigen, Texten fühlt sich Alex gut verstanden. Jedoch erinnern ein paar Sprachbilder anfangs noch an Chris’ Sommersprossenlächeln. Mit Judith, Johnnie, Jeannie, Pauli und Frank feiert Alex ausgelassene Karaokeparties bis in die Morgenstunden, wobei die unmusikalische Nachbarin im fünften Stock einmal die Polizei ruft.

Im Frühling bummelt Alex an mehreren Wochenenden Überstunden ab und erforscht dank Billigfliegern ein wenig Europa. Barcelona und Neapel allein, letzteres aus Schussligkeit geldlos, und Poznan mit einer Kollegin.

Mitte Juni hat Alex’ Chef einen kleinen Auffahrunfall mit seinem Mercedes. Alex soll das Auto aus der Werkstatt holen. Die Rezeptionistin in der Werkstatt sagt zu Alex: "Erich ist leider heute verhindert, der Arme. Ein Kunde hat ihm versehentlich die Autotür gegen das Knie geschlagen. Aber Schmittchen, Erichs kompetente Vertretung, ist dafür sofort bei Ihnen. Kann ich Sie derweil zu einem Kaffee einladen?" Alex lehnt dankend ab und wartet auf Erichs Vertretung. Deren aufrechter Gang erinnert Alex vage an jemanden. Erst als das sommersprossige Gesicht nur wenige Schritte entfernt zögert, erkennen sich Alex und Chris. Beide lächeln unentschlossen und reichen sich die Hände zu einem kräftigen Händedruck.

Chris sagt glatt: "Der Wagen steht vor der Tür. Wir könnten sofort eine Testfahrt machen."

Alex nickt zustimmend und folgt Chris auf den Parkplatz. Alex geht mehrmals um das Auto herum, fährt mit den Fingern über die perfekte Lackierung, wirft einen Blick auf den Auspuff, tritt sacht gegen die Reifen und öffnet die Motorhaube. "Äußerlich scheint alles in Ordnung zu sein", sagt Alex und sorgfältig das Du oder Sie vermeidend, "wir können losfahren."

Alex nickt Chris zu, öffnet die Beifahrertür und fläzt sich auf den Sitz. Souverän steigt Chris ein und schaltet Motor wie Radio ein. Sie verlassen das Betriebsgelände, biegen auf die Frankfurter Allee; und Chris dreht den Motor richtig auf. Zügig fahren sie am Ringcenter vorbei. Alex weiß, dass sie das Ostkreuz passieren werden, lächelnd Chris ungewollt an und denkt: "Ich kann’s nicht ändern, Chris ist so was von sexy. Ich wünschte, diese Fahrt geht nie zu Ende."

Im Radio wird Ani di Francos Sprechgesang "Pulse" gespielt, als Chris gelassen den Gang hinunter schaltet und das Auto die Gürtelstraße entlang gleiten lässt. Doch der Schein trügt, der Puls ist hoch und die ausgestrahlte Ruhe scheinheilig. Die Augen unverwandt auf der Straße denkt Chris "Wie stell ich’s an, dass ich es nicht wieder vermassele…" und fragt laut "Wollen wir einen Kaffee trinken gehen?"

"Nein, das geht nicht. Ich muss sofort wieder zurück ins Büro."

Pause. Chris zieht scharf die Luft ein, während sie die Neue Bahnhofstraße entlangfahren.

"Aber ich habe um vier Schluss. Hast du Lust, dich gegen fünf hier am Ostkreuz zu treffen?" fragt Alex bedeutsam.

"Gut, dann machen wir das", sagt Chris erleichtert, wendet geschmeidig und fährt zurück zur Werkstatt.

Am späten Nachmittag treffen sich Chris und Alex am Obststand vom Ostkreuz.

Alex schlägt vor: "Was hältst du davon, wenn wir bis zur Endstation fahren? Komm, du musst sagen, welche. Mach die Augen zu." Alex nimmt hastig Chris’ Finger. "Hier ist die Berlinkarte. Zeig jetzt auf irgendeine Stelle. Da fahren wir dann hin."

Chris tippt mit dem Finger auf Alex’ Brust und sagt lachend: "Gute Idee, sieht aber nach Regen aus. Wollen wir nicht lieber was trinken gehen? Im Geronimo vielleicht, das ist plüschig und hat um die 70 Cocktails zu bieten, oder im Zebrano gibt’s auch leckere Cocktails, habe ich gehört. Ich probiere gern mal was Neues aus. Und du?"

"Ehrlich gesagt, trinke ich keinen Alkohol, und das Übereck wär’ mir lieber."

"Gut, dann bleiben wir beim Übereck."

Als sie in das Café hineinkommen, fängt "Es könnt’ ein Anfang sein" von Rosenstolz an zu spielen.

 

***

 

Die erste Nacht zusammen, das erste Frühstück am Morgen, der erste Ausflug, das erste gemeinsame Wochenende, die erste Zeitung zusammen gekauft — seit einigen Tagen sehen sich Chris und Alex, durch die rosa Brille. Da kommt der erste Krach.

Chris schlägt beim Frühstück die Zeitung auf und ruft empört: "Da hat schon wieder ein Türke seine Frau aus Eifersucht erstochen. Diese Kanaken müsste man doch alle abschieben. Und die wollen auch noch in die EU."

Alex hält sofort dagegen: "Du bist ja wohl voll ausländerfeindlich. Und die Zeitung auch, die nennt immer die Nationalität, so dass die Leute denken, alle Verbrechen werden nur von Ausländern begangen."

"Statistisch gesehen ist das auch so."

"Quatsch, du weißt ganz genau, dass man Statistiken immer so drehen kann, wie man will."

"Jedenfalls bringen die ihre mittelalterlichen Traditionen und fanatischen Ehregeschichten mit." Chris schmeißt dramatisch die Zeitung hin.

"Mensch, hierher kommen die aus den ärmsten Schichten, ohne großartige Bildung und Qualifikation. Und dann leben die hier wie in Ghettos. Überhaupt wurden Gastarbeiter in den Siebzigern ins Land gerufen, um hier die Schmutzarbeiten zu machen", sagt Alex, als sie aus der Wohnungstür kommen.

"Pffffffffff. Trotzdem könnten die sich anständig benehmen. Wenn ich die jungschen Piepels schon sehe mit ihren fetten Goldketten, wie sie großkotzig den ganzen Tag nichts tun und in Papis BMW durch die Stadt wummern…", sagt Chris zerknirscht und schließt den Drahtesel vorm Haus los.

"Der Großteil von den Leuten arbeitet hier und bezahlt Steuern. Es ist nicht alles schwarzweiß. Kennst du überhaupt einen Ausländer? Kennst du überhaupt einen, der einen Ausländer kennt?", fragt Alex Chris, als sie gemeinsam zum Ostkreuz radeln.

Chris sagt trotzig: "Dann suche dir doch jemand anders".

Beide schweigen missgestimmt, schließen ihre Räder am Ostkreuz an und gehen wortlos die Treppe zum Bahnsteig der Ringbahn hinauf.

Die Bahn gleitet fast geräuschlos heran, und Alex steigt ein ohne sich umzudrehen.

Chris steht wütend da und macht eine dramatische Geste, die Alex aber nicht sieht. Ganz langsam verraucht der Zorn. Ein Gedanke lässt Chris eilig die Treppe wieder hinunter und zu den Rädern laufen. Ein Grinsen macht sich auf dem schmalen Gesicht breit, als Chris das Schloss von dem braunen Drahtesel losmacht und um Alex’ himbeerfarbenes Rad windet.

Ilse Treue - Auch wegen der Ladys vom Rudolfplatz…

Ilse Treue
Auch wegen der Ladys vom Rudolfplatz…

 

Es war ein sonniger Spätsommertag. Unter Schatten spendenden Bäumen saßen wir auf einer Bank am Ufer der Spree und schauten dem munteren Treiben auf dem Wasser zu. Fröhlich lachend zog eine Familie mit drei Kindern in einem Leih-Ruderkahn vorbei, gefolgt von einem Tretboot, in dem sich junge Leute vergnügten. Von der Oberbaumbrücke her kam ein Ruder-Achter, schnittig, sportlich, gleichmäßiger Schlag. Er steuerte in Richtung Köpenick. Wohin mochte die Fahrt gehen? Das zügige Tempo ließ ahnen, dass noch eine längere Strecke zu bewältigen war. Während wir uns in Vermutungen ergingen, kam ein vollbesetztes Schiff der Stern- und Kreisschifffahrt vorbei, für uns immer noch die Weiße Flotte. Spree aufwärts fahrend brachte es die Passagiere zu einem der beliebten Ausflugsziele, vielleicht zum Müggelsee, vielleicht nach Woltersdorf oder sogar bis nach Grünheide. Heute war starker Betrieb auf dem Wasser. Viele in beide Richtungen fahrende große Privat-Motorboote, die seit der Wende die Spree bevölkern, kündeten von der diesjährigen Urlaubssaison. "Wenn ich die Boote sehe, denke ich sofort an unsere Jugendjahre. Weißt du noch …?", begann ich. Ja, wir wissen noch. Gern erinnern wir uns an die Zeit des Wasserwanderns, in der wir uns kennen lernten. Später paddelten wir mit zwei Kindern im kleinen Faltboot, bepackt mit Zelt und dem Nötigsten für die Familie, ins Wochenende. Damals wurde jeden Sonnabend bis Mittag gearbeitet. Nach Feierabend brachte uns die S-Bahn vom Bahnhof Ostkreuz in den Südosten Berlins. Wir denken an das Treppauf und Treppab mit Gepäck und Kinderwagen. Es war eine Plackerei, doch wir packten es. Als die Kinder flügge waren, genossen wir unbeschwerte Jahre auf dem Wasser – Erinnerungen, bei denen wir wieder jung werden. "Lass uns noch ein Stück gehen. Die Luft ist so angenehm frisch." Nach dieser freundlichen Aufforderung meines Mannes setzten wir unseren Spaziergang fort. Zu gern pilgerten wir über die Stralauer Halbinsel. "Wie viel sich hier verändert hat." Diesmal war er es, der das Gespräch aufnahm. Die neu gestalteten Grünanlagen und der Uferwanderweg waren übersichtlich beschildert. Wir lasen: Tübbecke-Ufer, Regatta-Ufer, Wendenwiese, Am Schwanenberg. Bei dem Namen Tübbecke dachte ich an einen Roman Theodor Fontanes. In Irrungen, Wirrungen erzählt er die Liebesgeschichte von Botho und Lene, die im ehemaligen Lokal Tübbecke hoffnungsvoll begann und doch nur eine Sommerliebe blieb. Unser Weg führte vorbei an der 540 Jahre alten Stralauer Dorfkirche. Ihr Glockenklang tönt oft bis an unser Fenster. "Die Halbinsel ist so schön geworden, aber ein kleines Café hier an der Spitze fehlt immer noch", stellten wir mit Bedauern fest. Sich bei einem Kaffee ausruhen zu können mit Blick auf das Wasser, das wünschten wir uns. Ob wir das noch erleben werden? Schlendernd traten wir den Rückweg an.

Wir leben gern im Stralauer Kiez, von dem man kaum glauben kann, dass er Teil der Hauptstadt ist. Keine Sparkasse, keine Post, kein Einkaufstempel – Wahrzeichen großstädtischen Flairs – stehen den hier wohnenden Bürgern zur Verfügung. Die Verkehrsanbindung an die Innenstadt ist dürftig. Abends kommen wir nicht einmal ins Friedrichshainer Kulturhaus Alte Feuerwache, so dass wir sehenswerte Kulturveranstaltungen entbehren. Trotzdem bleiben wir hier. Unsere Söhne versuchten vergeblich, uns den Umzug in eine andere Gegend schmackhaft zu machen. Sie würden selbstverständlich helfen. Wir lehnten ab. Der Stralauer Kiez gibt seine Schönheit nicht auf den ersten Blick preis. Man muss sich schon der Mühe eines zweiten Blickes unterziehen, um seine inneren Werte zu erkennen. Wir, die vom Wasser nicht loskommen, obwohl wir selber nicht mehr aktiv sein können, wollen auf die Spree nicht verzichten. Es sind nicht nur die Spaziergänge zur Halbinsel oder zur Rummelsburger Bucht oder zum nahe gelegenen Treptower Park, die uns für manchen Mangel entschädigen. Es ist auch die abwechselungsreiche Sicht aus dem Fenster unserer Parterrewohnung. Vor unseren Augen flutet dichter Verkehr. Brummis transportieren Güter aus ganz Europa durch die Stadt. Reisebusse bringen erwartungsfrohe Touristen zu unbekannten Orten, Menschen fahren zur Arbeit oder nach Haus, fahren ins Theater oder ins Wochenende. Manchmal fahren unsere Gedanken mit. Wir fühlen uns mit dem Leben verbunden. Vom Fenster aus verfolgen wir den Wandel des Osthafens, der stillgelegt und einer anderen Nutzung zugeführt wird. Wir erleben die Sanierung der denkmalgeschützten Gebäude sowie das Werden einer Medienmeile. Und der Wandel geht weiter. Werden wir auch eine spaziergängerfreundliche Uferpromenade erleben? Die jüngste Neuigkeit vollzog sich am jenseitigen Ufer der Spree, auf der Kreuzberger Seite, genau uns gegenüber. Ein großes, in die Spree eingelassenes Bassin mit sauberem, vorgewärmtem Wasser ermöglicht den sonnen- und wasserhungrigen Berlinern und ihren Gästen riesigen Badespaß bis in die Nacht hinein. Das fröhliche Treiben aus der Ferne mit zu erleben, ist auch ein Vergnügen.

Das alles wäre schon Grund genug, die Gegend nicht zu verlassen. Doch das beste Bonbon des Stralauer Kiezes ist das RuDi-Nachbarschaftszentrum, auch unter dem Namen "RuDi — Der Stralauer Kiezladen" bekannt. Sein vielseitiges Angebot lockt Menschen aller Altersklassen weit über den Kiez hinaus an. Verständlich, dass wir zu den Stammgästen gehören. Hier wird das Miteinander ganz groß geschrieben. Interessante Menschen begegnen sich. Wir lernten Lieschen kennen, die leider nicht mehr lebt. Als Bootsmann auf einem Lastkahn half sie nach 1945, Berlin vom Wasser her wieder aufzubauen. Da ist Johanna, die erste Kranführerin Berlins, die am Neubau von Wohnblöcken in Berlin, auch in unserem Kiez, mitwirkte. Da ist Hella, die einst als Schaffnerin auf der Straßenbahn fuhr und Erika, die  Eisenbahnerin – Frauen mit nicht ganz alltäglichen Berufen. Da sind all die anderen Frauen, die zahlreichen RuDi-Aktivitäten den Stempel aufdrücken. Besonders beliebt sind ihre interessanten, kulinarisch begleiteten Vorträge und Gesprächsrunden. Beim diesjährigen Kiezfest belegten einige Frauen einen Info-Stand. Mit dunkler Brille und Schirmmütze vor sengender Sonne geschützt sahen sie so lustig und lebensfroh aus, dass der RuDi-Fotograf sie sogleich im Bild festhielt und sie "Die Ladys vom Rudolfplatz" nannte. Fortan hatten sie ihren Namen weg. Bald darauf sah man sie sogar als Fotomodels beim Rundgang auf dem Platz. Es sind Frauen — oft auf sich allein gestellt — die allen Schwierigkeiten zum Trotz das Leben täglich neu meistern, prächtige Frauen, eben Ladys. Auch wegen der Ladys vom Rudolfplatz bleiben wir hier.

Doch wo Licht ist, ist auch Schatten. Ein dunkler Punkt unseres Wohngebietes ist der altehrwürdige S-Bahnhof Ostkreuz, den böse Zungen "Rostkreuz" nennen und der den Ansprüchen des modernen Großstadtverkehrs nicht mehr gerecht wird. "Wenn es wenigstens Rolltreppen gäbe", seufze ich manchmal. Trotzdem ist er uns lieb geworden, der Bahnhof Ostkreuz, in dessen Umfeld wir seit 56 Jahren leben.

Heiko Daxl - Liebe am Ostkreuz

Inka Engmann - Auf Reisen gehen

Inka Engmann
Auf Reisen gehen

 

"Heute pinkel ich dich zum letzten Mal an! Ich will nun auf Reisen gehen!", sagte der kleine Hund zu dem großen alten Wasserturm am Ostkreuz.

"Gott sei Dank!", brummte der. "Geh endlich weg und komm nie wieder!"

Der kleine Hund warf den Kopf nach hinten, scharrte mit den Füßen und lief los. Er trippelte über die Straße und in den Bahnhof hinein. Er stieg in eine S-Bahn und fuhr Richtung Süden davon.

Der alte Wasserturm blickte der S-Bahn lange nach. "Hoffentlich kommt er nie wieder!", brummte er noch einmal und atmete tief durch. Wie behaglich war es, nicht mehr angepinkelt zu werden! Wie ruhig war es, wenn keiner bellend um einen herum tanzte! Zufrieden schloss der Turm alle Fenster und begann zu schnarchen.

Er erwachte frisch und ausgeruht wie schon lange nicht mehr. Drüben am Ostkreuz pulsierte das Leben. S-Bahnen hielten, spuckten Leute aus, nahmen andere Leute auf und fuhren wieder ab. Diesem Treiben konnte der Turm stundenlang zusehen, bis er wieder einschlief.

So vergingen die Tage des alten Wasserturms — entweder schlief er, oder er betrachtete das Leben am Ostkreuz, das niemals schlief. Doch mit der Zeit wich die Zufriedenheit, irgendetwas fehlte ihm. Dieses Gefühl wurde immer stärker, so dass der Turm nicht mehr schlafen konnte und ganz verdrießlich wurde.

Eines Tages sah er eine junge Frau am Ostkreuz, die auf der Fußgängerbrücke nervös hin und her lief. Eine S-Bahn hielt. Das Gesicht der Frau verklärte sich, sie lief die Treppen zum Bahnsteig hinunter und flog einem jungen Mann um den Hals, der aus der S-Bahn gestiegen war. Solche Szenen hatte der alte Wasserturm schon oft gesehen. Aber heute musste er dabei merkwürdigerweise an den kleinen Hund denken. Er sah ihn fröhlich bellend um sich herum tanzen. Er barg ihn schützend des nachts in seinem Mauerwerk. Er behielt ihn argwöhnisch im Auge, wenn der kleine Hund über den Bahnhof streunte und nach Essensresten suchte und war jedes Mal froh, wenn er unversehrt zurückkehrte.

"Ach was!", grummelte der Turm ärgerlich. "Bin froh, dass er endlich weg ist!"

Aber er war nicht mehr froh. Er starrte auf das Ostkreuz, und bei jedem kleinen Hund, den er sah, klopfte sein Herz schneller. Doch hatten diese Hunde alle ein Frauchen oder Herrchen, keiner von ihnen verschwendete einen Blick an den alten Turm.

Ein Falke setzte sich auf sein Dach. "Hast du den kleinen Hund gesehen?", fragte der Turm, doch der Falke schüttelte den Kopf und flog weiter. Es kamen noch andere Vögel, aber niemand hatte den kleinen Hund gesehen. Der Winter brach herein, und es kamen nur noch Tauben und Krähen. Der Turm fragte immer noch alle nach dem kleinen Hund. "Der ist sicher längst tot!", krächzte eine Krähe. "Vielleicht ist er auch im Tierheim!", fügte eine Taube tröstend hinzu. Aber der alte Wasserturm war ganz hoffnungslos und traurig. Er starrte zwar immer noch auf das Ostkreuz, doch der Trubel zog gleichgültig an ihm vorbei.

Dann kam der Frühling. Die Rummelsburger Bucht wurde grün und auch das Ostkreuz sah wieder freundlicher aus mit all den bunt gekleideten Menschen. Doch im Herzen des alten Wasserturms war immer noch Winter. Er sah sie kommen und gehen, S-Bahnen, Menschen und Hunde, doch niemand kam zu ihm. Aber halt! Schnüffelte da nicht ein kleiner Hund in einem der Bahnhofsmülleimer herum? Und kein Frauchen oder Herrchen war da um ihn zu rügen! Ein starker Frühlingsregen prasselte los, doch dem alten Wasserturm war, als hätte die Sonne nie schöner geschienen.

Der kleine Hund trippelte aus dem Bahnhof hinaus, über die Straße und auf den alten Wasserturm zu. Dann stand er vor ihm, den Kopf geduckt, den Schwanz zwischen den Beinen und sah ihn aus treuen Hundeaugen an. "Ich will dich nie wieder anpinkeln!", gelobte er kleinlaut. "Du bist ja ganz durchnässt!", brummte der alte Wasserturm und ließ seine Tür aufspringen.

Thomas Rehaag - Flammenengel

Thomas Rehaag
Flammenengel

 

"Jetzt kommen bald die Abrissbirnen", sagte Schulzi und spülte den Brocken Pizza Funghi mit einen Schluck Becks runter. Er begann zu husten. Balder klopfte ihm den Rücken ab. "Geht schon!", rief Schulzi. Seine geröteten Augen hefteten sich tränend an Balders Gesicht. "Lass ab!" Balder ließ. Schulzi brach sich das nächste Stück ab.

"Stopf, stopf, stopf! — Versuch wenigstens einmal, dein Leben zu genießen!"

"He, he! Pass auf, was du sagst!" Schulzi ballte die Linke zur Faust.

"Hast ganz schön abgebaut!", konterte Balder verlegen.

Schulzi beugte sich vor und streichelte Balders linke Wange. "Mach uns noch zwei Biere auf." Schulzi lehnte sich an die speckige Raufasertapete und gähnte. Seine Wampe stülpte sich selbstverliebt über seine mickrige Männlichkeit.

Balder öffnete die Flaschen. Schwälle von Schaum ergossen sich über den ausgebleichten graublau-karierten Teppich. Sie tranken.

Beide waren Männer in den "besten Jahren" und Loser und seit der Lehre Freunde. Sie machten sich keine Illusionen mehr. — Wenn sie träumten, dann nur noch nachts. Sie gruppierten ihre Lebensgeister um Stütze und Schwarzarbeit.

Balder schrieb Dramen und Kurzgeschichten, um nicht abzudrehen, wie er jedem erklärte, der ihn nötigen wollte, sein Geschriebsel irgendeinem Verlag zu schicken.

Schulzi wäre in der DDR fast Juniorenbezirksmeister im Boxen geworden. Heute schlug er einmal die Woche auf Ledersäcke.

"Was grübelst’n?", fragte Schulzi, die Flasche ausspritzend.

"Ob die es schaffen, unsere Anträge rechtzeitig zu bearbeiten, ich meine, die Sparkasse hat meinen Dispokredit storniert, ehm gesperrt."

"Lahme Zicke!" Schulzi kniff ihn in den rechten Oberschenkel.

"Aua! Brutaler Kerl!"

Schulzi tätschelte ihm beide Wangen.

"Pranken wie Schmirgelleinen."

"Na, na!" Schulzi schob ihm den Rest der Pizza hin. Balder aß, um Spannungen abzubauen.

"Ich pump dir was!" Schulzi nickte ihm gönnerhaft zu.

"Werd auf dich zurückkommen, Schulzi", sagte Balder kauend. Züge ratterten in der Nähe vorüber. Hundegebell stieg aus dem Hinterhofloch.

"Kriegen die nicht in Griff mit dem Umbau. Nicht die korrupten rot-grünen Brüder… In zehn Jahren sieht der Bahnhof genauso Scheiße aus."

"Aber die Häuser werden sie killen — Alteigentümer und so…", erwiderte Balder und drehte sich eine Zigarette.

"Sag ich ja… Soll ich nicht lieber?"

"Schaff ich alleine, Schulzi." Balder leckte am Klebestreifen. Schulzi gab ihn Feuer.

"Hab noch ’n bisschen Dope da für nachher."

"Dafür sind wir nicht 'klien' genug." Balder deutete auf die Kiste Bier.

"Warten wir’s ab", sagte Schulzi und schaute zum Fenster.

"Woran denkst du?" Balder versuchte, Schulzis Gesichtsausdruck zu entziffern. Es gelang ihn nicht.

"Die da draußen wuseln herum… Du und Tute seid meine einzigen Freunde. Ein Freund geht mit dir durch Dick und Dünn… Ein Kamerad…"

"Danke Schulzi. Kannst auf mich zählen."

Schulzi riss sich vom blasser werdenden Lichtschein los. "’n Pfeffi?"

"Hab nichts dagegen, Schulzi."

Schulzi watschelte zur Küche. Die Türangel quietschte laut. Flugzeugsummen schwoll an. Balder eilte dem Brummen entgegen. Ihn wurde schwarz vor den Augen.

"Haste Hummeln im Arsch?" Schulzi schaukelte die Pfeffiflasche in den Armen. "Mein Baby!" Er gackerte infantil. Balder gab es auf.

Sie setzten sich wieder an die Wand. Schulzi schenkte die Gläser voll. "Prost!" — "Prost!" — "Au, der flutscht!" Schulzi fuhr sich mit dem Handrücken über seine Lippen. Er schnaufte. Balder würgte. Es rutschte. Die nackte Glühlampe an der Decke blendete ihn. "Wie steht’s mit der Liebe?"

"Hm?" Schulzi sah ihn ungläubig an. Balder trank aus.

"Na gut! – Was macht Fraucke?" Schulzi winkte ab. "Der Grätsche hab ich den Laufpass gegeben. Machte dauernd mit anderen Kerlen rum. Noch einen?" Balder bejahte.

"Und sonst?"

"Nutten kann ich mir nicht mehr leisten, Balder." Schulzi formte die rechte Hand zum Ring und schwenkte den Unterarm.

"Armer Kerl!" Balder grübelte. "Vielleicht… Ach lass es…"

"Was’n los, Kleiner? Hast’n Moralischen?"

Balder dachte an seine Geschichte. Er lächelte.

"Hast schon vorher was genommen?", sagte Schulzi.

Balder dachte an Propellermaschinen.

"Nee. Ziemlich funktionell dein Verhältnis zur Liebe."

Schulzi goss die Gläser voll und öffnete das Bier. "Denkste, ich fange an zu joggen oder mach 'ne Diät?!" Schulzi zeigte ihm einen Vogel und rekelte sich. "Ich will leben, verdammt noch mal!" Er schmetterte sein Glas gegen die Wand.

"Schulzi!" Balder deutete auf das herablaufende Grün.

"Muss im Frühling eh renovieren." Schulzi setzte die Schnapsflasche an. "Denkste, ich mach hier auf Kultur? Scheiß drauf!" Er starrte auf den Boden.

Balder wollte ihm etwas Ermutigendes sagen. Ermutigend ohne pathetisch zu klingen. Sein Rausch verhinderte die klare Ausformulierung seiner fliehenden Gedanken. Er streichelte Schulzis Glatze und küsste ihn auf die Stirn.

"Biste meine Alte? Igitt, igitt!" Schulzi schüttelte sich.

"So Schulzi! — Ist hier nicht wie bei schlechten Eltern." Er stand auf und holte ein neues Glas aus dem Getränkefach der verzogenen Schrankwand. Danach knipste er die lila Leuchtstoffröhre an. "Barlicht", murmelte Balder und löschte den Russenmond.

"Bist ’n guter Junge, Balder." Schulzi streckte die Beine aus. "Vielleicht kommt meine Alte wieder. Hat mir zum Abschied die Lippe zertreten." Schulzi kaute auf seiner Oberlippe. "Richtig gnubblig die Narbe."

"Bist ’n Held, Schulzi."

Schulzi wies auf seine rechte Seite. "Komm."

Balder ließ sich an der Wand herunter gleiten. Sie schauten in das lila Licht. Ein Hauch von Friedlichkeit kehrte ein. Schulzi legte den Arm um ihn. "Ich erzähl dir 'ne Geschichte." — "Tu dir keinen Zwang an, Kleiner."

"Also gestern Abend steh ich auf den Bahnhof Ostkreuz, beobachte ’n bisschen die Leute. Feierabend, ziemliche Hektik. Gar nicht so meine Zeit."

"Machste doch immer."

"Wen könnte ich lieben, wer würde mir gefallen. Und vor allem, wen würde es nicht stören, wenn ich ihm Komplimente mache."

Schulzi kramte das Cannabisdöschen aus dem Brustbeutel. "Weiter geht’s…"

Balder atmete tief ein und breitete theatralisch die Arme aus. — "Nichts! Keine Nadel im Heuhaufen!" Er faltete die Hände im Schoß. "Jo machte prima Sprüche. Die Frauen flogen auf ihn. — Kaffeehausdamen." Balder seufzte. "Warf sich voriges Jahr vor die U-Bahn, gerade Mitte Vierzig." Schulzi legte mehrere Blättchen aneinander. "Und? Die Geschichte?"

"Geduld. — Na ja, die haben keine Zeit für Galanterien. Ihre treusten Kameraden sind Freund Handy, Freund Zeitung, Freund Atomino und Freund Roman. Die merken nichts mehr. Völlig ausgedörrt." Balder saugte sich an der Flasche fest. – "Äh. Jedenfalls wurde mir der Trubel zu viel, besser gesagt, er ging mir auf den Geist. Ich richtete meinen Blick in die Ferne, vagabundierte über den Himmel…"

Schulzi entzündete die Dopekugel. Balder schwieg eine Weile. Schulzi bröselte Tabakreste auf den Blätterteppich.

"Ich hörte Motorengeräusche von rechts. Kamen mir bekannt vor. — Positionslichter — Rosinenbomber. 'ne DC-3. Die kurvte mit solcher Akkuratesse über dieser ganzen Hektik, mit soviel Schwung und Anlauf… Manchmal möcht ich religiös sein." Balder hielt die Flasche vor das Licht. Schulzi gab ihn die qualmende Tüte. "Wirste gleich." Balder inhalierte und hielt die Luft an. "Ha. Schien nicht von dieser Welt zu sein, die Maschine."

Schulzi schob die CD ins Laufwerk. Keltische Musikklänge untermalten dumpf wallend eine hohe Frauenstimme. Schulzi nahm den Joint an sich und zog durch die ineinander greifenden Hände. "Wirkt schneller, Balder."

Balder legte sich auf den Rücken.

"Der nächste Zug fuhr ein und… Finito." Er pfiff zwei Mal, die rechte Hand in der Luft bewegend. "Von vorn und von hinten Stöße. Machte mich die Treppe hinunter… Wollte am Imbisswagen 'ne Bockwurst essen und…"

"Rauch mal."

Balder öffnete die Lippen."'Ey!' rief es plötzlich. Ich dreh und wende mich, ohne was zu sehen. 'Hier bin ich!' Und ich sah."

"Lass mir auch noch was stehen", sagte Schulzi vorwurfsvoll. Balder öffnete die Lippen.

"Aus der Finsternis hinterm Zaun, Quatsch, auf dem Zaun saß so 'ne Gestalt, ich zwickte mich in den Hintern, aber sie saß immer noch da. Die DC-3 flog noch 'ne Runde. 'Ist dir nicht kalt?' fragte ich. — Grüne Kniehosen, rotes Nicki, rote Socken in schwarzen Knöchelturnschuhen. 'Willste mich adoptieren?' fragte die Erscheinung und schwupps, sprang sie mir vor die Füße. 'Hier bin ich!'

'Nett von dir. Bist ja ganz schön gewachsen. Sah da oben gar nicht so riesig aus.'

'Nenn mich einfach Key. Was machst’n heute noch so?'

'Also Karin, ehm, Key, bist ja ganz schön frech', sagte ich. Wir gingen ein Stück Richtung Ausgang. Key hing sich bei mir ein. Unter der nächsten Laterne lachte mir Key in die Augen. Und ich sage dir, Schulzi, nie hab ich solch rotes Haar und solche grünen Augen gesehen! — Machte 'n etwas finnischen Eindruck. Nase und Wangen voller Kakaofleckchen… Na ja, es blieb mir nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen."

Schulzi streckte sich neben ihn aus.

"'Willste 'ne Bockwurst essen?', fragte ich sie. Ich führte sie zum Wagen. Aber sie grub ihre spitzen Fingernägel in meinen Oberarm. 'Mit Döner kannste mich mästen', sagte sie. Also ab zum Dönerladen.

'Für uns 'n Riesendöner mit extra Soße und zwei Cola.' Bekleckerte mir wie immer Jacke und Schuhe. Sie entwickelte einen gesunden Appetit. Hörste mir überhaupt noch zu?"

"Sag mal, unter Stoff standste gestern nicht?" fragte Schulzi und rülpste. "'tschuldige…"

"Die CD ist durch…"

"Schaltet sich automatisch um, Balder, immer die selbe Leier. Genau das Richtige für Kifferigel."

"Hatte gestern nur zwei halbe Liter intus. Glaub mir, Schulzi." Schulzi gähnte. Balder begann es egal zu werden. Zunge und Gaumen wurden pelzig. Seine Stimme schien nicht mehr ihm zu gehören. Wie fortfahren?

"Der erste Bulle, dem wir begegneten, musterte uns misstrauisch. Key und ich ähnelten uns wirklich nicht. Er ging weiter. 'Bin ich müde', sagte Key. 'Wo wohnst’n überhaupt?', tastete ich mich vor. 'Bei meiner Großmutter, der alten Hexe.' Sie verzog die Lippen und schmiegte sich an mich.

Wir schlenderten am Park entlang und bogen in die Straße ein. 'Die Kuh ist heute nicht da. Sie bleibt die ganze Nacht fort. - Gut für uns, nicht?' Ihre Augen zwinkerten mich spitzbübisch an und sie steckte mir die Zungenspitze ins rechte Ohr."

"Bist auf die Nutte reingefallen", flüsterte Schulzi. Balder ließ sich nicht mehr stören. Er hob leicht ab.

"Ich sah nach oben. 'Soll nicht regnen heute', sagte Key. 'Propellermaschinen klingen so vergeblich', sagte ich… — 'Du hast einen sitzen, alter Mann.' Sie biss mir ins Ohrläppchen. 'Ich sammle Geräusche.' — 'So was wie’n Geräuschemuseum?', fragte ich sie. 'Manchmal werden sie Musik.' Sie schloss die Haustür auf.

Sie griff meine rechte Hand und zog mich die Treppe rauf. Der Aufgang roch nach Katzenpisse und altem Frittenfett. Ich machte mich auf was gefasst.

'Unterm Dach', flüsterte sie, 'Feuergeister'. Sie drückte den Zeigefinger auf die Lippen. 'Pscht!' Sie führte den gusseisernen Schlüssel ins Schloss und lehnte sich gegen die Tür.

'Warte. Ich mache Licht.' 'Die rote Laterne', entfuhr es mir verwundert. Sie schlüpfte aus den Turnschuhen. 'Du auch…' Ich nestelte an meinen Schnürsenkeln. 'Die vielen Hunde…' — 'Ja, ja'. Sie winkte mich in das Zimmer am Ende des Flurs. Am Boden lagen weinrote Felle lose aneinander. Die Wände waren schwarz gestrichen, die Decke blendend weiß. In der Mitte des Raumes stand ein großes Kanapee aus blau-grünem Leder. In den Ecken standen unterschiedliche Tonbandtypen. 'Hab ich einen Durst', sagte ich.

Key betätigte den Lichtschalter. UV-Licht kroch aus der nackten Fensternische. Sie füllte blaue Kristallgläser mit einer himbeerroten Flüssigkeit. Ich trank und legte mich aufs Kanapee. Sie sprang von Gerät zu Gerät. Das Gebräu schmeckte nach Sangria und Amaretto.

'So.' Sie nahm Anlauf und plumpste auf mich. Sie knuffte mich ins durchwachsene Lendenfleisch. Dann umarmte sie meinen Brustkorb und vergrub ihren breiten Mund in meinem aufgeschlitzten Hemd."

Schulzi griff sich an die Hose.

"Uhren klingelten, schlugen oder piepten. Elstern stotterten krächzend gegen Amselgesang, Lokomotiven pfiffen, Fahrstuhlmusik legte sich auf die Ohren… Key stützte das Kinn auf beide Handflächen und klinkerte mit den Augenlidern. Ihre Schenkel umklammerten meine Beine. Ich versuchte mich zu befreien. — Es gelang mir nicht. Ich zappelte wie ein Brummer im Spinnennetz. Key, dieser Satansbraten, grinste nur. Sie legte den Kopf auf meine Schulter und säuselte mich an.

'Fährste mit mir Riesenrad?' — 'Vielleicht.' — 'Hm?'

Rollendes Brummen kreuzte sich; abpfeifende Luftzüge…

'DC-4, Tante Conny…', sagte ich leise.

Rummelklingklang, Pferdegetrappel und Spielautomatengesänge fielen von den Seiten in die Spuren…"

"Denk an Aktentaschen", stöhnte Schulzi.

"'Bist netter als mein Vater.' — 'Bin’n Wrack, Key.' — 'Und ziemlich gut gebaut.' Sie ruckelte auf mir herum.

'Key, woll’n wir nicht…'

Sie bearbeitete meine Lippen mit Mund und Zunge. Ich wollte nicht zerreden!"

Balder drehte den Kopf zu Schulzi. "Wie ’ne Tiefseekrabbe, seltsam…"

Er wandte sich ab und betrachtete den Wasserfleck an der Decke. Er kicherte irre. "Alaska…"

"War auch so’n Schlüsselkind, Kleiner…" Schulzi nieste. Balder versuchte auf der Fährte zu bleiben.

"Jedenfalls verzauberte sie mich und ich wagte auch nicht nach ihrem Alter zu fragen." Er grübelte. "Kam mir wie ’n Bruder vor. — Kaum Brust, blühende Formen…"

"Der Stoff, Balder."

"Lass mal, Schulzi."

"Bachchoräle, Bebop, Cool Jazz, Joy Division… 'Bin unten glatt wie ’n Kinderpo. Willste mal sehen?'

'Glaub ich dir, Key.'

'Bist zu feige, oder?'

'Nee, aber ich hab grad ’ne Geschichte im Kopf. Sublimationsarbeit, verstehste?'

'Schreibste auch über mich?'

Ihre Zunge spielte mit meinen Wimpern.

'Weißt du, wenn die das Riesenrad in Kreuzberg hinkriegen, lad ich dich zu ’ner Fahrt ein. Und dann gehen wir in den Plänterwald und treten Boote, inklusive Döneressen ohne Ende…'

'Biste so reich?'

Sie steckte den Zeigefinger in meinen Bauchnabel und ließ ihn langsam kreisen.

'Nee, Key, bin ich nicht. Bin vollkommen pleite.'

'Armer Kerl.'

'Werd mich morgen für Ein-Euro-Jobs anmelden.'

'Spinner. Hmmm…'

'Key…'

'Ich geh ’n bisschen… Mm?'

'Mmmm… hach…'"

Als Balder schwieg, fing Schulzi an zu heulen.

"War nur 'ne Geschichte, Schulzi… Hab wahrscheinlich den Faden verloren."

Wie es mit Balder und Key weitergeht, steht in den Sternen. Er interessiert sich für alte Flugzeuge, wie gesagt.

Britta Koth - Kreuz und Quer

Britta Koth
Kreuz und Quer

 

Die Anfänge vieler Romane versinken im Regen. In diesem Fall regnete es wirklich. Es regnete so sehr, dass man nicht sehen konnte, wohin man lief. Weil der Schirm so tief vor den Kopf gehalten werden musste, damit die rasenden Böen zusammen mit dem nassen Geschleuder einen nicht durchnässten, sofort wie mit einer Lawine wegschwemmten. Es war acht Uhr am Morgen und jedermann musste die Bahn kriegen, jedermann hetzte zwischen den Baustellen, den aufgeschlagenen Gehwegen, den Stangen der Gerüste, dem ab und zu zwischen dem Jagen der Tropfen auftauchenden leuchtenden Orange der Bauarbeiter, den Papierfetzen am Boden, den Beilagen, die aus der Berliner Zeitung oder Morgenpost einfach herausgeschlagen wurden, bevor jedermann in die U-Bahn-Tunnel abtauchte, in die wasserfreie Zone. In wetterfreies Areal. Wo jedermann Schirme schüttelte, Frisuren betastete und wahrscheinlich bis zur Friedrichstraße wieder getrocknet wäre.

 

Der Kunde heute ist kein Freigeist. Ein Mensch, der aufs Äußere achtet, eitel, selbstgefällig – einer von denen, die auch jetzt noch fragen: "Wie bitte – Sie wohnen im Osten? Sie machen Witze…", denen man das also am besten gar nicht erst erzählt; aber in Berlin muss man erzählen, wo man lebt – ohne dass man erzählt, wo man lebt, fängt die Kommunikation gar nicht erst an, weil man vorher ja nicht weiß, über wen man lästern kann – über die Doofen aus Dahlem, die Kiffer aus Kreuzberg, die Spießer aus Spandau. Aber Werbemenschen wie ich genießen ein wenig Narrenfreiheit, die suchen noch nach kreativen Impulsen – und die müssen sie auch da suchen, wo andere lieber gar nicht erst hingucken, in die hundeverschissenen Ecken in Friedrichshain oder die fiesen, immer noch grau verputzten Mietruinen im Prenzlauer Berg.

Ostkreuz. Feuchtigkeit sitzt im Tweedkostüm, auf meinem rechten Stiefel bildet sich ein weißer Rand von der Nässe. Zwischen den Massen, die sich durch die Schwärze der Metalltrassen schieben, versuche ich auszuscheren und auf den Fruchtstand zuzusteuern. Diesen Fruchtstand, der das Schönste ist, was ich in den ersten Monaten in Berlin zu sehen bekommen habe. Nicht das Brandenburger Tor, nicht der Kurfürstendamm, nicht das Rote Rathaus, die Museumsinsel usw., nein, diese von Menschenschlieren umflossene, von der vollkommenen Düsterkeit der Schienen umschlossene, wundervoll leuchtende Pyramide aus Mandarinen-Orange, Bananen-Gelb, Elstar-Rot, den saftigen Sonnentönen der Grapefruits, Melonen und Zitronen, den weinbrandfarbenen Birnen, den überfrosteten Blau-Trauben. Wie ein sonnenbeschienenes Atoll schwebt diese Fruchtinsel im steinfarbenen Meer des Ostkreuz-Betriebs. Immer muss ich dahin treiben, kurz anlegen, eine Tüte Obst, manchmal nur eine einzige Frucht kaufen, aber mich kurz mit dem mürrischen Verkäufer mit seiner sauberen, grünen Schürze verständigen: "Diese Grapefruits – weiß oder rot?" "Rosa sind die Pampelmusen", sagt er, "und frisch sind se alle, meene Dame!" Bevor ich sie verstaut habe, ist die Bahn weg. Die nächste, meldet die Tafel, kommt aufgrund von Bauarbeiten erst in zirka 30 bis 45 Minuten. Das ist ganz schlecht, schlecht für mich, für den Kunden, schlechter geht es gar nicht, ich greife zum Handy, alle greifen zum Handy, reden durcheinander in die Telefone, gestikulieren, einer brüllt und rennt auf und ab; mein Akku ist leer. Durch den Menschenwirbel rudere ich zu einer Telefonzelle, es ist kein Hörer drin, an der Wand steht: "Wessi, halt’s Maul!" und von der Blumenbude her ruft eine Frau: "Tja, Fräuleinchen, det wa wo nix!" und lacht. Es fängt wieder an zu regnen, ich taste in der Tasche nach den dicken Rundungen der Grapefruits, der Pampelmusen, und jetzt fange ich an zu heulen, weil mir weiter einfach nichts mehr einfällt. Da ist keine Bank mehr, wenn man das Ostkreuz verlässt, da gibt’s einerseits Würstchen und Hotdogs und andererseits einen Maschendrahtzaun, und da kann man ganz gut heulen.

 

Der Junge, der sich neben mich stellt, ist durch all das Wasser kaum zu sehen, eine Kapuze hängt über das Gesicht, schwarz, er zieht die Nase hoch, wie Kinder das tun, laut und schnoddrig, und ich trete einen Schritt zur Seite, weil ich ahne, was gleich kommt. "So ist’s recht, pass schön auf deine Stiefel auf", grinst er und geht in die Telefonzelle. Da angelt er hinter dem Telefonkasten nach dem silbernen Rohr der Leitung, an dem schwarz und blind der Hörer hängt, steckt irgendwas zusammen, wählt und ich denke: "Ich sollte da jetzt drin stehen." Da kommt er schon wieder raus und sagt zu den nassen Pflastersteinen: "Geht nicht", und ich frage: "Ich muss auch telefonieren, wo kann ich das hier?" Er sieht mich grinsend an und sagt: "Kein Handy?" "Leer". "Und es ist wichtig", stellt er fest. "Sehr", heule ich, "und eilig, ich habe einen Termin und die Scheiß-Bahn fährt nicht, also wo kann…" und er sagt: "Bei mir – ich wohn hier", er deutet nach hinten, "Simplonstraße, gleich um die Ecke" – er tritt einen Schritt näher und ich sehe sein Gesicht, schmal unter der Kapuze und er flüstert: "Ist auch völlig ungefährlich!" Warum ist der so braun, muss ich denken, sage: "Okay, danke", der ist braun, wie ich nicht bin nach drei Wochen Dachterrasse oder Thailand oder den Azoren letzten September mit Andreas, aber ich bin auch blond, aber er ja vielleicht auch; ich laufe ihm hinterher, der schneller ist als ich, über Pfützen springt, um die Hundescheiße herum, durch die wechselnden Vorhänge des Regens sehe ich ihn rennen, schnell, geschickt, wegen Wind und Regen nach vorne gebeugt – er hat keinen Schirm – bei dem Wetter … und dann stehen wir vor einem Haus, groß, grau, verwitterte Fassade, er stemmt sich gegen den Flügel einer schweren Tür, blinde Spiegel zeigen zwei Besucher: einen in Kapuze, eine mit den schwarzen Trauerspuren der Mascara, die dann ja doch nie wasserfest ist, und – "Peter heiß ich" – Peter reißt sich die nasse Kapuze vom Kopf, der kahl ist, nicht einfach kurz geschoren, kahl und formschön, und Peter also zieht sich gleich den ganzen Pullover aus und darunter hat er nur ein T-Shirt, weiß, und er ist dunkelbraun und es ist November, so dass ich, während er die Treppe hochgeht, frage: "Du warst im Urlaub?" und er antwortet: "So kann man es nennen…" und kramt in seiner ausgebeulten Jeans nach einem Schlüssel. "Das dauert jetzt", lächelt er, "ist nicht meine Wohnung – ich hab’ sie nur im Winter, ich merk mir nicht, mit welchem Schlüssel…", und dann geht die Tür doch auf und wir stehen in einem riesigen Flur voller Fahrräder und bunter Bälle. "Das Telefon… ich lass dir klar den Vortritt" zeigt er und verschwindet in einem Zimmer. Ich heule nicht mehr. Dabei geht es um das Wichtigste: Geld. Ich muss Geld verdienen – und dieser Kunde ist Geld, ja Gold wert. Ich wähle seine Nummer, und als ich das Freizeichen höre, sehe ich, wie Peter den langen Flur entlang läuft, über honigfarbene Dielen; er hat die Jeans tief auf den Hüften sitzen, ein Frotteehandtuch um seine Schultern und irgendein Gelenk knackt leise beim Gehen.

 

"Radbruch!", schnarrt die Stimme und ich entschuldige mich – die Bahn…, sehe, wie Peter langsam das Handtuch über seinen Nacken zieht, in die Küche geht, ich höre das Klappern von Geschirr – und ich frage: "Wann, sagten Sie?" "Ja, hören Sie mich denn nicht?" fragt Radbruch und ich sage: "Schlecht." Und Peter kommt aus der Küche und hält fragend eine Tasse Tee hoch und ich nicke und wische an den Trauerspuren und dann fragt Radbruch: "Ich frage mich, ob Sie wirklich engagiert sind… ob Sie wissen, was davon abhängt; wir haben hier ein enges, ein extrem enges Timing, da ist kaum Luft und allein das Briefing ist…, wir haben ein wahres Brikett hier liegen. Also: es ist wichtig, ich sage es noch einmal …wich — tig, dass …" "Jetzt höre ich Sie gar nicht mehr", sage ich und lege auf. "Alles klar?" fragt Peter aus der Küche und ich sage: "Alles klar." "Zeit für einen Tee?" und er schenkt schon ein. "Was schulde ich dir?", frage ich und er lacht: "’n Euro? Mir fehlt ein Euro für Tabak und Tobias hat mal wieder mein Portemonnaie, das ist es." "Tobias wohnt hier?" "Tobias wohnt hier, ich wohne hier, hier wohnt der eine und der andere – aber: keine Frauen!" "Er sollte Mädchen sagen", denke ich und dabei denke ich an mein Alter und dieser Junge hier, der ist maximal Anfang 20, und wenn ich in Meetings sitze, dann sind die Grafiker, die Kontakter, die Fotografen, dann sind sie alle meistens jünger als ich, denn mit Mitte dreißig ist man alt in meinem Job. "Bist du aus Berlin?", will ich wissen und ich setze mich an den großen weißen Tisch, auf dem ein Durcheinander aus gebrauchtem Geschirr, Postkarten, einem Stadtplan, Zigarettenpapier und Figuren aus Überraschungseiern liegt. "Adlershof", sagt er. "Warum keine Frauen?", will ich hören, und er sagt, nach vorne über den Tisch gebeugt, mir entgegen: "Weil wir alle mit Männern schlafen." Und ich werde rot. "Ist dir das peinlich?" Er grinst. "Nein, nur überraschend, wie du das sagst…" "Das sage ich, wie man es sagt", er rührt in seinem Tee. "Wenn du Geld hast und Zeit, könntest du mich zum Essen einladen. Ich habe seit zwei Tagen nichts mehr Richtiges gegessen." Ein Sonnenstrahl fällt plötzlich auf den Boden und in der Küche wird es Sommer. "Ich habe Geld", sage ich und er strahlt, "und Zeit". "Cool. Ich zieh mir mal was an", und er geht, schlendert, wiegt den Flur entlang. "Schade", denke ich. Wir fahren nach Treptow, Peter kauft Tabak, wir gehen an der Spree entlang, er hat Bälle mit. Und ich denke: "Das ist peinlich. Jonglieren. Diese abgelatschte Metapher von Freiheit. Wie Straßentheater. Das Leben ist ein Spiel…". Wir setzen uns dennoch auf die Liebesinsel, vom Regen keine Spur, er erklärt mir die Reihenfolge, das Werfen, das Wechselspiel von Hochwerfen, Fangen, Weitergeben, wie lange man trainieren müsse, wenn denn das klappen soll, ohne dass ein Stocken, eine Pause, ein Moment des Bremsens darin liege, wie einwandfrei die Hirnhälften miteinander korrespondieren müssten, dass sich neue Verbindungen zwischen rechtem und linkem Gehirn ausbildeten, neuronale Netze, bei Jongleuren, Artisten, und auch bei jedem, der beide Hälften miteinander in Kommunikation bringe, aber eben nur, wenn man ständig in Übung bliebe, sich immer neu bemühen würde, und er stand vor mir, jetzt nicht mehr gebeugt, sondern aufrecht, groß, gerade, braun, mit einer ganz ebenmäßigen Haut, korallenfarbenen Lippen, schmalen, großen, kräftigen Händen. Er legt einen Finger an meine Stirn, kommt dicht heran und fragt: "Hast du die auch, diese Vernetzungen?" und gibt mir die Bälle. Und ich erzähle ihm, dass ich nicht Ball spielen könne, nie richtig Fangen und Werfen gekonnt habe und nicht diese verschiedenen Bewegungen rechts und links, also oben auf dem Kopf mit einer Hand kreisen und gleichzeitig auf den Bauch schlagen – so, wie man das als Kind versucht hatte. Und er sagt: "Schade, da entgeht dir viel". Dann schlägt er sich auf den Bauch und sagt: "Ich hab Hunger – gehen wir?" Ich hätte zum Essen bei Andreas sein müssen, hatte aber "vielleicht" gesagt, es war schon Mittag, er würde alleine essen und mir keine Vorwürfe machen, aber natürlich verärgert sein, weil er Unzuverlässigkeit hasst und auch gerne Reden hält, in denen er meine Neigung anprangert, auszuschlafen oder auch mal morgens zum Beispiel, wenn es regnet, das Joggen wegzulassen. Zurück gehen ich und Peter, gehen Peter und ich, den schönen Weg bis zu dem alten Ausflugslokal am Fluss. Er dreht sich eine Zigarette und raucht im Gehen. Beim Essen erzählt er, er arbeite und lebe in einem Wanderzirkus – aber nur im Sommer. Dieses Jahr seien sie in Italien gewesen, Toskana, heiß sei es gewesen, nachts in den Wagen, tagsüber im Zelt, aber er vertrage die Hitze besser als dieses Klima, obwohl Berlin die einzige Stadt in Deutschland sei, in der man es aushalten könne, im Osten, er fahre selten nach Westdeutschland, selten über die Friedrichstraße, da sei eine Art Grenze, immer noch. Dabei isst er gratinierten Schafskäse mit Thai-Gemüse, die Bälle liegen neben ihm auf dem Tisch. "Ich kenne nur Florenz", sage ich, "weil ich dort mal bei einem Texter-Seminar war, das ein Kunde bezahlt hat. Wunderschön, wir wohnten in einem Palazzo mit Blick über die ganze Stadt, alles Werbeleute." "Ich hab’s mir gedacht", lacht Peter, "Werbung. Ich kenne euch", und er beugt sich über den Tisch, mir entgegen, "ihr macht die Welt, wie es euch gefällt." "Mir würde es jetzt gefallen, nicht zu reden". "Wir schweigen", sagt Peter und isst noch drei Portionen Reis.

Dann erzählt er von Tobias, der mit Lars verreist sei – mit Lars und seinem Portemonnaie – und der vermutlich erst am Anfang der nächsten Woche zurück sei und er sich um die Katzen kümmern müsse und er Katzen gar nicht möge und diese Garfields insbesondere hasse, die sich, kaum sei er weg, in sein Bett legten und dort schmuddelige Abdrücke aus Haaren und Pfotendreck hinterließen und er auch gar nicht recht wisse, wie die füttern, da müsse er mal seine Ex-Freundin anrufen, um das herauszufinden – und dabei isst er sich durch die Käseplatte. Ich bin erleichtert. Nach den Abendessen mit Freunden, die jede Kalorie zählen, nicht nur die, die sie selber, auch die, die ich esse – oder besser noch: gern gegessen hätte, denn in ihrer Gegenwart traute ich mich kaum, etwas anderes als Tomatensalat zu essen, wobei Andreas auch darauf achtet, dass Art und Menge des Öls stimmen, die daran sind. Und darauf, dass immer genügend Vitamine im Haus und auf dem Teller sind. Besonders jetzt, im Winter. Ihm habe ich es zu verdanken, und auch dem morgendlichen Joggen, dass ich für mein Alter noch nicht hoffnungslos adipös bin, denn ich esse gern. Und nun sitzt da Peter, und isst und schwatzt und lacht, und es fällt ihm nicht mal ein, über die Kalorien nachzudenken und er sagt, als er eigentlich schon fast platzen müsste: "Das war so geil – diese Einladung kam total gut!" und ich frage mich schon, was er wohl morgen essen wird, wo doch Tobias… und als ich ihn das frage, sagt er: "Heute bin ich satt", und ich bezahle.

Es wurde dunkel, es begann zu regnen und Peter und ich, ich und Peter, liefen zum Treptower Park unter das S-Bahn-Dach. Andreas wartete bestimmt auf mich. Wartete ungeduldig, weil er wissen wollte, wie mein Meeting ausgegangen war. Ob ich den Kunden an der Angel hätte. Was dabei rüber käme. Ob es ein längerfristiger Deal sei – oder ob ich weiter baggern müsse. Wir sprangen in die Bahn und Peter blieb stehen, lehnte den Kopf an die Stange und sah mich an. Und ich dachte: "Schade." Ich dachte an die honigfarbenen Dielen, den langen Tunnel des Flurs, hörte das Gelenk, das beim Gehen leise geknackt hatte – und wir waren schon am Ostkreuz. Auf dem Bahnsteig war es finster wie immer, das Trappeln Tausender von Schuhen auf den Steinstufen der Überführung, der Geruch nach Bratwurst, das knallende Heranschlagen der Bahnen, das von Böen getragene Rauschen der Regenwellen – das alles war genauso scheußlich wie vertraut, und ich sah die magere, breite Schulter von Peter, der geschmeidig neben mir ging, langsam, raumgreifend und jetzt schweigend. Wir gingen den Bahnsteig entlang, bis er zu Ende war. Und hier müssen wir uns jetzt verabschieden – aber was sagen? Soll ich sagen: Das war ein netter Tag und… ja… und was dann? Bis bald? Oder: Sehen wir uns wieder? Wozu? Wir kennen uns nicht, haben Tee zusammen getrunken, ein wenig geplaudert, zusammen gegessen, wie auf einer Reise, ein paar zufällig zusammen Reisende, und jetzt fährt jeder in seine Richtung weiter, da muss man nicht mehr sagen als: "Schöne Fahrt noch weiterhin!" und wir standen am Rand des Gleises und Peter sagte: "Ein schönes Leben noch weiterhin" und stand vor mir, die Kapuze wieder auf, der Kopf darunter schon fast verschwunden und ich musste lachen. "Was ist so komisch?", fragte er und zog fröstelnd die Schultern hoch und ich, ich umarmte ihn, und er kam mir entgegen, halb, indem er den Kopf beugte, dann aber nach meiner Taille griff und ich sagte: "Sie kennt sich also mit Katzen aus, deine Ex-Freundin?" und er sagte: "Ich schlafe auch mit Frauen." "Auch, wenn sie über dreißig sind?" Er sagte: "Wenn sie mir das Essen bezahlen…" und das mochte sogar stimmen.

Mein Schirm stand noch in der Simplonstraße, und auf dem Weg dorthin plauderte Peter von der Misere von Tobias, der in drei Semesterferien zehntausend Euro verdient hat, "sich erkellnert hat", und nun – das Geld immer hübsch in einer Porzellandose gehortet – zusammen mit den Teedosen im Regal, ist die Wohnung abgebrannt. Die Wohnung, in der Tobias vorher gewohnt hat. Die alte Dame nebenan hatte einen Kabelbrand und kam nicht aus dem Bett, beide Beine waren amputiert, und da hat sie wohl die Prothesen nicht so schnell angekriegt. Die alte Dame ist erstickt, die Türen wurden versiegelt, das Haus blieb stehen, aber die Küche von Tobias Wohnung, die Küche zusammen mit dem Teeregal und den zehntausend Euro – die war abgefackelt – und jetzt war Tobias hier eingezogen. Und pleite. "Willst du ein Handtuch?", fragt Peter und ich setze mich an den Küchentisch, freue mich, wieder an dem weißen Tisch zu sitzen und Peter kommt mit einem Handtuch und einer Flasche Rotwein "Von Tobias – aber der hat ja auch mein Portemonnaie" und entkorkt die Flasche, dabei erzählt er von dem anderen, der hier wohnt, Richard, der davon lebt, dass er eine Garage gemietet hat, um zusammen mit seiner Freundin Autos winterfest zu machen. Ich muss lachen, schenke mir Rotwein ein, trockne mein Haar mit dem Handtuch und frage: "Und davon kann man leben?" "Auf keinen Fall", sagt Peter und wir stoßen an und er erzählt schon die nächste Geschichte. Über den Flur tapst eine schwarze Katze. Draußen reißt ein Sturm Äste von den Hinterhofbäumen und ich denke noch kurz daran, dass ich jetzt Andreas anrufen muss, der sicherlich schon halb verrückt ist vor Aufregung, schon überall angerufen hat, vielleicht sogar bei Radbruch, bei der Polizei, in der Notaufnahme… "Musst du vorher noch irgendwo anrufen?" fragt Peter und ich frage: "Vorher?" und er zieht mich vom Stuhl hoch und ich, ich mit meinen 38 Jahren, mit meiner Lebenserfahrung und so weiter, weiß nicht, was ich sagen soll, aber Peter will gar nicht hören, ob ich was zu sagen habe.

Wie schrecklich sind all diese verschämten Schnitte in der Literatur, im Film, wenn es heißt: "Am nächsten Morgen", eine Nacht weg geschnitten, nach dem ersten Kuss, und wenn man dann als nächstes Bild das Paar am Morgen sieht, zerzaust und plötzlich vertraut, wo sie sich vorher vielleicht sogar gesiezt haben. Aber so war es: Die Zeit ist in den Sturm geraten, der Regen hat alles durchnässt, der Wind ist gejagt. Peter konnte nichts zerzausen; er sah wunderschön aus. Gleichmäßig, die Haut ganz glatt und als er an diesem grauen Morgen ins Bad ging, knackte wieder das Gelenk beim Gehen.

Er rief von der Küche: "Willst du einen Tee?" und brachte mir eine Tasse ans Bett. Während ich ihn trank, jonglierte er mit fünf Bällen, einer, zwei, drei fielen herunter, er küsste meine Schulter und ich berührte seine dunkle Wange, er streckte sich, verschränkte die Arme hinter dem kahlen Kopf und sagte grinsend: "Pärchen-Märchen" und ich sagte: "Ich muss los." "Ich bringe dich zum Ostkreuz", sagte er, sprang auf und zog sich an. Mit seiner hängenden Jeans und dem Pullover mit der schwarzen Kapuze erschien er in der Tür, hatte meinen Schirm zusammengefaltet. Und wir liefen durch den Regen zum Gleis. Zum Gleis in Richtung Westkreuz, wo Andreas auf mich wartete. Die nächste Bahn kam in vier Minuten.

Es regnete immer noch oder schon wieder, es gab keinen Anfang, gab kein Ende; aber endlich ging die Tür auf, der Junge mit der Kapuze über der Stirn trat raus, hielt mir die Tür auf, grinste und sagte: "Ganz sachte mit’m Hörer, dann können Se telefonieren — is noch Restgeld drin." Ich faltete den Schirm zusammen, wählte die Nummer von Herrn Radbruch und entschuldigte mich für die Verspätung. Durch das Glas der Telefonzelle sah ich, wie der Junge die Kapuze abnahm, silberne Tropfen aus langen schwarzen Locken schüttelte und unter dem S-Bahn-Dach verschwand.

raif - Züge fahren – Lichter blitzen

raif
Züge fahren – Lichter blitzen

 

Trübes Wolkengrau
Treppen rauf, Treppen runter
flüchtige Blicke
Menschen strömen
Züge fahren, Lichter blitzen, Genussgerüche
gehetzte Liebe
Abschiedskuss muss reichen
bis zum Wiedersehen
"Einsteigen bitte"
Umarmung – Kuss
"Zurückbleiben bitte"
nicht loslassen wollen
Zärtlichkeit durch Glas
Winken
schmachtende Augen
sehnsüchtige Blicke
schwere Herzen
immer wieder und wieder…
Züge fahren, Lichter blitzen
wann ist er wieder hier?
Züge rattern
Menschen hetzen
Hunde bellen
"Zurückbleiben bitte"
noch 5 Minuten
nächster Zug
eilige Schatten
noch 3 Minuten
Leute schieben im Pulk
kein Blick von ihm
wo steckt er bloß?
ungewisse Minuten
Züge fahren, Lichter blitzen
Hetzblicke
"Einsteigen…"

Sehnsucht nach ihm –
was ist ihm passiert?
Klingel-Vibrationen!
Unfall? Zugverspätung? Zeitverschwörung?
"was? 10 Minuten später?"
"Gut, ich warte!"
ungeduldiger Blick
Fenster rasen vorüber
Türen schwenken
Züge fahren, Lichter blitzen
schnelle Augen
Da!
Schritte treiben
Arme öffnen
Lippen schmelzen
Zungen zittern
Arme klammern
Geräusche verstummen
dem 7. Himmel nahe
Umgebung in grau:
Leute, Wände, Züge
Treppe rauf – umsteigen
"Zurückbleiben bitte"
Züge fahren, Lichter blitzen

Jan Peter - Eine andere Sonne

Jan Peter
Eine andere Sonne

 

Weit oben hingen dünne Zirrusschleier über der Stadt – vereinzelt und reglos. Felio sah verblüfft in das runde, faltige Gesicht der Blumenverkäuferin, dann auf die Rose in seiner Hand und wieder zur Verkäuferin. "Bitte!", hatte sie ihm die halb geöffnete Blüte unters Kinn gehalten. Jetzt lächelte sie ihn an – gerade so, als wüsste sie von einem Geheimnis, das auch ihm bald zuteil werden würde. Als er noch immer nicht verstand, wünschte sie ihm "Alles Gute!" und drehte sich zur Seite.

Vor ihrem Kiosk am Bahnhofseingang, zwischen stummen Passanten und Lautsprecheransagen, die von den Bahnsteigen herüberwehten, wunderte er sich, nicht nur über das unverhoffte Geschenk. Sein Tag hatte schon merkwürdig begonnen. "Feind neben meinem Bett – dieses Mal hast du mich verlassen", hatte er murmeln müssen, nachdem ihn die Augustsonne schwitzend geweckt hatte, viel zu spät. Und verschlafen war er im Flur erstarrt: in Unterhosen hatte er unverhofft ins Treppenhaus geblickt. Die Wohnungstür – seine Wohnungstür – hatte offen gestanden. "Was?!" Damit hatte er sich den Restschlaf aus den Augen gerieben und auf Schrank und Schreibtisch gestürzt. Doch CDs, Geld, Bücher, T-Shirts, Notebook – alles war noch da gewesen. Beruhigend, doch was war mit der Tür geschehen? Felio hatte stutzend nur eines folgern können: Er hatte sie im Schlaf geöffnet, blind und verletzlich.

Er zog die trockene Luft ein — sie roch vor allem anderen nach Wärme, lauschte dem Großstadtgrummeln — hin und wieder hörte er ein Hupen heraus, Taubengurren oder den Ruf eines Hundebesitzers nach seinem Tier. Ohne zu wissen, warum er das tat, sah Felio sich um. Heute saß niemand vor dem Lykia bei Latte Macchiato und Anatolischem Frühstück. Ringsum alles unverdächtig. Was würde noch kommen? Felio legte die Stirn in Falten und sagte "Danke!" Dann lief er mit weiten Schritten an den grauen Baracken vorüber, dem Eingangsbogen zur Ringbahn entgegen.

Unter den alten Ziegeln wurde es kühler, ein paar Stufen höher, auf dem Bahnsteig, wieder warm. Genau richtig. Felio stellte sich neben der Treppe auf. Sein Zug würde ihn gleich in südlicher Richtung ins Institut bringen. Er hielt sich die Blüte an die Nase. Kein Duft, der ihm zwischen den unangenehmen Bahnhofsgerüchen entgegen zirbelte. Rauch, Schweiß, Gummi. Er lächelte. Auch ohne Duft war es ein lebendiges Geschenk: weiße Blütenblätter, dunkelrot gesprenkelt. Noch lächelnd anfangs, glitt er ab in Gedanken an die folgenden Stunden. Tagungsbeiträge, E-Mails, Telefonate, Recherchen zischten ihm durch den Kopf. "Verflixte Diplomarbeit!", sprang es unversehens hervor. Hinter ihm polterte eine Bahn ein. Hier oben polterten sie stets, unten, in Ost-West-Richtung, sirrten sie eher. Trappende Füße und Handymelodien. Kaum jemand sprach. Der Gummigeruch wurde noch stärker und legte sich Felio bitter auf die Zunge.

Die Sonne sah er gerade über dem düsteren Wasserturm hinter dem Südende des Bahnsteigs aufziehen. Von dort her schien sie jetzt über das Gleis dem Zug entgegen, auf den Felio wartete. Ihm hatten sich aber verwirrend einzelne Rosenblätter und eine offene Tür in die Überlegung gemischt, an der er jetzt fest hing. Abwesend übersah er die Bahn. Erst das trötende Warnsignal brachte ihn zurück. "Grobe Disharmonie", konnte er noch denken, bevor er begriff: Dieser Zug war passé. Doch in den drei Sekunden zwischen seinem Begreifen und dem fahrenden Zug entstand ein gedankenleerer Raum, von dem er widerstandslos überwältigt wurde. Er hatte keine Zeit, sich zu wehren: Helles Sommerkleid, lange brünette Haare und Lippen — transzendent lächelnd und fordernd zugleich. Funken sprühten ihm aus allen Kanälen. Felio staunte, durch eine zerkratzte Scheibe hindurch, in große, offene, weibliche Augen. Zwischen zwei Sitzbänken stehend, hatte sie ihre Blicke an ihn geheftet. Ihre Lippen wurden ernst. Ohne sich von ihm zu wenden, sprang sie zur Tür. Zu spät. Der Zug verschwand und mit ihm — sie.

Die Funken vergingen und Tautropfen tänzelten ihm durch die Seele. Wo sie auftrafen, begann in ihm ein warmes, schlingerndes Fließen. Seine Füße indes wurzelten fest und ruhig im Boden und über den Gussbetonplatten auf Bahnsteig A verloren ihn Zeit und Schwerkraft. Weich und weit schwebte er über den Gleisen, überall zugleich war er einfach — da, beständig ihr Lächeln vor Augen. Der Wasserturm begann zu leuchten, wies in den Himmel zu den Schleiern.

Sekunden oder Jahre – das erste, was er bemerkte, war sein Atem, dann die Hände, die Füße, dann seine Gedanken. Sein Leben setzte wieder ein. Tatsächlich glänzte der Turm. Diese Begegnung, diese eine Begegnung — auf sie hatte er zäh gewartet und war sich sicher gewesen, er könne sie nicht machen. Jetzt hatte sie ihn gefunden. Im ersten Augenblick würde er sie erkennen — das war ihm seit jeher klar gewesen. Alle Frauen, denen er jemals nachgesehen und nachgestellt hatte, waren nun egal. Jetzt ergaben alles Gestolper und Gefluche, alle Trauer und Schmach einen Sinn und waren ihm mit einem Mal aus der Seele gewischt. Er war gefunden. Und so, wie er stets gewusst hatte, er würde sie im ersten Augenblick erkennen, so wusste er jetzt, sie würde umkehren. Am nächsten Bahnhof würde sie aussteigen und den Zug zurück nehmen.

Felio wehte über den Bahnsteig nach einem Schaffner, blieb vor einem Schnauzbärtigen stehen. Die nächste Bahn zurück — wo käme die an? Der Schaffner stierte auf einen fixen Punkt in der Ferne. "S9. Bahnsteig A", gab er monoton zurück. Das war der Geisterbahnsteig gegenüber, der mit der Kurve. "So", sagte Felio.

Ein Zug kam von Süden angefahren, ging in die Linkskurve und steuerte eben diesen Bahnsteig an. Ein Prickeln im Bauch segelte Felio die Stufen hinunter, überquerte mit leichten Füßen die hundert Meter gelblichen Bodens auf Bahnsteig E und flog an dessen Ende die Treppe wieder hinauf. Verheißung. Die letzte Stufe. Im selben Moment wie der Zug erreichte Felio, einen Eichenhain passierend, den ersten Pfeiler des Bahnsteigdachs. Er keuchte. Sekunden später tröpfelten die Leute aus den Türen, liefen ihm entgegen, an ihm vorbei, die Treppe hinunter. Felio sah sie nicht, nahm nur den Luftzug einzelner Menschen wahr und hörte Sandalen klappen. Er hielt die Augen geschlossen und wartete, dass wieder Stille einzöge, wollte sie erst öffnen, wenn er ihren Atem vor sich spürte. Alles würde so kommen, wie er es sich immer gewünscht hatte. Er wusste es sicher und floss über vor Glück. Wieder stand er schwer und fest und war bereit, sich auszubreiten, als es ihm heiß im Unterbauch stichelte. Nun war es still geworden. Und in dieser Stille hörte er ein Atmen sich nähern. Felio zitterte. Die fremde Atemluft strich ihm übers Gesicht. Wenn er jetzt die Augen öffnete, begänne eine neue Zeit für ihn. Langsam zog er die Lider nach oben. Gegen die Sonne sah er einen Körper. Er öffnete die Augen weiter und – wich zurück. Salmiakgeist schoss ihm durch die Eingeweide. Ein dürrer Typ in grauen Jeans und schwarzem T-Shirt musterte ihn mit schrägem Mund, hielt ihm fragend eine Zigarette hin: "Feuer?"

Felio war fassungslos. Es blitzte ihm unbehaglich in Kopf und Bauch. War er Mensch? War das wirklich? Hatte er schon einmal größeres Vertrauen in den Lauf der Dinge gesetzt und war er schon einmal schlimmer enttäuscht worden? Impulse durchzuckten ihn: Sich schreiend auf den Boden werfen; über seine Einfalt lachen, sie schien nicht zu überbieten zu sein; Glasscheiben zerschmettern; sich apathisch an einen Pfosten lehnen; "Kein Problem, kein Problem!" hyperventilieren. Felio stand auf einem leeren Bahnsteig, war ratlos. Zeit und Schwerkraft hatten ihn vollends wieder. War die Welt eben noch schimmerndes Glück gewesen — grenzenlos und voller Möglichkeiten, so war sie jetzt ein Betonklotz — trist, massiv und undurchdringlich. Dann ein Gedanke: "Sie hat es nicht geschafft, klar, sie hat es nicht geschafft. Sie hat von einem Bahnsteig auf einen anderen wechseln müssen und es nicht geschafft." Sie würde mit der nächsten Bahn kommen. Felio schwirrte zurück zum Ringbahnsteig, erwischte einen einfahrenden Zug. Leute stiegen aus und zerstreuten sich, andere stiegen ein. Die beige-roten Waggons zogen davon. Keine langen Haare, keine Lippen, kein Sommerkleid. Sie kam auch dieses Mal nicht.

Er hängte die Schultern tief und sah zum Wasserturm hinüber. Der glänzte nun nicht mehr, war ganz der alte – schmutziges Braun und bedrohlich. Felio schien, als machte die Sonne an diesem Tag ihren Bogen schneller als an allen bisherigen. Eben noch hatte sie über dem Turm gestanden, jetzt stand sie schon rechts von ihm. Ob Jeans und Schnurrbart, ob Glatze und Stiefel, ob Hüfthosen und Glitzerstring — eben noch hätte er jeden auf dem Bahnsteig umarmen können. Eben noch hätte er das Institut in Frieden belassen können, wo und wie es war und ihm für immer den Rücken kehren. Eben noch hätte er närrisch kreischend das Dach des Bahnsteigs D besprungen und seine Hände in die Teerpappe gekrallt, hätte er sich hingeworfen und Purzelbäume geschlagen. Eben noch wäre er zur Blumenverkäuferin hinübergefegt, um ihr einen Kuss auf die faltige Stirn zu drücken. Doch jetzt war er wieder in seine gewohnten Grenzen hineingeschrumpft. Langsam, langsam kroch die Trägheit in ihm aus einem dunklen Loch hervor, kaum bemerkbar und doch unaufhaltsam. Zertrümmert hätte er sie am liebsten, erwürgt und zertreten. Doch er konnte ihr nicht beikommen.

Er atmete tief und drückte sich die Nägel in die Handballen, dass es schmerzte. Dann klopfte er an die Tür des Backsteinhäuschens in der Mitte des Bahnsteigs. Der Schnauzbärtige trat heraus und glotzte ihn an. Es lagen 27 Stationen auf dem Ring. Mit einer Ausnahme berührten ihn alle anderen Bahnlinien der Stadt. Wie viele Möglichkeiten, umzusteigen und hierher zurückzukehren, gäbe es und welche? Wenn jemand in Neukölln umstiege, in Hermannstraße… Wie wäre er schneller, Bus, U-Bahn, S-Bahn? Ungeduldig fragte Felio nach allen Kombinationen aus Bahnen und Bussen, die sich auf dem Ring ergeben konnten. Der Schaffner ließ die Stirnmuskeln spielen und den Mund offen stehen. Dann schien er etwas Unfreundliches sagen zu wollen. Doch Felio zeigte sich todernst. Schließlich sagte der Bärtige zögerlich, "Ja, Moment dann mal bitte" und schloss die Tür hinter sich. Kurz darauf kam er wieder. Ein Kollege würde die Verbindungen heraussuchen — eine große Ausnahme. Felio wippte mit den Füßen.

Die Zirruswolken hingen unverändert. Nur dunkler waren sie geworden. Die Sonne zog unaufhaltsam weiter, war noch deutlicher vom Wasserturm abgerückt. Nach endlosen Minuten brachte ihm ein kleiner Mann einen Computerausdruck: fünf Blätter, doppelseitig, in Achtpunktschrift. "Na denn mal viel Vergnügen", schnarzte er. Ihm schien die Sache nicht geheuer. "Is für 'ne Schnitzeljagd, ja?" Felio antwortete nicht. Hastig blätterte er den Ausdruck durch. Fotografisch prägte er sich mehrere Dutzend Verbindungen ein. Schon in der Schule hatte er Lehrer und Mitschüler beeindruckt, indem er ganze Balladen nebenher in den Unterrichtsstunden lernte. Konzentriert stieg Felio zum Bahnsteig E hinab. Sie hätte durchaus, wenn sie in Herrmannstraße die U8 bestiegen hätte, am Kottbuser Tor die U1 und in der Warschauer Straße die S3 …

Wieder stieg sie nicht aus. Für den nächsten Zug musste Felio sich beeilen. Über Treppen und den westlichen Brückenaufgang rüber zum Bahnsteig D. Schweiß rann ihm übers Gesicht und unter den Armen hervor. Der Zug fuhr gerade ein. In der einen Hand die Rose, in der anderen den Fahrplan, stolperte Felio die letzten Stufen hinunter. Rastlos schlängelte er sich zwischen den Aussteigenden hindurch. Eine Handvoll Kioske machte die Lage unübersichtlich. Er konnte die Frau nicht entdecken. Wieder hoch zum Ringbahnsteig. Ebenfalls erfolglos. Westkreuz! Dort konnte sie in die Regionalbahn gestiegen sein, dann bis Ostbahnhof, dann in die S 75 — Bahnsteig D. Auch dort kein Glück. Bratwurstgeruch fuhr ihm in die Nase und gleichzeitig durchfuhr ihn Schrecken. Natürlich, sie hätte ein Taxi nehmen können. Das hätte es ihr wert sein müssen. Und was, wenn sie an der nächsten Station ausgestiegen war und dort auf ihn gewartet hatte? Sie hätte ihn ausrufen lassen können. "Heiliger Adrenalinkatarakt!", griff er sich an die Stirn. Auch er selbst hätte sie ausrufen lassen können. Nun nicht mehr. Er hämmerte unablässig mit fatalen Gedanken auf sich ein und stand kurz davor, seinen Kopf verzweifelt an eine der schnörkeligen Dachsäulen zu schlagen. Er tat es nicht. Er wippte mit den Füßen, tippte mit den Fingern an die Beine, biss die Zähne zusammen und atmete flach. Ein letztes Mal blätterte er im Ausdruck.

Es waren zu viele Möglichkeiten, sich zu begegnen und sich zu verfehlen. Eine Unzahl von Wegen, auf denen sie ihn hätte erreichen können. Wollte sie, dann käme sie auch über stinkende Sümpfe hierher – Ostkreuz, Bahnsteig A. Sie war aber bislang nicht gekommen. Und wollte sie, dann würde sie ihn auch finden. Schwer und ruhig schritt Felio die Treppe zum Ringbahnsteig hinauf, er wusste nicht, das wievielte Mal an diesem Tag, und lehnte sich ans Treppengeländer. Eine Stunde und drei Minuten brauchte die Bahn, um den Ring zu schließen. Erwartungslos würde er verharren, bis diese eine Bahn wieder käme. Gleichmütig würde er hinnehmen, was sie ihm brachte. Felio grübelte wieder über seine Arbeit: Protokolle, Recherchen, Telefonate, E-Mails …

Die Sonne stand bereits knapp über dem Plattenbau westlich des Wasserturms und Felio bemerkte lange Schatten auf dem Bahnsteig, dessen Ränder noch vor einer Stunde in helles Licht getaucht waren. Er wunderte sich nicht. Dann ging heute die Zeit eben schneller. Ohnehin schien es ihm Jahre her, seit er und sie sich in die Augen gesehen hatten. Sein Glück hatte er berechnen wollen, hatte nach einem Moment der Schwerelosigkeit geglaubt, sie wieder erlangen zu können, indem er ihr auflauerte und sie abfing. Zur bleiernen Kugel hatte er sich gemacht und mit Schwung in den Trichter abgründiger Mechanismen geworfen. Doch jetzt war er aufgestanden, hatte die Mechanik von sich gestreift. Genug. Felio schloss die Augen. Protokolle und E-Mails zogen wieder ein.

Ein Schienentransport rumpelte heran. Offenbar enthielt er radioaktive Fracht, denn Felio wurde am ganzen Körper von brenzligem Knistern heimgesucht. Als Felio die Augen öffnete, war es nur die S-Bahn. Doch es war die S-Bahn. Keine Spur mehr von Tautropfen. Es krampfte und zerrte in ihm. Kopflos suchte er nach Worten. Er konnte sich nicht vom Geländer lösen. Die Bahn war zu einem Drittel eingefahren, als er sie sah. Die Frau saß in der Bahn und schaute nach vorn. Sie lächelte nicht. Sie schien auch niemanden zu suchen. Starr blickte sie vor sich hin. Er sah ihr geradewegs ins Profil. Kleine Ohren, feine Nase, hohe Wangenknochen, das leichte Kleid. Begehren stieg in ihm auf und das jammervolle Gefühl, es nicht befriedigen zu können. Eine halbe Sekunde später war sie an ihm vorüber geglitten und Felio erkannte den Punkt, auf den sie starrte. Ein Mann saß ihr gegenüber und erzählte weit gestikulierend. Sie hörte gebannt zu. Die Bahn hielt und erschreckt sprangen beide auf, stiegen aus. Der Mann trug kurze Hosen und einen umfangreichen Rucksack. "Natürlich", fuhr es Felio durch den Kopf "zwei Touristen, die im Hostel kampierten und im Lonely Planet von der Ringbahn gelesen hatten". Im Vorrübergehen bemerkte die Frau Felio, der sich ans Geländer drückte. "Ah, it’s still you?" Überrascht hob sie die Augenbrauen. "Keep smiling!", sagte sie lauwarm und ohne stehen zu bleiben. "Sicher doch. Danke." Felio wurde bitter, nur einen Moment. Veilchenduft säuselte ihm in die Nüstern. "Who’s that guy?", fragte der Mann, schon Schritte entfernt. Die beiden nahmen den nördlichen Ausgang. Zuletzt wippte ihr Kopf über der obersten Stufe. Dann waren sie weg.

Vom Augenblick hatte sie sich übermannen lassen und war wenig später in ihren Alltag zurück gekehrt. "Nicht viel anders als ich selbst", dachte Felio, sah im Abenddämmern den Fernsehturm blinken. Unter ihm sirrten die Bahnen ein und aus. Die Venus war aufgezogen. Frisch und fest standen die Blütenblätter seiner Rose. Hinter dem Spreeufer war seine Sonne für heute untergegangen. Morgen würde eine andere aufgehen.

Karlheinz Rost - Liebe zu Ostkreuz

Karlheinz Rost
Liebe zu Ostkreuz

 

Ja, ich habe als Junge den Bahnhof kennen gelernt. Mutter ist nach dem Tod von Vater, wir wohnten in der Kopernikusstraße, in die Persiusstraße, Ecke Bödiker, gezogen.

Als Junge wollte ich nun meine neue Umgegend kennen lernen und entdeckte natürlich auch den Bahnhof Ostkreuz, staunte, wie viele Bahnsteige er hat und wie viele Züge fuhren, auch Dampfloks waren noch zu sehen. Später, als ich am Bahnhof Friedrichstraße arbeitete, musste ich den Bahnhof ja benutzen.

Der Eingang Markgrafendamm hatte zwei Eingänge, in der Zeit wurde die Fahrkartenhalle mit zwei Fahrkartenschaltern zugemauert und eine Werkstatt für Fahrkartenautomaten kam rein. Auch waren dann die Knipser-Wannen weg. Es gab ja einen Übergang über den Bahnhof, gleich hinter der Brücke nach Treptow war der Weg, die Fundamente von den Brücken sind noch zu sehen, eine Holzbrücke am Bahnsteig A, weil darunter der Durchgang war zu dem Übergang, den es heute noch gibt. Auf der anderen Seite ging es zur Sonntagstraße.

Ja, im Kriege hatten wir immer Angst, dass der Bahnhof bombardiert wird und wir auch was ab bekommen. Einmal geschah es, dass wir auf unserem Boden ein zirka 60 Zentimeter langes Schienenstück fanden, es soll vom Bahnsteig B gewesen sein.

Eines Abends, ich guckte noch aus dem Fenster bei Alarm, da sah ich, wie die Bomber Lichter abließen über den Bahnhof. Natürlich war ich in Windeseile die Treppen runter. Der Bombenteppich ging dann aber zum Rummelsburger See, Ostkreuz blieb verschont.

Nach dem Kriege wurde der Trümmerschutt von der Frankfurter Allee mit der Trümmerbahn über Hohenlohebrücke, heute Modersohnbrücke, durch die Persiusstraße zum Rummelsburger See gefahren, um das Ufer wieder aufzufüllen. Die Bahnsteige B und C wurden dann abgerissen.

Im Kriege wurden dann der Übergang vom Bahnsteig A, ein Verwaltungsgebäude und ein Teil des Ausgangs Markgrafendamm durch Bomben zerstört. Wenn man heute vom Bahnsteig A die Treppe runter kommt, so etwa drei Meter, ist wohl ein Kabeleinlass, auf dem Deckel ist noch die Krone, zu sehen.

Nun soll Ostkreuz wieder umgebaut werden, das ist dann der dritte Anlauf. Denn vor dem Kriege hörte ich, dass im Dritten Reich der Bahnhof umgebaut werden sollte. Man wollte vom Bahnhof Warschauer Straße den Zug nach Treptow unterirdisch verlegen, in den Häusern Laskerstraße, Ecke Markgrafendamm, sprach man schon von Kündigung. Der Krieg kam und der Bahnhof blieb wie er war. Der zweite Versuch war zur DDR-Zeit, Bahnsteig F sollte eine Halle bekommen, weil es immer so zugig ist, auch daraus wurde nichts. Nun will ich hoffen, dass diesmal was draus wird, Pläne habe ich schon gesehen, die haben sich ja allerhand vorgenommen.

Gelacht habe ich zur DDR-Zeit: ich bin auch Eisenbahnfreund und in einem Modellbahn-Verein Mitglied. Also eines Tages kam zu uns in den Club ein Eisenbahner aus Bernau, Wagenmeister, der erzählte mir, dass aus Hennigsdorf der neue S-Bahnzug nach Schöneweide gebracht wird, also muss er erst zum Ostbahnhof, weil die Nordkurve nicht benutzt wird am Bahnhof Ostkreuz; also ich mit Filmkamera und Fotoapparat nach Ostkreuz, Kynaststraße, ich warte und warte, der Zug kam nicht, habe ich auch anderes auf der Bahn fotografiert, mit einem Mal kommt ein Trabi angefahren, hält bei mir, was ich mache, dies sei verboten usw. Ich zeigte ihnen meine Ausweise und ein Gesetzblatt vom Verband, wo ich von dieser Stelle ruhig Fotos machen kann. Nun wollten sie mir erklären, wie wichtig der Bahnhof sei von wegen geheim, ich habe sie nur ausgelacht und gefragt, woher die Amis im Kriege wussten, das da ein wichtiger Bahnhof ist, erzählte von dem Bombenteppich und wie alt der Bahnhof ist und die Pläne davon schon in so vielen Büchern sind. Nun durfte ich wieder abziehen.

Ja, so kann es auch gehen. Denn der Bahnhof ist am 7. Februar 1882 eröffnet worden, der Bahnsteig E hieß »Stralauer-Rummelsburg«. Der Fußgängerüberweg ist 1926 gebaut worden.

Weiß nicht, ob Sie wissen, dass es ein Buch über Ostkreuz gibt, es heißt »Berlin Ostkreuz«, von Gerda Mond.

Der Bahnhof hat ja auch den Namen "Rostkreuz". Ja, leider ist es mir nicht mehr möglich, den Bahnhof zu betreten, meine Füße wollen nicht mehr die Treppen, und die Puste wird auch knapp, nun muss ich eben nur mit den Bussen fahren oder wo Rolltreppen oder Fahrstühle sind. Es freut mich, dass der Bahnhof Rummelsburg einen Fahrstuhl bekommt.

Nadine Richter - der ostkreuzer

Nadine Richter
Der Ostkreuzer

 

Wie ein Schiff segelte die S-Bahn am Ostkreuz ein.

Der Ostkreuzer. Schwer und melancholisch. Die alten Eisen quietschten.

Das Häusermeer hindurch schaukelnd.

Vom anderen Ufer fuhr der Westkreuzer ein. Sie steuerten aufeinander zu.

Was für ein Treffen, was für ein Wiedersehen. Gleich einer gewaltigen Explosion der Leidenschaft.

Der alte Rost, die schwere Melancholie schlugen wie große Steine ins Wellenmeer. Für immer ruhend am dunklen Grund.

Ein neues, starkes Glück erblühte in liebestollen Tönen und Farben.

Ließ tief atmen, in die Lüfte emporsteigen.

 

Ja, wir ließen uns dahin treiben. Vergessend das einsame Gestern. Liebend das ungebändigte Morgen.

Ließen uns von den Wellen schaukeln, umschmeicheln, liebkosen.

Wir waren einfach wir. Bestehend aus Gefühl.

Christina Schneider - Der Barde vom Ostkreuz

Christina Schneider
Der Barde vom Ostkreuz

 

Mit geröteten Wangen kam Lena die Straße herunter. Das grünweiße Wappen ihrer Burg leuchtete ihr schon von Weitem entgegen. Endlich stand sie vor dem Tor. Mit klopfendem Herzen trat sie durch die gemauerten Pfeiler. Sie schlug die schwarze Kapuze zurück und ihr schulterlanges Haar leuchtete tizianrot auf dem dunklen Stoff auf. Der geschützte Platz unter dem Bogen war verlassen. Sie ließ den Blick hoffnungsvoll über den holprigen kurzen Weg, der zu den Gleisen führte, schweifen. Der Musiker war nicht da.

Die hämische Stimme ihres Bruders drängte sich aus ihrem Gedächtnis hervor. "Seht nur, jetzt eilt unsere Prinzessin wieder in ihre heiligen Gemächer am Dreckskreuz."

"Nein, nicht Prinzessin", hatte sie ruhig über das Lachen ihrer Familie geantwortet, "dort bin ich Königin."

Graues trübes Novemberwetter kroch ihr zusammen mit der Enttäuschung klamm und kalt die Beine hinauf. Sie wollte schon gehen, als oben am Ringbahngleis plötzlich die Gestalt eines schlanken jungen Mannes hervortrat. Lässig rauchend, mit seiner Gitarre über der Schulter, stand er dort. Ehe sie sich versah, rannte Lena über den Hindernisparcours der sich mit Wasser füllenden Schlaglöcher zum Bahnsteig. Sie stürmte die Stufen hinauf und ihr sommersprossiges Gesicht bekam rosige Wangen, als sie keuchend oben ankam. Er nahm sie kaum wahr und blickte weiter gelassen in die Ferne. Erst als kurz darauf die S-Bahn einfuhr, schnippte er seine Zigarette vor den Zug, schlenderte cool zur nächsten Tür hinüber und stieg ein. Atemlos hatte Lena das Schauspiel beobachtet. Als das Warnsignal bereits über den Türen aufleuchtete, sprang sie kurz entschlossen, ohne Fahrschein, Geld oder einen Plan, durch die sich bereits schließenden Türen hinterher.

Mit klopfendem Herzen ließ sie sich auf den Platz neben ihm fallen. Sie schob die Kapuze aus dem Gesicht und beobachtete ihn vorsichtig aus den Augenwinkeln.

Das dunkle Haar hing nass oder vielleicht auch fettig über seine Ohren. Er trug braune abgetretene Kordhosen und trotz des Novemberwetters nur einen weinroten dicken Pullover mit dunklen Regenflecken auf den Schultern. Die Gitarre ließ er zwischen seinen Beinen hin und her wippen, während sein Blick der vorbeiziehenden Stadt folgte. Einfach alles an ihm gefiel ihr. Sie lehnte sich zurück, schloss die Augen und genoss, dass sich ihre Oberschenkel bei dem Geruckel der Bahn zufällig berührten.

Sie mussten schon ein ganzes Stück gefahren sein, denn als sie die Augen wieder öffnete, dämmerte es bereits und die unzähligen Lichter färbten den wolkigen Himmel rot. Die Bahn bremste erneut unruhig ab, als sich die Muskeln neben ihr anspannten und der junge Mann sich langsam erhob. Sie richtete sich abrupt auf und sah sich um. Suchend blinzelte sie in die aufkommende Nacht hinaus. Als die Türen sich öffneten und er ausstieg, sprang sie ihm ein zweites Mal kurz entschlossen hinterher.

Der Musiker stand noch auf dem Bahnsteig, er hatte sich lediglich unter die Überdachung zurückgezogen. Während sie auf ihn zu ging, las sie auf dem Schild über ihm die Haltestelle: Westkreuz.

"Wir sind also noch auf dem Ring", stellte sie erleichtert fest. Sie hatte eigentlich zu sich gesprochen, doch eine Stimme neben ihr antwortete. Sie zuckte überrascht zusammen und sah ihm dann geradewegs ins Gesicht.

"Was dachtest du denn?", fragte er nicht gerade nett.

"Ich weiß doch nicht, wohin du willst", antwortete sie. Sie starrte in seine blauen Augen, die ihr kühl entgegenblitzten.

"Du spinnst doch", sagte er.

"Ja…, das sagt mein Bruder auch immer."

Einen Moment runzelte er die Stirn, dann wandte er sich ab und steckte sich eine Zigarette an. Er hielt sein Gesicht dem Himmel entgegen und blies den Rauch hoch in die Luft. Eine gespenstische Ruhe war inzwischen über Lena gekommen, während sie abwartend sein Ritual verfolgte.

"Ich will doch nirgendwohin. Der nächste Zug bringt mich immer wieder zurück", sagte er plötzlich.

Das klang auch ganz schön verrückt, fand Lena.

"Ich bin Lena", antwortete sie aber nur.

"Blasses Mädchen mit den glänzenden roten Haaren, dass täglich an mir vorübergeht, — ich bin Nero", sagte er nun freundlicher.

"Ein Kaiser…", dachte sie.

"Willst du auch deine Stadt anzünden?", fragte sie lachend. Und bereute es gleich wieder, als er völlig ernst antwortete.

"Manchmal will ich die ganze Welt anzünden." Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. Die Glut leuchtete auf und fraß sich langsam durch das Papier. Weiße Rauchschwaden begleiteten seine nächsten Worte.

"Doch sie gehört mir nicht, auch die Stadt ist nicht mein."

"Aber sieh nur", rief sie und zeigte auf das Lichtermeer vor ihnen und dann auf den glühenden Nachthimmel darüber, "sie brennt doch längst."

Er überlegte kurz und dann lächelte er das erste Mal. In diesem Moment war kein Spott mehr in seinem Gesicht. Er nickte langsam und sagte ernst:

"Ja, sie brennt noch immer im Feuer der Industrialisierung."

Lena war sich nicht sicher, was er damit meinte. Doch auch sie mochte die Stadt nicht sonderlich. Erst im Sommer war sie mit ihrer Familie hierher gezogen.

"Warum treibst du dich jeden Tag am Bahnhof herum? Hast du keine Freunde?" Er hatte wieder seinen bissigen Tonfall angenommen. "Natürlich hab ich Freunde, nur eben nicht hier", antwortete sie trotzig. Sie machte einen großen Schritt nach vorn, so dass sie an der Kante des Daches stand und starrte mit zusammengekniffenen Augen auf die große Stadt.

"Manchmal hasse ich diese Stadt. Nirgendwo hat man freien Blick, da sind überall Wände, die mir die Sicht versperren. Und sehe ich hoch, erdrückt mich dieser unglaublich tief hängende Herbsthimmel."

"Berlin", flüsterte er da leise.

"Ich wollte nur noch weg", fuhr sie fort, "und traf dann völlig unerwartet auf die Gelassenheit vom Ostkreuz."

Sie sah alles wieder vor sich. "Imagine" tönte laut aus einer Bar und überall saßen lachende Menschen. Ja, in diesem Moment hatte sie sich das erste Mal wohl in dieser Stadt gefühlt. John Lennon war noch immer bei ihr, als sie schließlich vor dem grüngelben S-Bahn-Symbol gestanden hatte. Sie war seinem Rat gefolgt: Imagine.

Das Symbol wurde ihr Wappen und das Ostkreuz ihre Burg. Unter der Überführung hatte sie Nero und seine Lieder getroffen. Er wurde ihr Barde. Der Ringbahndamm, wo sie endlich wieder ungehindert in die Ferne blicken konnte, zu der einen Außenmauer und die Gleisüberführung gegenüber zu der anderen.

"Die fröhlichen Leute sind mit der Sonne verschwunden", sagte sie wieder laut, "die Musik spielt jetzt hinter verschlossenen Türen. Aber du und deine Gitarre, ihr seid geblieben."

"So durchstreifst du jeden Tag den einzigen Ort, an dem du dich frei fühlst", sagte Nero und ging ein paar Schritte auf die Gleise zu.

"Ja…, genau. Woher…"

Mit einem Ruck riss er sich die Zigarette aus dem Mund und warf sie auf die Schienen. Dann drehte er sich um und musterte sie.

"Man kann nur staunen", rief er.

Lenas Herz klopfte laut, als Nero geradewegs auf sie zu kam. Und dann, als sich ihre Gesichter fast berührten und Lena bereits seinen warmen Atem an ihrer Wange spürte, schob er ihre Haare in den Nacken und beugte sich noch etwas weiter vor. Ein Schauer lief Lena durch den Körper, als sie schließlich seine Stimme hörte. Seine Lippen strichen bei jedem Wort sanft über ihr Ohr und sie zuckte Silbe für Silbe erneut zusammen.

Mit rauer Stimme flüsterte er: "Die ganze Welt ist meine Stadt — und Berlin ist mein Ostkreuz!"

Aus der Ferne rauschte die S-Bahn heran. Er verharrte noch einen Moment an ihrem Ohr, dann löste er sich. Ihre Augen trafen sich kurz, bevor er sich abwandte und das erste Mal zum Zug eilte.

Lenas Gedanken überschlugen sich. Mit zitternden Lippen stand sie noch da, als der Zug einrollte.

"Lena?" riss sie schließlich Neros Stimme aus ihrer Benommenheit. Mit glänzenden Augen stand er in der Tür. "Deine Burg wartet auf dich."

"Nicht meine Burg", murmelte Lena.

Ralph Roloff - Frank und Sabine

Ralph Roloff
Frank und Sabine

 

Liebe Sabine!

Heute Morgen kam ich kaum aus dem Bett. Schon durch das Fensterlaken sah es draußen kalt und grau aus. Ich bin dann aufgestanden, weil ich denke, dass du heute diesen Brief bekommen sollst. Ich muss ihn heute abschicken. Ich liebe dich.

Mein Name ist Frank Brotkrott. Ich wohne hier in der Simplonstraße und sehe dich nie, weil ich nachtblind bin. Sonst kann ich sehr gut gucken und sehe auch nicht schlecht aus.

Ich habe nichts zu tun, deshalb schreibe ich dir. Und weil ich dich liebe. Vom Fernsehen werden meine Augen immer schlechter. Und ich glaube, auch mein Gehirn. Vor ein paar Monaten stand ich mal auf dem Bahnhof Ostkreuz neben einem älteren Mann. Anzug, Krawatte, Aktenkoffer in der linken Hand, in der rechten Hand eine halbvolle Flasche Sternburg. Da erst fiel mir auf, dass ich nicht der Einzige bin mit einer halbvollen Flasche Sternburg in der Hand. So laufe ich nämlich immer rum. Warum, weiß ich nicht. Bierdurst habe ich selten, schon gar nicht bei einem solchen Wetter wie jetzt. Da reicht die Flasche manchmal zwei oder drei Tage.

Immer habe ich die leere Flasche an die Mauer gestellt, wo das Poster mit dem Kind drauf angeklebt ist, wo Profisammler draufsteht. Eigentlich kann ich auf das Pfandgeld nicht verzichten, aber wenn DU die Flaschen einsammelst, tu ich das gerne. Heute steck ich zum ersten Mal einen Brief in die Flasche. Ich hoffe, du findest ihn.

Habt all ihr Flaschensammler ein festes Revier? Manchmal seh ich dieses junge Pärchen mit den Rucksäcken. Das ist aber mehr zur Neuen Bahnhofstraße rüber. Früher standen ja oft leere Flaschen auf der Straße rum, oder so. Die Zeiten sind wohl vorbei? Kannst Du davon leben? Ich habe ja mein Geld vom Amt.

Auf den Mauern der Häuser hier herum sehe ich immer Sabine geschrieben. Deshalb weiß ich, wie du heißt, und ich liebe dich. Auf den Bahnhof Ostkreuz gehe ich nur, wenn ich Fernweh habe. Zum Amt laufe ich immer. Kommt man mal unter Leute. Ich liebe dich auch, weil du dich bestimmt traust, schwarz zu fahren. Wenn du nachts Flaschen sammelst, traust du dich das bestimmt.

Mich haben sie einmal erwischt. Da bin ich zwei Monate mit derselben leeren Flasche herumgelaufen. Manchmal hab ich sie mit Wasser halbvoll gefüllt.

Ich weiß nicht, wie du mich erkennen sollst, wenn du mich siehst. Hier haben ja alle eine Flasche Sternburg in der Hand. Wahrscheinlich tragen sie sie meistens rechts, weil fast alle Rechtshänder sind. Neunzig Prozent oder so habe ich im Wochenblatt gelesen. Da stand auch drin, dass 90 Prozent der miteinander Verheirateten nicht mehr als 30 Kilometer voneinander entfernt geboren wurden.

Ich wurde hier im Oskar-Ziethen-Krankenhaus geboren. Wurdest du auch hier geboren? Oder irgendwo in Berlin? Friedrichshain liegt ja ziemlich in der Mitte. Da rechne ich mir gute Chancen aus, dass du mich auch liebst. Oder bist du aus dem Umland oder nicht so weit weg?

Meistens hab ich eine braune Trainingsjacke an mit gelben und roten Streifen. Die habe ich heimlich mitgenommen, als sie mich von der Armee entlassen haben. Das war noch im Osten. Vielleicht erkennst du mich daran. Wenn du mir antworten willst, geh einfach schräg über die Straße bei dem Poster und steck einen Zettel in den Kasten wo Brotkrott drauf steht. Ins Haus kommst du ganz leicht, das Türschloss ist immer kaputt.

Ich roll jetzt mal den Brief zusammen und steck ihn in die leere Bierflasche. Die bring ich dann schnell runter, bevor ich mich nicht mehr traue. Ich liebe dich.

Dein Frank

Madeleine Engels - Faszination Ostkreuz

Madeleine Engels
Faszination Ostkreuz

 

Es zieht ein Strom der Bewegung
über den Stillstand deiner Steine.
Taubengeflüster, Kindergelächter und die Verlorenen,
die auf dir weinen.

Dein stummer Ruf an den Morgen,
verkündet die erdrückende Last alltäglicher Sorgen.
In deiner Umgebung bettet sich die Ruh,
fast unsichtbar für den menschlich eilenden Schuh.

Von unten nach oben,
erblickt man den Himmel, seine Wolken und Träume.
Von oben nach unten,
erreicht man die Erde, ein Leben aus Bauten und Bäumen.

In deiner Mitte,
versinkt man in eine natürlich - künstliche Vielfalt.
In ein faszinierendes Schauspiel,
von warm und kalt.

Katharina Triebe - Hildchen

 

Katharina Triebe
Hildchen

 

"So ruhe denn in Frieden." Der Pfarrer trat einen Schritt zurück und nickte den Trauergästen auffordernd zu. Einer nach dem anderen stellte sich an das Grab und warf eine Handvoll Erde in die Tiefe. Manfred murmelte mit erstickter Stimme: "Ach Hildchen, du gute Seele, wie soll es nur weitergehen?" Dann schnüffelte er, fand kein Taschentuch im Mantel und nahm mit tränenumflorten Augen die Beileidsbekundungen der Verwandtschaft entgegen.

Bereits wenige Stunden später hatte der "untröstliche" Witwer den Schmerz schon überwunden. Kaum zu Hause, ging er schnurstracks zum Hängeboden und fischte von ganz hinten eine zerbeulte Hose und eine abgewetzte Jacke hervor. Er liebte diese Sachen, besonders den dehnbaren Gummizug der Hose und die großen Taschen der Jacke. Hilde jedoch hatte die von ihm so heiß geliebte Freizeitkleidung gehasst. Regelrecht verboten hatte sie ihm, in einer solchen Schlamperbekleidung umherzulaufen, nicht einmal zu Hause. Sie würde schließlich auch nicht im Morgenrock den ganzen Tag vor ihm herumwuseln. Stattdessen hatte jeden Morgen ein frisches Hemd und eine gebügelte Hose mit Gürtel für ihn bereit gelegen. Er verabscheute Hosen mit Gürtel, die kniffen in den Bauch und erinnerten ihn unangenehm daran, dass er zu dick wurde. Auch andere Prinzipien von Hilde warf Manfred jetzt über Bord. Bisher durfte er nicht in die Eckkneipe auf ein Bierchen ausgehen. Dieses Verbot setzte er noch am gleichen Tag außer Kraft. Nicht ein kleines, sondern gleich zwei kühle Blonde und zwei Kurze dazu bestellte er sich an der Ecke im Lämpchen. Gut gelaunt schlenderte er anschließend wieder heim, fand im Kühlschrank allerdings kaum noch etwas Essbares vor. So begnügte er sich also mit den Resten, einem Eckchen Schmelzkäse und einem Zipfel Salami. Statt eines Tellers legte er sich eine alte Zeitung unter, das sparte den Abwasch. Jetzt kam das Schönste — das Fernsehen. Bei Hildchen war fernsehen während des Essens nicht üblich. "Wozu mache ich mir so viel Arbeit beim Kochen, wenn du dann in die Glotze starrst und gar nicht merkst, was du isst?", hatte sie argumentiert. Genüsslich räkelte sich Manfred im Ohrensessel. War das ein Leben plötzlich! Tun und lassen zu können, was man wollte und ohne dass einer rummault. Phantastisch. So ganz gesättigt fühlte er sich allerdings nicht, aber egal, würde er eben einfach ein Bierchen mehr trinken. Auch das Rasieren reduzierte er nun auf das Nötigste. Ja, einige Wochen fühlte sich der frisch gebackene Witwer wie neu geboren — nur eines störte ihn. So schön die wieder gewonnene Junggesellenzeit auch war, das Einkaufen und Saubermachen blieben dummerweise an ihm hängen. Zwar bestellte er abends im Lämpchen zum Bier gleich noch eine Knacker mit Kartoffelsalat, aber morgens brach er mit leerem Magen auf zur Arbeit. Verdammt leer, genauer gesagt. Hildchen vermisste er zwar nicht, umso mehr aber ihren starken Kaffee und die Pausenbrote, die sie ihm immer zusammen mit einem Apfel oder einer Banane in die Aktentasche gepackt hatte. Meist knurrte ihm vormittags im Büro derart der Magen, dass die Kollegen ihn merkwürdig ansahen. Fast war er ein wenig wütend auf Hildchen, dass sie ihn so ohne Essen sitzen ließ. Auch um die verflixte Wäschewascherei musste er sich nun selbst kümmern. Kein einziges sauberes Hemd lag mehr im Schrank, selbst die Pullover hatten inzwischen speckige Halsausschnitte bekommen. Und in allen Socken waren Löcher. Das war nicht in Ordnung von Hildchen, sich so einfach davonzustehlen und ihn in dem Schlamassel zurückzulassen. So gestand er schließlich Zähne knirschend seinem Kumpel Ede aus dem Lämpchen: "Ich muss mir wohl doch wieder eine Frau suchen. Natürlich nicht sofort, und auf keinen Fall wieder eine wie Hilde, aber mal umsehen kann ich mich ja demnächst."

Eines Abends nach der Arbeit stieg er wie immer am S-Bahnhof Jungfernheide in die Ringbahn Richtung Hermannstraße. Zielgerichtet steuerte er auf einen freien Fensterplatz zu und ließ sich nieder. Ein junges Mädchen saß ihm gegenüber und las. Wohlgefällig betrachtete Manfred ihre langen Beine. Sie schaute kurz auf von ihrem Buch und errötete bei seinem Blick. Hut ab, die war nicht übel. Als ihr plötzlich das Buch aus der Hand rutschte und zu Boden fiel, hob Manfred es eilends auf und reichte ihr das gute Stück mit einer kleinen Verbeugung wieder zurück. Ihr Lächeln trieb ihm die Hitze ins Gesicht. Alle Wetter, so eine Frau wäre doch etwas für ihn. Sie mochte vielleicht 18 Jahre alt sein, gut, er könnte vom Alter her ihr Vater sein, andererseits hörte und las man ja andauernd von Prominenten, die wesentlich jüngere Frauen erwählten. Warum nicht auch Manfred? Automatisch nahm er eine aufrechtere Haltung an und zog den Bauch ein. Wie gut, dass die Beleuchtung in der S-Bahn so schummrig war, da sah man die Fettflecke auf seiner Hose nicht. Auf der Anzeigentafel in der S-Bahn erschien die nächste Station — Ostkreuz. Das junge Mädchen packte ihr Buch ein und erhob sich. Wie schade. Manfred warf ihr noch einen letzten interessierten Blick nach. Sie nickte ihm freundlich zu, sagte: "Schönen Tag noch!" und stieg aus. Diese Stimme! So ganz anders als Hildchens schrille Tonlage. Als der Zug wieder abfuhr, bemerkte Manfred auf dem Sitzplatz gegenüber eine kleine Tasche. Die musste sie wohl vergessen haben. Niemand nahm Notiz davon, als er sie an sich nahm. Am S-Bahnhof Hermannstraße stieg er aus und machte sich auf den Heimweg. Nein, diesmal gönnte er sich keinen Abstecher ins Lämpchen, die Neugier plagte ihn zu sehr. Erst wollte er unbeobachtet nachschauen, was sich in dem Täschchen verbarg. Er schloss die Haustür hinter sich und befühlte von außen den Inhalt. Vielleicht ein Handy? Er schaute hinein. Das vermeintliche Handy entpuppte sich als Brillenetui. Ansonsten war die Tasche leer bis auf ein paar alte Fahrscheine, ein Rezept und ein Adressenheftchen. Immerhin. Letzteres ließ sein Herz schneller klopfen. Und wirklich, Manfred fand auf Anhieb, worauf er hoffte. Im Innenband des Adressheftchens stand eine Adresse mit Telefonnummer. Jaqueline Möbius, Böcklinstraße 6. Böcklinstraße, wo war das nur gleich? Rasch blätterte er in seinem Berlin-Atlas. Ach ja, unweit vom Bahnhof Ostkreuz. Kurz nach dem Mauerfall hatte er sich diese Gegend einmal angeschaut, konnte sich aber nur noch an alte Häuser und dunkle Straßen erinnern. Am besten, er rief gleich mal die Telefonnummer an, um die Rückgabe des Täschchens anzukündigen. Und wer weiß, vielleicht war sie ihm ja so dankbar, dass sich noch mehr ergab. Manfred leckte sich voller Vorfreude die Lippen. Auf einmal übermannte ihn ein drängender Durst. Jetzt ein Bierchen… Aber nein, erst der Anruf. Was aber, wenn die Adresse gar nicht zu dem Mädchen gehörte? Den Gedanken schob er energisch von sich. Nicht auszudenken. Er wählte die Nummer mit klopfendem Herzen und lauschte gespannt dem Rufzeichen. Auf der anderen Seite wurde abgenommen. "Ja, bitte, hier Jaqueline Möbius?" Manfreds Herz machte einen Hüpfer. Das war die Stimme, ganz unverkennbar. "Hallo!", rief sie ungeduldig. "Ja, ehm, hier ist Krause, Manfred." Herrgott, wieso krächzte er plötzlich wie ein alter Rabe? Nach kurzem Räuspern ging es besser. "Spreche ich mit der jungen Dame, die heute Abend mir gegenüber in der Ringbahn saß und am Ostkreuz ausstieg? Ich habe Ihr Täschchen gefunden!" "Oh!", auf der anderen Seite klang Erleichterung in der Stimme. "Ich dachte schon, ich hätte sie verloren. Wollen Sie sie mir mit der Post schicken?" Mit der Post? Das kam ja gar nicht in Frage. "Ich bitte Sie, Verehrteste. Wie wäre es, wenn ich mal vorbei komme? Vielleicht am Sonntag?" Sie kicherte zwar etwas über die altmodische Anrede "Verehrteste", vereinbarte aber mit ihm, dass sie um 15 Uhr am Sonntag zu Hause auf ihn warten würde. Manfred verabschiedete sich und legte auf. Nun legte er einen Freudentanz aufs Parkett. Was sollte er anziehen? Ob er Blumen mitnahm? Alpenveilchen vielleicht, die hatte Hildchen so gemocht. Erst einmal würde er seine Schmutzwäsche in die Reinigung bringen und ein Friseurbesuch konnte auch nichts schaden. Am heutigen Abend wartete das Lämpchen vergeblich auf Manfred. Er saß in der Badewanne und malte sich im Traum bereits eine Zukunft mit Jaqueline aus. Und Ede würde staunen, wenn er ihm von seiner tollen Biene erzählte. Ihm war heiß, sein Herz klopfte wie bei einem Jungverliebten und er fühlte sich zurückversetzt in seine Teenagerzeit. Meine Güte, wie viele Jahre hatte er mit Hildchen verschwendet, wo ihm doch ein soviel jüngeres Schicksal zugedacht war.

Am Sonntag fuhr er zum Ostkreuz. Eine Zeitlang irrte er an den verschiedenen Ausgängen umher. Wo genau musste er eigentlich raus? Hier im Osten war alles so kompliziert. Vier Ausgänge gab es, Hauptstraße, Markgrafendamm, Sonntagstraße und Neue Bahnhofstraße. Der Bahnhof Ostkreuz war ganz schön verrostet. In den Ecken roch es durchdringend nach Urin. Überall hingen Plakate in Fetzen, Grafitti-Schmierereien zierten die schmutzigen Wände. Manfred schüttelte ungläubig den Kopf. War hier die Zeit stehen geblieben? Ihm war, als hätte er schon öfter von der Rekonstruktion dieses Bahnhofs gelesen. Nötig hätte er es. Aber hübsche Mädchen gab es am Ostkreuz trotzdem. Leute überholten ihn mit schweren Koffern und schimpften, dass es hier immer noch keine Fahrstühle gab. Ein junger Kerl rief ihm zu: "Eh, haste mal 'ne Zigarette?" und ein alter Mann in einem viel zu großen Mantel wühlte in einem Papierkorb nach Essbarem. Ein Rollstuhlfahrer kurvte auf die Treppe zu.

Suchend schaute Manfred sich um. Wie wollte der eigentlich runterkommen? Der Fahrer hievte sich mühsam aus seinem Gefährt, klemmte sich die beiden Krücken, die an der Rückenlehne befestigt waren, unter die Arme und blickte Manfred fragend an. Na klar, der verstand, schnappte sich den leeren Rollstuhl und trug ihn hinter ihm die Treppe hinunter. Unten angekommen, half er ihm wieder in sein Gefährt. "Sagen Sie mal, zur Böcklinstraße, wo muss ich da raus?" "Ausgang Sonntagstraße!", lautete die kurze Antwort.

Manfred machte sich mit seinem Alpenveilchen auf den Weg. Ein Hauch Patschuli, den er bei seiner Hilde in der Kommode gefunden hatte, umgab ihn wie eine Wolke. Die frische Wäsche aus der Reinigung und eine gründliche Rasur gaben ihm ein sicheres Gefühl. Nun stand er vor der Haustür mit dem Schildchen Möbius. Er klingelte. Die Tür wurde geöffnet und Jaqueline stand davor. Sie strahlte ihn an und bat ihn hinein. "Haben Sie einen Moment Zeit?" Na klar hatte er Zeit, so viel sie wollte. Er verbeugte sich jovial und trat mit Schwung ein. Das Alpenveilchen drückte er Jaqueline mit einem Lächeln in die Hand. Plötzlich öffnete sich die Wohnzimmertür und eine füllige Mittvierzigerin erscheint im Türrahmen. "Hildchen, was machst du denn hier!", hätte Manfred fast gerufen. Die Frau sah seiner verstorbenen Gattin auf den ersten Blick verdammt ähnlich. Sie hatte zwar die gleiche Frisur, war aber etwas kleiner und besaß ein Doppelkinn. Jaqueline wies auf Manfred und erklärte ihr: "Mama, das ist Herr Krause, der meine Tasche gefunden hat und so nett war, sie vorbeizubringen. Bitte entschuldigen Sie mich jetzt, mein Freund wartet schon auf mich." Die Mutter strahlte und rief mit einem Blick auf das Alpenveilchen: "Och, das ist ja reizend, Alpenveilchen liebe ich! Treten Sie doch ein in die gute Stube. Es gibt Kaffee und Marzipanstriezel." Wohlgefällig sah sie auf sein Äußeres hinab. Welch eine gepflegte Erscheinung. Bügelfalten in der Hose, strahlend weißer Hemdkragen… "Übrigens, sagen Sie doch einfach Roswitha zu mir!" Benommen folgte er ihr ins Wohnzimmer. So eine Enttäuschung aber auch. Eine Stinkwut auf die Frauen erfasste ihn. Egal, jetzt war er einmal hier und Hunger hatte er auch. Außerdem hatte er sich als ehrlicher Finder ja Kaffee und Kuchen als kleine Entschädigung verdient…

Ein Jahr später. Manfred hatte Roswitha vor dem Traualtar das Jawort gegeben. Er trug von nun an wieder Hosen mit Gürtel, gestopfte Socken, rasierte sich täglich und sah gefälligst beim Essen nicht fern. Sein Kumpel Ede aus dem Lämpchen gab irgendwann die Hoffnung auf, ihn wieder zu sehen.

Marcus Becker - Kreuzung

Marcus Becker
Kreuzung

 

SOLVEIG

Wenn man den Namen Solveig auf eine deutsche Zunge legt, dann kann es passieren, dass seine kraftvoll skandinavische Bedeutung schmilzt und schließlich zerfällt in zwei unglückliche Silben. "Sol - veig". Klingt irgendwie wie: "Soll weg!" So eine Entdeckung hinterlässt Spuren. Ich persönlich kenne Solveig länger als ihren Namen. Als ich ihn beiläufig erfuhr und noch mal nachfragte, machte sie ein Gesicht, als hätte ich ihre Unterwäsche geklaut. Und dann hat sie es preisgegeben: Ihre Mutter sei eine Verbrecherin. Nicht nur wegen des Namens. Solveig soll beinahe ins Klo geplumpst sein bei ihrer Geburt. Die Mutter hielt nämlich die einsetzenden Wehen für Blähungen, Solveig kam völlig überraschend: fast eineinhalb Monate zu früh strebte sie gen Licht der Welt und das, was sie erblickte, als sie sich das erste Mal an irdischer Atemluft verschluckte und anfangen wollte zu schreien, war ein reinweißer Fliesenfußboden. Sie ist prompt ohnmächtig geworden. Aber Solveig hielt durch! Heute steht sie auf einem Bahnsteig und raucht Zigarette. Aber diese Angewohnheit soll weg. Bald jedenfalls. Vieles soll weg. Solveig ist drauf und dran, ihren Namen in ein Lebenswerk zu verwandeln. Mit den Spiegeln in ihrer Wohnung hat sie angefangen, allesamt hat sie abgehängt, es waren nur zwei, aber alle sollten weg. Sie weiß nun nicht mehr, wie sie aussieht. Sie trägt Kapuze und sie mag es nicht, sich in den Scheiben der Öffentlichkeit zu spiegeln, überhaupt dieses Glaszeitalter! Beobachtet man Menschen, vor allem in der S-Bahn, benehmen sie sich wie eitle Affen, eine Locke hier, eine Locke da! Sie bleibt bei ihrer Kapuze, die ist wie Scheuklappen. Hauptsache ein Blick nach vorn. Getunnelt. Sie hat also Hoffnung. Ihr schönes junges Leben setzt sie fort mit dem Abschied von ihren Haaren. Ich fand sie schon immer mutig: Ihr Kopf ist rasiert. Ich vermute, dass überhaupt alles rasiert ist an ihr, ich glaube sie hasst Haare, ich will sagen, nicht im Allgemeinen, sondern nur an ihr selbst. Als ich ihr einmal über ihre rot schimmernden Stoppeln gefahren bin, habe ich ihre Wimpern und Augenbrauen gelobt, weil sie viel dunkler sind und sie hat gelächelt, als hätte ich eines ihrer blühenden weiblichen Geheimnisse gelüftet.

DANIELO

Danielo ist ein italienischer Name. Kommt aber von Daniel, dem Propheten, und dieser Name ist so alt wie die Babylonier oder das Alte Testament. Daniel in der Löwengrube zum Beispiel. Danielo ist Italiener. Aber genau genommen ist er Weltbürger, seine mehrfache Staatsbürgerschaft ist mir bis heute unklar, es gibt kaum ein Land auf der Erde, in dem er noch nicht gewesen ist, was daran liegt, dass er im Flugzeug geboren worden ist, also in der Luft und weshalb er jetzt — Gott sei Dank und Lufthansa — sein Leben lang kostenlos mit dieser Airline fliegen darf. So ist das, wenn man im Flugzeug geboren wird! Nur einmal wollten sie ihm seine Geburtsgarantie doch streitig machen. Lufthansa schrieb ihm, dass er mit Vollendung seines fünfundzwanzigsten Lebensjahres nicht mehr einfach so fliegen dürfe. Doch Danielo ist nicht nur Kind seiner italienischen Eltern, sondern auch Kind des Glücks und sein Leben ist so abhängig von der Fliegerei wie ein Zuhälter von seinen Frauen. Danielo, der notorische Mitflieger, teilte den Damen und Herren von Lufthansa postwendend mit, dass er freier Journalist und Fotograf mit globalen Aufträgen geworden wäre (was wirklich stimmt) und dass seine jetzige Existenz voll und ganz Ergebnis seiner Flugzeuggeburt sei und dass er nur dann Flugkosten akzeptieren könne, wenn Lufthansa eine Insolvenz nicht überstehen sollte. Danielo und Berlin. Das passt nicht, man sieht es ihm irgendwie an: Er ist auf der Durchreise. Was er aber genießt: Die öffentlichen Verkehrsmittel dieser Welt. Die deutsche Bahn ist sehr komfortabel findet er, sehr bodenständig und ohne Luftlöcher. Danielo wird in vier oder fünf Tagen wieder fliegen. Deutschland ist kalt, Afrika nicht. Er denkt gerade an Impfung, weil die Tropen nur so gurgeln und triefen vor abscheulichen Krankheiten — er nimmt’s gelassen, denn wenn man die Welt so kennt wie Danielo, dann ist fast alles in der Welt eine Impfung wert. Aber gleich gibt es dänisches Essen bei Berliner Bekannten in Schöneberg, wo er auch seit ein paar Tagen schon wohnt; er sieht sich um und gähnt wie eine Hyäne. Mit der kondensierenden Luft dazu doch eher wie ein Drache. Es ist schon dunkel. Seine Nüstern flattern. Nach Afrika eine Pause. Eine lange Pause! Und jetzt vielleicht doch ein Foto. Drei Bahnsteige hat dieser Bahnhof und vom dritten aus kann man die Dächer der ersten beiden gut überblicken. Dachpappe spreizt sich auseinander, wie Rennbahnen. Oder die Landebahn für den Weihnachtsmann. Aus dem eisigen Himmel wird er stürzen mit Extraschleife und Goldregen, Schlitten und rotnasigen Rentieren. Alle barbarisch betrunken, versteht sich. Und eine Plastiktüte voll Coca-Cola um den Fusel zu verdünnen, denn der Weihnachtsmann will ja den vielen Kindern seine Fahne nicht zumuten. Es hilft nichts, Danielo mag Weihnachten nördlich der Alpen nicht, statt Weihnachtsmännern will er lieber Gorillas im Regenwald sehen.

 

FEE

Eigentlich Felicitas, die Glückliche, was so nobel und lateinisch klingt — aber Fee, finde ich, klingt wie Märchen. Und Feen haben Zauberkräfte! Wir hatten nur wirklich zweimal Zeit füreinander. Das erste Mal: Beim Dankesbankett, das ich veranstaltete für die nicht wenigen Menschen, denen ich etwas sehr Wichtiges zu verdanken habe (und von denen nur die drei bis jetzt genannten Personen erschienen sind. Solveig, Danielo und eben die schöne Fee.) Das zweite Mal in ihrem Bett. Fee liebt Sex, sie ist ein Vulkan! Eine Frau, die meine jetzige Idealfrau ist: Ihre Augen sind kostbare dunkelbraune Klunkern, denen nichts entgeht, das einzige, das sie nie bemerken würde ist, dass sie vor meinen Augen so gut wie jedes Mal nackt herumläuft, ich meine, heute erst recht. Nebensache. Die Liebe dagegen ist, so vermute ich, mit ihr zuweilen kompliziert, doch wenn sie liebt, dann ist sie loyal bis aufs Messer und hält einem die Probleme vom Hals. Je mehr man ihr gibt, desto mehr kommt zurück. Wie ich neben ihr morgens erwachte, streichelte ich ihr die Wangen und fand, es könne etwas werden. Wir verabredeten uns für das Jahr 2010 auf dem Geisterbahnsteig von Ostkreuz, das ist der vierte und unwirklichste Bahnhof in der ganzen Bahnhofsanlage und er zählt irgendwie auch nicht so richtig zum Mekka meiner Errettung und Wiedergeburt dazu. Wenn es ihn wirklich gibt, soll er irgendwo halbversteckt und halb eingestürzt im Westen liegen und die Züge sollen denn auch nur in diese eine Richtung fahren, sagt man.

FERDINAND

Es gab mal einen Clown, der hieß Ferdinand. Eine zutiefst tragische Figur. Ich fand Clowns schon als Kind eine merkwürdige Erfindung, sie passen nicht in eine ideale Welt, aber es gibt sie noch und sie sind so schrecklich real, dass ich am liebsten jedem einzelnen von ihnen die Maske vom Gesicht reißen würde, um sie zu rehabilitieren. Ich weiß nämlich nicht, ob der echte Mensch hinter der Clownmaske ein glücklicher Mensch sein kann, aber ich habe schon immer geglaubt, dass es eine höhere und bösartige Macht gibt, die Menschen in Clowns verwandelt und sie so durcheinander bringt, dass ihnen auch Coca-Cola nicht mehr hilft. Diese Macht schickt sie dann schnarchend auf die Bahnhöfe, wo sie von Anticlowns in blauen Kostümen aus ihrem Schlaf geweckt werden, damit sie ihre Arbeit fortsetzen. Menschen mit clowneskem Spiel glücklich machen. Ich meine, auch ich ertappe mich dabei, wie sie mich glücklich machen: Sie erinnern mich daran, wie gut ich es habe, kein Clown zu sein. Obwohl jeder einer werden kann. Wie gut es mir geht mit fließend Wasser, Musik und Kühlschrank.

Im Grunde weiß Ferdinand nichts über mich, ebenso habe ich keine Ahnung, wer er ist. Aber es gibt ihn! Ich sehe täglich hunderte von ihnen, gleich morgens, wenn ich als braver Student in meine Uni fahre, stehen sie da: als Schlange vor der Bahnhofsmission und sie alle schlottern hungrig in der Kälte, bis die Frau im Kittel aufschließt. Eine obdachlose Schlange, die von Tag zu Tag länger wird.

KREUZUNG

Als sich der obere Bahnsteig Berlin-Ostkreuz schon in eine Kreuzung verschiedenster Menschenschicksale verwandelte, hatte ich noch schlechte Laune. Ein Bahnhof ist eigentlich immer eine Kreuzung und oft eine ziemlich nervige, weil da wären: Treppendrängeln, Gerüche, belanglose Gespräche, schwangere Schaffnerfrauen, Leute mit von Gesichtern wie Hängebrüste bis Juckpulver im Mund, ganz zu schweigen von den Intellektuellen, die sich aufgrund ihrer Intelligenz keine Autos leisten können. Und dann? Strotzender Humanismus und zwischenmenschliche Liebe! Und das, obwohl so kurz vor Weihnachten alle nur an Geschenke denken. Ich hatte einfach noch keine Ahnung. Punkt achtzehn Uhr hatte ich beim Chinamann im Erdgeschoss zwei Chinapfannen geholt, eine für mich und eine für meine Brieffreundin, die gerade aus Tasiilaq zu Besuch war und sich im Prenzlauer Berg in einem unbeheizten Dachboden einquartiert hatte. Jetzt auf dem Bahnhof war es zehn Minuten später. Für mich und meine Chinapfannen hieß es nun warten. Wir setzten uns, die eine rechts, die andere links von mir, dann kühlten wir zusammen ein bisschen ab. Ich wollte mich entschließen, das Rauchen wieder zu beginnen und die da mit der Kapuze nach einer Zigarette fragen, da kam sie schon, meine Bahn. Die Türen öffneten automatisch und ich nahm meine beiden Essen in beide Hände und stieg ein. Ich blieb nahe bei der Türe. Dann, wie üblich, das rote Signal! Die Türen wollten gerade schließen, da tauchte Ferdinand auf, er keuchte die Treppe hinauf; ich erkannte ihn am vor Schmutz stehenden Trenchcoat und einem Stoffbeutel voller Zeitungspapier und ich bekam diese Wonne von Mitgefühl, die ich öfter bekomme und ich streckte meine Arme aus, um ihm die Türe offen zu halten, mit Gewalt — ich fand, er dürfe seine Bahn nicht verpassen! Die schwangere Schaffnerfrau wiederholte extra für ihn "Zurückbleiben!" und die Geschehnisse verselbstständigten sich. Ferdinand zögerte und mich verließen die Kräfte. Ferdinand schaffte es nicht mehr. Die automatische Türe hatte meine beiden Arme ab den Ellenbogen hoffnungslos eingeklemmt und ich sah mich plötzlich im Inneren des Zuges in der Scheibe gespiegelt, mein Gesicht verzog sich, weil ich mir Sorgen machte um meine Arme und auch um die Chinapfannen da draußen auf meinen ausgestreckten Handflächen! Ich kann Ferdinand verstehen, dass er sie mir abnahm. Ich sah’s durch das Glas: Wie sich mein Spiegelbild mit seinem Gesicht vereinte, welches dann was weiß ich wohin verschwand. Gut, er war hungrig und ich hatte lange Zeit Obdachlosen nichts mehr gespendet, aber war ich erleichtert? Was war mit meiner grönländischen Brieffreundin, der ich mit abgetrennten Armen, schulterzuckend wie ein Zombie, gegenüberstehen müsste um ihr zu sagen: "Du, Abendessen fällt heute leider aus, guck mich an, es war die Hölle!" Bestimmt würde sie mich vor lauter Schreck nicht im Krankenhaus besuchen. Bestimmt auch nicht auf dem Friedhof, denn das hier überlebe ich nicht. Ich bekam Angst. Ich betete wie noch nie.

Diese Geschichte ist Menschen gewidmet, wie Danielo, Solveig und Fee. Solveig war nach späteren Aussagen (ich war ja schon bei Gott) die erste, die an der Automatiktüre zerrte. Fee war die zweite und auch diejenige, die schrie, so dass noch mehr Menschen herbeieilten, um mir zu helfen. Danielo, der alles von weiter weg mitbekam, informierte sogleich die Schaffnerin, die den Zug dann per Notknopf stoppte, weil er schon am Losrollen war. Das ist eigentlich alles. Meine Arme besitze ich noch. Dank ihnen.

Endstation Ostkreuz

 

Anelia Botev
Endstation Ostkreuz

 

Es war Mittsommernacht, als Marc sich in seiner noch durch die Tagessonne aufgeheizte Wohnung für einen netten Abend mit seinen Freunden vorbereitete. Er zog sich sein Lieblings-T-Shirt an, wuschelte mit ein wenig Haarwachs durch seine Locken und sprühte sich Duft, den ihm Lis, seine Ex, geschenkt hatte, auf den Hals und unter die Achseln. Er wollte ihn so schnell wie möglich leeren, aber zum Wegkippen war er ihm doch zu schade.

Mit einem Sechserpack Becks in der Hand ging er am Rudolfplatz vorbei, Richtung Modersohnbrücke, dem Treffpunkt aller verlorenen, einsamen und doch hoffnungsvollen Großstadtromantiker. Diese Brücke verband zwei sehr unterschiedliche Teile Friedrichhains, sie war dank der EU großzügig gebaut, unter ihr verliefen viele Bahngleise. Seit ihrer Eröffnung hatte sie sich mehr und mehr zu einem Treffpunkt für Sonnenuntergang- und manchmal auch Sonnenaufgangsliebhaber entwickelt. Das Café del Mar Berlins, nur viel lässiger und intimer, dachte er.

Da sah er schon Malte und Thomas auf dem Fußgängerstreifen hocken. Neben ihnen saßen noch einige Leute, die er nicht kannte. Hey, darunter waren auch Frauen. Innerlich erfreut, doch betont langsam steuerte er auf die Gruppe zu.

"Hey!"

"Hey Marc! Setz dich zu uns! Das Bier ist uns gerade ausgegangen. Gut, dass du mit Nachschub anrückst. Diese wunderbaren strahlend-schönen Menschen hier Tania, Ronny und Louise."

Er grüßte in die Runde, sein Blick streifte die blonde Louise mit ihrem niedlichen Pagenschnitt etwas länger als die anderen. Thomas schien seiner Euphorie freien Lauf zu lassen – hatte wohl schon länger hier gesessen.

"Hör mal, kommst du gleich mit zu einer Walpurgisnachtparty mit Feuer im Hof, Hexenmädels und genialer Musik? Sie findet in einem Club am Ostkreuz statt, am Markgrafendamm, glaube ich."

"Klar. Warum nicht."

Die anderen strahlten ihn an. Louise hatte süße Grübchen, sie gefiel ihm immer besser. Hoffentlich kam sie mit.

Einige Stunden später sitzt er in einem großen, weichen, weißen Sofa im Hof des Ministeriums für Erholung. Ein viel versprechender Name für einen abgewrackten Club, ihm gefällt es hier hervorragend. Diese Leichtigkeit, diese Wärme ist noch spürbar. Auf seinem Schoß liegt Louises Kopf. Er streichelt ihr feines Haar. Sie hat die ganze Nacht getanzt und ihn dabei angelacht. Er ist verwirrt und glücklich. Jetzt ist sie endlich bei ihm, selig schlummernd, aber er will sie nicht einfach gehen lassen. Dieser Abend muss eine Fortsetzung finden. Beim Gedanken, sie nicht wieder zu sehen, sehnt er sich nach einem tiefen Abgrund. Hier sind zu viele Nachtgestalten mit torkelnden Schritten und Glasmurmelaugen. Er will sie von allen fernhalten, ganz für sich allein. Mit ihr auf einer Wiese liegen oder im Wald umherstreifen, sie auf Moosbänken küssen und mit ihr wilde Himbeeren pflücken. Marc seufzt, sein Kopf fällt auf das Polster, die Geräusche verschwimmen in flirrenden Farben und lösen sich in ihm auf.

Sieben Uhr: Es ist wieder hell. Seine Freunde sind längst gegangen. Aber Louise ist noch da, lächelte ihn an.

"Guten Morgen!"

"Hey… lange Nacht…"

"Stimmt – und gleich muss ich in die Schule." "Oh nein!" "Doch."

Er verflucht das Konzept der Zeit, die westliche Zeitrechnung und alle Zwänge, die ihre Trennung beschleunigen. Schließlich ist dies ein besonderer Morgen, ein Vorzeichen einer besonderen, anderen, neuen Zeit. Lange war er nicht mehr so glücklich. Verliebt? Zu früh. Ruhig bleiben.

Sie rappelt sich auf und räkelt sich wie eine Katze. Sie reißt ihn noch hoch und zieht ihn auf den Markgrafendamm, der schon voller Autos ist, Richtung Unterführung. Er erblickt den mächtigen, schwarzen Pickelhaubenturm. Wächter des Ostkreuzes nennt er ihn manchmal, immer das verschachtelte treue Ostkreuz im Visier. Schon schlägt ihm der Fettgestank des Asia-Imbisses im S-Bahn-Eingang entgegen. Trotz dieser penetranten Sinneseindrücke kann er nur an Louise denken.

Louise schiebt ihn rechts Richtung Treppenaufgang. Aha, sie muss also zur Ringbahn. Oder doch wieder herunter? Nun stehen sie vor dem Metallgitter zwischen den Gleisen. Dahinter befinden sich Blumen und lose Platten, ein Denkmal des Verfalls. Er kann sie so nicht fahren lassen.

"Mmmh. Kannst du mir deine Telefonnummer geben?" Ein Versuch, lässig zu gucken.

"Klar, das könnte ich, aber ist das nicht langweilig? Gib dir mehr Mühe – sag doch, dass du mich wieder sehen willst. Direkt in mein Gesicht!"

Er taumelt vor Anstrengung und Unsicherheit. Jetzt darf er keinen Fehler machen. Er riskiert ihre totale Verweigerung, sieht aber zugleich wie ihre Augen ihn tanzend, lachend und erwartungsvoll fixieren.

Er geht einen Schritt auf sie zu. Sie bewegt sich nicht. Dann nimmt er ihr Gesicht in seine noch warmen Hände. Samtig und weich fühlt sie sich an. Kuss auf den Mund. Ohne Zunge. Sie küsst zurück.

In diesem Moment fährt die Bahn ein. Keine Zeit zum Nachdenken, schnell handeln. Er flüstert ihr hastig ins Ohr.

"Nächste Woche 7 Uhr 23 an diesem Gleis, vor dem Gitter. Bitte sei auch hier!" Sie drückt kurz seine Hand und springt in das letzte Abteil.

Manuela Drossel - Liebe am Ostkreuz

Manuela Drossel
Liebe am Ostkreuz

 

Meine erste Liebe wohnt ganz nah
und immer wenn ich lang fahr,
denk ich zurück an die schönen Nächte
und mir wird klar, er ist nie mehr für mich da.

Der Ostkreuz schon.

Erika Reichelt - Erstes Glück in der Hahnstraße

Erika Reichelt
Erstes Glück in der Hahnstraße

 

Ganz nah am Bahnhof Ostkreuz bin ich mit meinen Geschwistern aufgewachsen. Mit ihnen ging ich damals zehn Jahre lang in die Max-Kreutziger-Oberschule in der Böcklinstraße. Im Teenageralter schaute ich immer mehr auf die Jungs und sie auf uns Mädchen. Die erste Rivalität unter uns besten Freundinnen begann. Wir wurden neidisch aufeinander, wenn einer der Jungs mit einer Anderen länger sprach als mit einem selbst. Ich passte im Unterricht nicht mehr auf, und die Zensuren wurden schlechter, weshalb ich bald Ärger mit meinen Eltern bekam. Doch irgendwie war mir das alles gleichgültig, besonders der Unterricht in der Schule. Wichtig waren jetzt für mich die abendlichen Treffen in der Hahnstraße. Es hatte sich eine Clique von zirka 12 Jugendlichen der achten bis zehnten Klassen aus unserer Schule gebildet, zu der ich auch gehörte. Die Hahnstraße hatten wir uns ausgesucht, weil wir dort unbeobachtet waren, denn nur Giebelwände begrenzten sie. Jetzt gibt es sie nicht mehr. Auf dem Gelände steht die Zille-Grundschule in der Boxhagener Straße. In unserer "Hahne" war immer etwas los. Dort rauchte ich meine erste Zigarette. Ein etwas älterer Junge hatte immer welche bei sich und bot uns netterweise davon an. Die "Hahne" war auch der Ort, an dem ich meinen ersten richtigen Kuss bekam, das heißt mit Zungenschlag. Mir wurde heiß und kalt dabei. Doch immer, wenn es am schönsten wurde, musste ich nach Hause. Das war gegen 21 Uhr, viel zu früh, wie ich damals fand. Meine Eltern waren streng, so versuchte ich immer pünktlich zu Hause zu sein, denn ich wollte das nächste Mal wieder hingehen dürfen.

Eines Abends kam ein großer blonder Junge zu uns in die "Hahne". Er war aus der Jessner-Schule und wohnte in der Nähe. Der interessierte mich bald am meisten und ich ihn glücklicherweise auch. Es war wohl Liebe auf den ersten Blick. Er war blond und hatte schöne blaue Augen, also genau mein Typ. Bald waren uns die Treffen mit den Anderen in der "Hahne" nicht mehr wichtig. Wir wollten allein sein. Wir hatten uns so viel zu erzählen und uns kennen zu lernen. Jeder dunkle Winkel wurde zum Küssen genutzt. Als meine Oma erkrankte, nahmen meine Eltern sie zu sich und pflegten sie, bis sie nach einigen Wochen wieder gesund in ihre kleine Wohnung zurückkehren konnte. In diesen Wochen tauschte ich mein Bett mit ihrem und wohnte in Omas Eineinhalb-Zimmer-Wohnung nahe der Samariterkirche. Das war ein glücklicher Umstand für meinen Heinz und mich. Oft kam er mich dort besuchen, was wir jedoch vor meinen Eltern geheim hielten. Diese Wochen waren sehr, sehr schön für uns beide. Wir spürten, dass wir für einander bestimmt waren. Kurz nachdem ich meine Lehre als Sekretärin abgeschlossen hatte, erkrankte meine liebe Oma erneut und starb bald darauf. Weil ich schon drei Jahre auf ihre Wohnung angemeldet war, durfte ich diese als Hauptmieterin beziehen. Das war in vielerlei Hinsicht ein Glücksfall für uns und meine Schwester, denn sie hatte unser gemeinsames Zimmer nun für sich allein und wir beide eine eigene Wohnung, voll möbliert. Ein guter Start für unsere Ehe. Wir hatten nur eine neue Schlafcouch gekauft und die Möbel etwas umgestellt. Jetzt konnten Heinz und ich endlich heiraten. Vier glückliche Jahre wohnten wir in dieser Wohnung im Bezirk Friedrichshain. Etwas vermisste ich allerdings, das Geräusch der vorbeifahrenden S-Bahnzüge, wenn sie mit ihrem eigentümlichen Singen vom Bahnhof Ostkreuz kommend, nah an unserem Wohnhaus vorbei fuhren, und auch den Richtung weisenden hohen Wasserturm direkt am Bahnhof. Ich hatte mich in all den Jahren meiner Kindheit so daran gewöhnt. Als sich endlich Nachwuchs bei uns anmeldete, zogen wir um nach Hellersdorf in eine größere Wohnung. Nach und nach kauften wir uns neue Möbel, nur einige mir lieb gewordene Dinge, Andenken an meine Oma, behielten wir. Hier wohnen wir heute noch mit unseren beiden Kindern. Gern denke ich manchmal an die Schulzeit und unsere "Hahne" zurück, denn da habe ich ja meine "große Liebe" kennen gelernt.

Anna-Elisabeth Renk - Idylle mitten in der Stadt

Anna-Elisabeth Renk
Idylle mitten in der Stadt

 

Weil ich auf Stralau zu Hause bin,
geh ich oft zum S-Bahnhof Ostkreuz hin,
entlang den Uferwanderweg am Rummelsburger See,
im Winter auch bei Eis und Schnee.

Im Herbst, wenn so viel Blätter auf den Wegen liegen
und Krähen und Möwen schreiend fliegen.
Im Sommer, wenn die Sonne den Weg bescheint,
die es manchmal recht gut mit uns meint,
da freut man sich schon auf den belaubten Wandelgang
unten an der Kynaststraße entlang.

Im Frühling, wenn die Wildpflanzen sprießen,
kann man den Weg so richtig genießen,
da sieht man den See spiegelblank und klar
und es turtelt in Wasser das Schwanenpaar.

Ob es stürmt oder regnet, früh oder spät,
ein Angler immer am Ufer steht.
Ganz früh im Mai
kommt auch die Nachtigall herbei.

Geht man den Paul-und-Paula-Weg entlang,
ganz in der Nähe der Liebesbank,
am Wasser, im Unterholz verstaut,
hat sie jährlich ihr Nest gebaut.

Ihr Revier und das brütende Weibchen wird gut bewacht,
darum singt sie Tag und Nacht.
Leute, die nach Ostkreuz gehen,
blieben lauschend manchmal stehen.

Was kann schöner sein,
als jung und verliebt bei Mondenschein
auf dieser Bank zu schmusen und zu plauschen
und dem Gesang der Nachtigall zu lauschen.

Denn nachts, wenn andere Vögel schweigen,
hört es sich an wie mit Harfen und Geigen.

Nun wird der Uferwanderweg neu gemacht,
hat jemand an die Nachtigall gedacht?
Wird das Unterholz dort weggenommen,
wird sie nicht mehr wiederkommen.

Heli Lichtstral - Das Märchen von der Liebe

Heli Lichtstral
Das Märchen von der Liebe
Rummis Liebesgeschichte

 

Oh, ihr seid noch auf??? Na ja, im Winter wird es eben zeitig dunkel. Eine Zeit zum Geschichten erzählen beginnt, in den dunklen Nächten des Winters und besonders in der Zeit vor Weihnachten …

Und wisst ihr, wo ich heute bin???

Heute sitze ich am neuen Pocket-Park … das ist kurz vor dem alten Flaschenturm und kein Bewohner und kein Spaziergänger darf eigentlich dorthin, denn es wird ja noch gebaut … aber für mich ist es am Abend ein gutes Plätzchen … niemand kann mich stören …

… besonders vor Weihnachten wird mir immer so komisch ums Herz, ein bisschen schwermütig und traurig werd ich und sitze gern allein im Dunklen … träume … und viele Geschichten fallen mir ein … von der Weihnachtszeit – und von der Liebe. Denn Weihnachten wird ja auch: "Das Fest der Liebe" genannt!

Und immer wieder muss ich daran denken, wie meine Eltern meine Eltern wurden. Das ist wohl die schönste aller Liebes-Geschichten, die ich mir vorstellen kann … ein richtiges M ä r c h e n, das Märchen von ihrer Liebe!!!

Und es geschah – im Rummelsburger See, der damals noch der Strahlower See hieß oder floss gar noch der Hauptarm der Spree hier hindurch??? Egal. Es war hier – und es war in der Zeit vor Weihnachten!!!

Meine Mutter hatte sich so sehr in den Fischer von Stralau verliebt. Und hat sich ihm lange nicht zu erkennen gegeben. Später trafen sie sich ganz, ganz heimlich. Und damit der Fischer von Stralau immer an das Wasserfräulein denkt, schenkte sie ihm zum Zeichen ihrer Liebe ihren Schleier!!!

Aber ihr Vater, mein Opa, der Wassergeist, hatte ihr jeden Kontakt zu den Menschen streng verboten. Denn er hatte schlimme Erfahrungen machen müssen seit die Menschen versuchten, immer mehr und mehr Fisch aus dem See herauszuholen, mehr als die Natur bereit war, den Menschen zu schenken…

Ein rückwärts laufender Wächter, der Krebs, war Minister im Reich des Wassergeistes – und verfolgte das Mädchen ständig. Einmal hatte dieser sogar auf den jungen Fischer von Stralau geschossen … ja! Ich darf gar nicht daran denken … Und natürlich berichtete der Krebs dem Wassergeist von der Tochter und dem Fischer …

Als mein Opa, der Wassergeist, von der großen Liebe seiner Tochter erfuhr, ging er eines Abends an Land und traf den Fischer von Stralau … er klopfte an die Tür der Fischerhütte und als der junge Mann, der später mein Vater wurde, öffnete, sagte der Wassergeist, dass der Fischer sterben müsse, denn er besitze den Schleier seiner Tochter! Aber der junge Fischer lachte nur und sagte, dass er mit dem Sterben keine Eile hätte. Sondern er wolle das Wasserfräulein lieber zur Frau haben!!!

Darauf ist irgend etwas passiert mit meinem Opa, dem Wassergeist. Er sprach zwar nicht ein Wort … aber er kam am nächsten Abend wieder und holte den Fischer von Stralau zur Hochzeit ab … am Ufer des Sees tauchte ein großes Haus auf, das der Fischer bis dahin noch nie gesehen hatte … alle Wände bestanden aus reinem Glas, und alles war festlich erleuchtet. Der Fischer hörte Musik und das Lachen vieler Leute! An einer Festtafel war der Platz neben der Seejungfrau, dem Wasserfräulein frei, und der Fischer von Stralau setzte sich neben sie.

Als es schon sehr spät war, flüsterte meine Mutti, ähh ich meine das Wasserfräulein, ihrem geliebten Fischer zu, dass sie um zwölf Uhr, also um Mitternacht, für eine Weile auf den Grund des Sees hinabsteigen müsse … mein Vater, mein späterer Vater, der Fischer von Stralau, beging nun einen sehr, sehr großen Fehler – unbemerkt schlich er an die große Wanduhr und stellte die Uhr eine Stunde zurück … so verging die Mitternacht, ohne dass es jemand bemerkte … eine Stunde zu spät schlug die Uhr dann zwölf Mal … meine Mutter, das Wasserfräulein stieß einen lauten Schrei aus und war verschwunden …

Mit ihr war aber auch alles vergangen, was sie umgeben hatte. So stand mein Vater, ähh, ich meine der Fischer von Stralau, plötzlich ganz alleine am dunklen Ufer des Sees … und er bereute sehr, so sehr, dass er seiner jungen Frau nicht vertraut hatte … und eine große Sehnsucht packte ihn nach seinem geliebten Wasserfräulein!!!

Und er wollte nun gerade nicht mehr von ihr lassen … und sprang ihr nach in die dunklen Wasser des Rummelsburger Sees…

Nein, nein! Ihr braucht nicht traurig sein. Was wie ein Ende klingt, war ja erst der Anfang. Natürlich hat niemand mehr den Fischer auf dem Lande, weder auf der Rummelsburger noch auf der Stralauer Seite gesehen … aber meine liebe Mutter war doch da!!! Und erwartete den Fischer von Stralau schon!!!

Sie küsste ihn so lange und so von ganzem Herzen, dass er danach … ob ihr’s glaubt oder nicht: wie ein Fisch atmen konnte … Meine Mutter — das Wasserfräulein – hatte ihm sozusagen abgegeben, von ihren Fähigkeiten, versteht ihr … wie in einer großen Liebe. Und mein Vater versprach ihr dafür, immer bei ihr zu bleiben.

Lange nahmen die Menschen an, dass der Fischer um sein Leben gekommen war … das stimmte auch in gewisser Weise – denn um sein bisheriges Leben – war er gekommen …

Jaaa, das alles geschah um die Weihnachtszeit, vor vielen hundert Jahren auf dem Grunde des Rummelsburger Sees!!!

Und neun Monate nach Weihnachten wurde ich geboren … so voller Liebe war die Weihnachtszeit am Grunde des Sees!!!

Fragt doch eure Eltern auch einmal nach der großen Liebe???!!! Aus der ihr gewachsen seid??? Zu Weihnachten ist die Zeit dafür --- denn vergesst nicht: Weihnachten ist das Fest der Liebe, der Geschichten und der Märchen, und nicht nur das Fest der Geschenke …

Sooo, Rummi wünscht euch nun, dass ihr schöne Ferien habt und mit euren Eltern und Großeltern ein ganz, ganz schönes Weihnachtsfest feiert!!!

Und gut in das neue Jahr hineinrutscht … ooochhh, nicht traurig sein!!!

Nun muss ich aber los … ich habe meinem Vater doch versprochen, bei dem Weihnachtsvorbereitungen zu helfen… und wenn ich nicht pünktlich am Kratzbruch-Riff bin… sorgt sich meine Mutti…

Tschüüß … sagt für heute Rummi … und vergesst mich nicht…

 

Unter Verwendung von: Der Stralauer Fischer und das Wasserfräulein.
Aus: Der Stralauer Fischzug. Sagen, Geschichten und Bräuche aus dem alten Berlin.
Herausgegeben von Stephanie und Joachim Marzahn.
Verlag Neues Leben, Berlin, 1987

Friedrich A. Holm - Für Nils Scharmberg

Friedrich A. Holm
Für Nils Scharmberg

 

Liebe ist die Zeit am Anfang deiner Augen
und bleibt mir Zukunft zeigend im Gesicht
was der Träume wegen die zum Leben taugen
von aller Worte Gaben sicher hier Gedicht
damit Tage für das Dasein Hoffnung tragen
diesem Blick bald Seele lastendem Gewicht
ihrem Muss mittels Sehnsucht Ziel zu sagen

Christa Block - Der verflixte Bahnhof Ostkreuz

Christa Block
Der verflixte Bahnhof Ostkreuz

 

Im Jahr 1958 bezog ich eine Wohnung in Berlin-Friedrichshain, in der Corinthstraße. Es war meine erste eigene Wohnung, unter dem Dach gelegen und bestehend aus kleiner Küche, noch kleinerem Flur und etwas größerem Zimmer. Die Toilette befand sich eine halbe Etage tiefer und ich musste sie mir mit meinem Nachbarn teilen. Der war viel auf Reisen und so gehörte das kleine Örtchen zum Glück oft mir ganz allein.

Eine große Auswahl hatte man ja damals nicht, die Angebote vom Wohnungsamt waren rar und da ich ja erst begann, mich selbstständig zu machen, Wohnung und Haus recht ordentlich aussahen und mir die Corinthstraße auch ein wenig sympathisch war, fiel mir die Wahl leicht. Wichtig war mir auch die Nähe des S-Bahnhofes Ostkreuz, um zur Arbeit und zu meiner Familie zu kommen. Und so richtete ich mich in der vierten Etage mit Blick auf einen engen Hinterhof, aber dem Himmel ziemlich nahe, wohnlich ein und fühlte mich auch bald zu Hause. Einkaufsmöglichkeiten gab es genügend im Umkreis, um für Essen und Trinken zu sorgen, ohne das Eingekaufte weit schleppen zu müssen.

Den Bahnhof Ostkreuz fand ich schon immer interessant mit seinen vielen Treppen und Bahnsteigen und schon als Kind amüsierte mich "Die Hose", wie ich die zwei Dächer über dem Bahnsteig unten nannte, die ich von oben sah, wenn ich in der Ringbahn saß. Immer war Leben und Gedrängel auf den Bahnsteigen, die einen rannten die Treppen hinunter, die anderen stürmten hinauf. Wollte man von Mahlsdorf kommend Richtung Grünau fahren, lief man unten ans andere Ende des Bahnsteiges, stieg die Treppen wieder hinauf und wartete auf seinen Zug. Der fuhr dann am alten Wasserturm vorbei und man konnte die kleinen Lauben bewundern, vor denen Erholungssuchende saßen und sich trotz des Lärms der vorbeifahrenden S-Bahnen scheinbar wohl fühlten.

Aber dieser Bahnhof hatte auch seine Tücken. Nicht unbedingt für einen, der in seiner Nähe wohnte, der wusste, wo die einzelnen Ein- und Ausgänge lagen und welchen man benutzen musste, um zum Beispiel zur Corinthstraße zu kommen. Aber für andere konnte es schon zu einem Problem werden, wenn man den falschen Ausgang benutzte. Damals saßen ja noch Eisenbahner an den Schaltern und man konnte nicht so ohne weiteres das Bahnhofsgelände wieder betreten, wenn man sich einmal nach draußen verirrt hatte. Da wurden die Fahrkarten noch kontrolliert und man musste die abgefahrene abgeben. Den Bahnhof und sein umgebendes Gebiet konnte man auch nicht so leicht umrunden. War man in der Neuen Bahnhofstraße, musste man zurück bis zur Marktstraße, um dann über die Kynaststraße wieder zum unteren Ein- oder Ausgang Markgrafendamm zu kommen.

Für mich war das als geborene Friedrichshainerin damals kein Problem, und so konnte ich mir auch nicht vorstellen, dass es einmal eines für mich werden könnte.

Meinen späteren Mann lernte ich 1959 auf einem Zeltplatz an der Ostsee kennen. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich natürlich noch nicht, dass er einmal mein Mann werden wird. Und beinahe hätte auch der verzwickte Bahnhof Ostkreuz das verhindert. Wir hatten uns verabredet, mein Mann wollte mich besuchen. Wir hatten keinen Zeitpunkt ausgemacht, aber ich wartete.

Jeden Tag fuhr ich von der Arbeit gleich nach Hause, machte keinen Abstecher zu meinen Eltern, ER sollte ja nicht warten. Aber er kam nicht und so war für mich, wenn auch mit ein wenig Bedauern, das Thema Ostseebekanntschaft erledigt.

Später erfuhr ich, dass auch ER die Berlinerin als erledigt betrachtete. Er fand die Corinthstraße nicht, weil er als Ortsunkundiger den falschen Ausgang benutzte. Beim zweiten Anlauf und Einholung von Auskünften klappte es mit der Corinthstraße, aber mich, bzw. meine Wohnung fand er nicht. Als Nichtberliner konnte er sich einfach nicht vorstellen, dass die Berliner Wohnhäuser auch Hinterhäuser und Quergebäude hatten und man ganz hinten in einem Haus wohnen konnte.

Er meinte, ich hätte ihm die falsche Anschrift genannt, weil ich ihn vielleicht doch nicht wieder sehen wollte.

Und doch versuchte er es noch einmal, fand mich aber wieder nicht in meinem Haus und machte sich auf den Weg zur S-Bahn. Und obwohl der Bahnhof Ostkreuz so viele Ausgänge hat, benutzten wir beide an diesem Tag und zu dieser Stunde den gleichen und trafen uns so zufällig wieder. Und dieser Zufall bestimmte unser weiteres Leben. Im März 1960 heirateten wir, und in meiner kleinen Wohnung fand sich noch Platz für ein größeres Bett und für ein Klavier, ein wichtiges Arbeitsmittel für den Musiker.

Auch ihm gefielen die kleinen Geschäfte in der Corinthstraße. In der zwei Häuser weiter gelegenen Fleischerei wurden wir Stammkunden und unser Lieblingssalat zum Abendbrot war der dort hergestellte Fleischsalat. Brot oder Schrippen dazu gab es in der Bäckerei ein Stück weiter auf der anderen Seite. Im Tabakladen an der Ecke kaufte mein Mann seine Zigaretten und oft saßen wir im kleinen Kino am Markgrafendamm.

Wenn es der Dienst meines Mannes erlaubte, gingen wir morgens gemeinsam zum Bahnhof Ostkreuz. Wir standen auf dem Bahnsteig D, ich wartete auf meine Bahn ins Zentrum, mein Mann auf der anderen Seite fuhr Richtung Biesdorf.

So bildete dieser Bahnhof über mehrere Jahre hinweg einen wichtigen Knotenpunkt in unserem Leben. Alle Fahrten zur Arbeit, zur Familie und Freunden sowie zu Ausflügen begannen und endeten hier. Wir schleppten unseren Kinderwagen die vielen Treppen hinauf und hinunter, Reisegepäck und anderes, stolperten über damals schon unebene Stufen, ärgerten uns über viele Unzulänglichkeiten des Bahnhofes und fühlten uns trotzdem mit ihm eins.

Bald war die Wohnung zu klein und wir zogen um. Nun lag Ostkreuz nicht mehr so auf unseren Wegen. Die U-Bahn war näher und doch kamen wir noch einmal ganz konkret in die Nähe des Bahnhofes. Wir suchten damals einen kleinen Garten mit Laube und bekamen ein Angebot, das uns vor allem amüsierte. Wir hätten oben neben dem Wasserturm eine Parzelle pachten können und hätten zwischen den Gleisen und rechts und links vorbeifahrenden S-Bahnen unsere Freizeit verleben können. Nein, das wollten wir nicht und verzichteten.

Und jetzt bin ich mit meinem Mann 44 Jahre zusammen. Über den Bahnhof Ostkreuz fahren wir ab und zu und immer denken wir an die Zeit dort, in der unsere Liebe begann.

Michael Guske - Zurückbleiben!

Michael Guske
Zurückbleiben!

 

Als der Zug anhielt, öffnete der Mann die Tür und trat auf den Bahnsteig. Es war bitterkalt. Er schlug den Kragen seines abgetragenen Mantels hoch, eine eher symbolische Geste, denn der schneidend kalte Wind ließ sich nicht davon abhalten, den Körper des Mannes sofort mit seinem eisigen Atem zu umfangen.

Der Mann sehnte sich nach dem überheizten Waggon zurück, aber er musste hier umsteigen, wollte er zu seiner Wohnung im Südosten Berlins gelangen.

Er mochte diesen Bahnhof nicht, weder am Tage, wenn es hier vor Menschen wimmelte, die von den S-Bahnen ausgespuckt werden, zum nächsten Bahnsteig hasten, um dann wieder im Bauch einer anderen Bahn zu verschwinden, noch in der Nacht, wenn nur wenige sich auf den Bahnsteigen verlieren.

Jetzt war es Nacht, genauer gesagt Heilige Nacht. Deswegen war der Mann fast der Einzige, der hier ausstieg. Seine Augen suchten die richtige Treppe, die ihn zu seinem Bahnsteig führt. Er wusste, seine Bahn fuhr in wenigen Augenblicken. Und dann würde lange gar nichts mehr fahren. Und um die halbe Nacht hier zu verbringen – nein, dazu war dieser Bahnhof nun ganz gewiss nicht geeignet. Und für ein Taxi hatte er kein Geld.

Er war nicht mehr ganz sicher auf den Beinen. Nachdem er heute Nachmittag seine Mutter im Krankenhaus im Norden Berlins besucht hatte, um ihr Trost zu spenden und ihr sein Weihnachtsgeschenk – eine bestickte Tischdecke, die sie wohl nicht mehr brauchen wird – zu geben, hatte er keine Lust, sofort nach Hause zu fahren. Wozu auch, es war keiner da, der auf ihn wartete.

Also ging er in eine Kneipe. Es waren nur wenige Gäste da, wahrscheinlich hatten sie den gleichen Grund wie er. Weihnachten – das Fest der Familie. Wenn man eine hatte. Wenn nicht, gibt es in Berlin zum Glück noch ein paar Orte, wohin man vor der Einsamkeit flüchten kann. Er hatte nicht vor, lange zu bleiben. Die Gespräche der Anderen ermüdeten ihn. Es war auch nicht Gesellschaft, was er suchte, er wollte einfach nur nicht allein sein.

Der Alkohol erwärmte ihn und munterte ihn auf. Nach einer Weile nahm er an den Gesprächen teil. Der Inhalt war ihm egal, es machte ihm zunehmend Freude, mit unbekannten Leuten zu reden. Doch ein Blick auf die Uhr machte ihm zu später Stunde klar, dass er los musste, wollte er die Nacht noch nach Hause kommen.

Nun hastete er zur Treppe. Doch dann musste er sich an einem der Maste, die das Dach trugen, festhalten. Die Welt drehte sich ein wenig um ihn herum. Der Wechsel vom warmen Waggon in die bitterkalte Nacht strapazierte seinen Kreislauf. Der Alkohol tat sein Übriges. Dazu kam jetzt noch ein Hustenanfall, der seinen schmächtigen und verbrauchten Körper schüttelte. Seit einiger Zeit schon quälte ihn eine Erkältung, die sich heute anscheinend in Fieber entlud.

Der Mann kam wieder zu Atem und erreichte mit kurzen, unsicheren Schritten die Treppe. Die Hand fest am Geländer, versuchte er die von Generationen von Menschen ausgetretenen Stufen schnell und sicher zu nehmen. Nachdem er die Hälfte geschafft hatte, sah er die Bahn noch abfahrbereit auf dem Gleis stehen. Die Angst, sie nicht mehr zu erreichen, ließ ihn alle Vorsicht vergessen. Er löste die Hand vom Geländer und beschleunigte seinen Schritt. Da kam er ins Straucheln. Er rutschte mit einem Fuß ab und schlug der Länge nach hin. Fluchend rappelte er sich auf, doch in diesem Augenblick hörte er das Abfahrtssignal, und die Türen schlossen sich. Mit der Gleichgültigkeit einer Ampel, die nachts an einer menschenleeren Kreuzung den nicht vorhandenen Verkehr regelt, fuhr der Fahrer mit starrer Miene an ihm vorbei.

Der Mann fluchte nochmals, holte ein nicht mehr ganz sauberes Taschentuch aus seiner Manteltasche und wischte sich das Blut von der Innenseite seiner Hand, mit der er den Sturz etwas abgefangen hatte. Seine Knie schienen auch etwas abbekommen zu haben, doch das interessierte ihn jetzt nicht.

Zeit hatte er nun genug, doch der Wind hatte ihm inzwischen auch den letzten Rest Wärme heraus geblasen. Er sah sich auf dem nun menschenleeren Bahnsteig um. Alles wurde kalt und abweisend vom Neonlicht ausgeleuchtet. Nichts, was so besonders wäre, dass es eine Beschäftigung bot. Einige Großplakate auf der anderen Seite der Gleise, deren Werbebotschaften er zwar erfasste, ihn aber gleichgültig ließen, ein paar Hinweise zu Schienenersatzverkehr und weitere Einschränkungen im Zugverkehr im Aushang, das war’s. Auf dem anderen Bahnsteig gab es einen Kiosk. Er hätte sich wenigstens die Titelseiten der zahllosen bunten Zeitschriften anschauen können. Selbst wenn sie noch so belanglos sind, hätte es ihm ein wenig die Wartezeit verkürzen können. Doch die Fenster waren mit Holzplatten verhängt.

Es gab keinen Platz, an dem er sich hätte vor der Kälte und dem Wind schützen können.

Nachdem er einen Blick auf den Fahrplan geworfen hatte, der ihm nur bestätigte, was er ohnehin schon wusste, humpelte er zu einer roh gezimmerten Holzbank, nicht besonders bequem, aber immer noch besser als diese Sitze aus Eisen, die einem die Kälte noch stärker ins Bewusstsein rückten. Er setzte sich in eine Ecke, schlang den Mantel noch fester um sich und verfluchte sich im Stillen, beim Verlassen der Wohnung die Mütze am Haken hängen gelassen zu haben. Die wenigen verbliebenen Haare auf dem Kopf waren nicht geeignet, der Kälte Einhalt zu gebieten.

Er schaute in die Dunkelheit. Der Nachthimmel war sternenklar und verstärkte noch das Gefühl von eisiger Kälte. Gegenüber sah er schemenhaft den alten Wasserturm, dessen Dach ihn an eine preußische Pickelhaube erinnerte. Er erinnerte sich daran, dass dahinter kleine Gärten liegen. Früher hatte er immer gedacht, es müssen doch eigenartige Menschen sein, die sich hier ihren Traum vom eigenen Kleingarten erfüllen, rechts und links stark befahrene S-Bahn-Strecken und Fahrgäste, die einem neugierig bei der Gartenarbeit oder beim Ausspannen im Liegestuhl zusahen. Jetzt sind die Gärten längst aufgegeben, die Beete von Unkraut überwuchert und die Lauben verfallen.

Zu Füßen des Wasserturmes duckte sich ein kleines Empfangsgebäude. Es diente als Zugang vom Süden her, aber eine Funktion hatte es wie so viele ähnliche Gebäude schon lange nicht mehr. Der Rollladen vom Fahrkartenschalter war schon vor Jahrzehnten das letzte Mal heruntergefallen. Automaten ersetzten den Verkäufer. Bei dem geplanten Umbau des Bahnhofes wird es wahrscheinlich endgültig verschwinden. Modern und effizient muss alles sein. Dass daraus Austauschbarkeit und Beliebigkeit entsteht, wird anscheinend als Tribut an die heutige Zeit in Kauf genommen.

Während dem Mann diese Gedanken durch den Kopf schossen, nickte er langsam ein. Der Alkohol und die Müdigkeit zeigten eine Wirkung, an der sogar die Kälte der Winternacht abprallte.

Er wusste nicht, wie lange er sich schon in diesem Schwebezustand zwischen Wachsein und Halbschlaf befunden hatte, als ihn das Gefühl überkam, dass ihn jemand ansah. Er schreckte auf und sah sich misstrauisch auf dem Bahnhof um. Er war immer noch ganz allein. Ein ICE mit dunklen Fenstern fuhr auf dem Fernbahngleis entlang, dann war wieder Totenstille. Doch irgendwas war da. Der Mann spürte, dass ihn zwei Augen aus der Dunkelheit beobachteten. Und dann sah er sie: Eine junge Frau mit entschieden zu dünner Kleidung trat aus dem Halbschatten auf ihn zu. Zu allem Überfluss hielt sie auch noch ein Eis in der Hand, an dem sie anscheinend mit großem Appetit leckte. Das Geräusch, das sie beim Laufen machte, sagte ihm, dass sie Hackenschuhe trug, was ihn allerdings schon nicht mehr wunderte. Sie kam direkt auf ihn zu.

"Ist hier noch ein Platz frei?" fragte sie. Diese Frage war eigentlich überflüssig angesichts der Menschenleere. Er nickte. Sie setzte sich neben ihn, schlug die Beine übereinander, warf ihm einen kurzen Blick zu und widmete sich wieder ihrem Eis.

Da er sich in die Ecke der Bank gedrückt hatte wie ein verprügelter Hund, konnte er sie unauffällig ansehen, ohne aufdringlich zu wirken.

Sie war wirklich noch jung, vielleicht Mitte zwanzig. Sie trug schulterlanges nussbraunes Haar, das ein ovales, perfekt geschnittenes Gesicht umrahmte. Zwei große braune Augen vermittelten den Eindruck von Wärme und Freundlichkeit. Sie war sehr hübsch.

Sie trug einen dünnen weißen Pullover und einen halblangen weißen Rock. Auch ihre Schuhe, eher Sandalen mit hohen Absätzen, waren weiß. Dass ihre Kleidung ihr nicht den geringsten Schutz vor der Kälte bot, schien sie nicht zu stören.

Es war lange her, dass er eine Frau angesprochen hatte. In einem früheren Leben war er mal verheiratet gewesen, für ganz kurze Zeit. Dann war sie eines Tages fort. Er sei ein schrecklicher Langweiler und Pedant, er kümmere sich mehr um seine Schallplatten, voll mit uninteressantem Geklimper, als um sie und die kleine gemeinsame Tochter, sie ersticke in seiner Gegenwart, stand auf einem hastig hingeschriebenen Zettel, der auf dem Fußboden im Flur lag.

Dann kamen noch einige Briefe von ihr, um die Scheidungsformalitäten zu klären. Er sah sie wieder, als sie vor dem Richter saßen, und wenige Minuten später verließ sie den Saal, ohne sich noch einmal umzudrehen. Er hat von ihr und von dem Kind nie wieder was gehört.

Seine Vorliebe galt der klassischen Musik. Er arbeitete im Konzerthaus, half an der Garderobe aus, riss Eintrittskarten ab, wies Plätze an. Während der Konzerte stand er im Hintergrund und lauschte der Musik. Beethoven, Smetana, Vivaldi – er kannte jeden Ton.

Anfängliche Versuche, eine neue Frau zu finden, scheiterten schon im Ansatz. Bald schon gab er es auf und lebte für sich allein. Er war ziemlich unscheinbar, besaß nicht viel von dem, was man als Ausstrahlung bezeichnet. Hatte man mit ihm mal zu tun, vergaß man ihn unmittelbar danach sofort wieder. Nur wenn er sich zu Hause eine Schallplatte aufgelegt hatte und ein in seiner Vorstellung existierendes Orchester dirigierte, zeigte er Leidenschaft. Aber die Sehnsucht ist ganz tief in seinem Herzen jung geblieben.

Jetzt hatte er das Gefühl, neben einem Engel zu sitzen, denn wer sollte sonst mitten in der Nacht auf diesem gottverlassenen Bahnhof sich ausgerechnet neben ihn setzen?

Er fasste Mut:

"Entschuldigen Sie, ist Ihnen nicht kalt?", sprach er sie an. Dabei spürte er, wie sich sein Magen vor Angst, sie könne aufstehen und weggehen, zusammenzog.

Doch sie lächelte ihn freundlich an.

"Doch, ein wenig schon", sagte sie, "es ist ungewöhnlich kalt für den Weihnachtsabend".

Ihre Augen sahen aufmerksam zu ihm herüber. Wärme lag in ihrem Blick. Das Ziehen in seinem Magen nahm zu. Da tat er etwas, was er vor wenigen Minuten noch für völlig unmöglich gehalten hatte: er zog seinen alten Mantel aus und reichte ihn ihr.

"Bitte, ziehen Sie ihn an." Er hoffte, sie würde den Geruch nach Nikotin und abgestandener Kneipenluft, der in dem Mantel haftete, nicht wahrnehmen.

Aber sie lächelte immer noch. "Danke", sagte sie und hängte sich den Mantel um ihre schmalen Schultern.

"Was machen Sie um diese Zeit hier auf dem Bahnhof?", fragte er, "Warum sitzen Sie nicht zu Hause bei Ihrer Familie und feiern Weihnachten?"

"Ich habe hier in der Nähe zu tun", entgegnete sie, "und vertrete mir nur ein wenig die Beine. Ich arbeite in der Werbung". Das Letzte sagte sie sehr bestimmt, als sollte es alles erklären, ihre Kleidung, ihre Anwesenheit zu dieser Zeit, einfach alles. Sie leckte wieder an ihrem Eis.

"Nun gut", dachte er, "Werbung ist eine schnelllebige Sache, da kann man wenig Rücksicht auf die Zeit nehmen".

"Und was tun Sie hier?" Sie schaute ihn neugierig an. "Haben Sie Ihre Bahn verpasst oder haben Sie die Weihnachtsgeschenke verbummelt und trauen sich nicht nach Hause?"

Sie lachte. Ein fröhliches, klares Lachen, ohne Spott.

"Nein." Auch er lächelte jetzt. Er erzählte ihr vom Besuch am Krankenbett seiner Mutter, und dass er danach noch ein wenig Gesellschaft gesucht hätte, um nicht den ganzen Abend alleine zu sein. Wie viel Bier er getrunken hatte, sagte er ihr nicht. Er schämte sich etwas und hoffte, seine Stimme würde fest und sicher klingen.

Wind kam auf. Sie zog den Mantel fester um ihre Schultern. Obwohl sie hin und wieder an ihrem Eis knabberte, hatte er den Eindruck, es würde nicht weniger werden. Na ja, auftauen kann es bei diesen Temperaturen nicht.

Plötzlich überkam ihm wieder ein starker Hustenanfall. Er spürte das Stechen in seinen Lungen und wusste, der einzige Ort, an dem er sich jetzt befinden sollte, ist sein Bett.

"Sind Sie krank?" fragte das Mädchen besorgt. "Wollen Sie nicht Ihren Mantel wieder nehmen?"

"Nein, nein", wehrte er ab, "es geht schon". Verdammte Erkältung, verdammter alter, schwacher Körper. Zum Glück donnerte wieder ein Zug, diesmal ein langer Güterzug, vorbei, so dass sie seinen Husten nicht mehr hören konnte. Er widerstand dem Verlangen auszuspucken und schluckte nur.

Sie schaute ihn lange prüfend an. Die Wärme ihrer Augen ließ ihn die Kälte vollends vergessen und verstärkte wieder das unerklärbare Ziehen im Magen, dass einen packt, wenn der Kopf die Führung an den Bauch übergibt. Es erinnerte ihn an eine lange zurückliegende Zeit, und er hatte das Gefühl, wieder jung und gesund zu sein

"Alles wieder in Ordnung." Der Belag seiner Stimme klebte ihm förmlich auf der Zunge. Er räusperte sich. Er wollte das Gespräch am Laufen halten, wusste aber nicht, was er sagen sollte. Sie schien seine Unsicherheit zu spüren. "Ich habe noch etwas Zeit. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen noch etwas Gesellschaft leisten."

Der Mann fasste es als angedeutete Frage auf und nickte. "Das ist nett von Ihnen. Entschuldigen Sie, dass ich nicht sehr unterhaltsam bin. Ich habe nicht allzu viel mit Menschen zu tun. Besonders nicht mit jungen Frauen", fügte er nach einer kleinen Pause hinzu mit einem kurzen Seitenblick auf sie. "Seitdem ich meine Arbeit aufgeben musste, bin ich überwiegend allein."

"Was haben Sie gemacht? Was für eine Arbeit, meine ich."

Er erzählte ihr vom Konzerthaus, in dem er tätig war, von der Musik, von berühmten Solisten und von noch berühmteren Dirigenten, die dort aufgetreten sind.

Seine Stimme gewann zunehmend an Sicherheit. Er befand sich auf festem Boden. Ab und zu schaute er sie an, um zu prüfen, ob sie ihm noch zuhört. Doch ihr Gesicht verriet gespannte Aufmerksamkeit. Sie hielt ihre Augen unverwandt auf ihn gerichtet. Über seine eigene Rolle in diesem Haus sprach er nicht. Aber das war auch nicht von Bedeutung. Er erklärte ihr den Unterschied zwischen Geige und Violine, erzählte ihr von Beethoven, der noch im Zustand völliger Taubheit komponiert hatte und redete über Händels Aufenthalt am englischen Königshof. Über die Sinfonie mit dem Paukenschlag kam er zur unglücklichen Liebesbeziehung zwischen Frederik Chopin und George Sand. Das steigende Fieber in seinem Körper schien ihm zusätzliche Energie zu geben.

Nach einiger Zeit hielt er inne, ungläubig über seinen Redefluss. Er kann sich nicht erinnern, dass ihm jemals ein Mensch solange zugehört hatte. Seine Mutter vielleicht, aber da war er sich nicht so sicher, ob sie wirklich bei der Sache war. Doch das junge Mädchen neben ihm, eingehüllt in seinem Mantel, immer noch das Eis in der Hand, hörte ihm gebannt und konzentriert zu, als schien es eine völlig neue Welt zu sein, die sie das erste Mal betrat.

"Ja", sagte er abschließend, "die Musik ist für mich die Verkörperung des Lebens. In Allem ist Musik, doch nicht jeder kann sie hören".

Er schwieg. Nach einer Weile stummen Beieinandersitzens fing das Mädchen plötzlich an, eine Melodie zu summen. Schon nach wenigen Takten erkannte er sie: es war der Eingangschor aus dem Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach.

Noch voller Verwunderung darüber, dass jemand mitten in einer eiskalten Winternacht auf dem anscheinend kältesten Bahnhof der Stadt dieses Stück anstimmte, fiel er mit ein. Zuerst summte auch er, man sollte es vielleicht lieber ein Brummen nennen, doch dann fing er an zu singen: "Oh jauchzet, frohlocket". Seine Stimme, sonst brüchig und leise, wurde plötzlich klar und kräftig. Bald stand er auf und fing an, das unsichtbare Orchester zu dirigieren. Vorn die Streicher, rechts die Posaunen, hinten die Pauken. Er sang und dirigierte, wie er es sonst nur zu Hause machte. Aber hier machte es ihm nichts aus. Er spürte, dass er eine Verbündete gefunden hatte, jemanden, der ihn ernst nahm. Jetzt noch mal die Pauken. Und der Chor etwas lauter, bitte. Die Streicher etwas gedämpfter, damit die Bläser besser zu hören sind. Und jetzt nur die Posaunen, dazu der Chor. Jetzt der Chor alleine. Und nun wieder die Streicher. Und jetzt die Bläser dazu. Noch mal die Pauken. Dann alle zusammen und mit energischen Handbewegungen dirigierte er die Schlussakkorde.

Stille.

Dann brandete hinter ihm tosender Beifall auf. Er war völlig verschwitzt. Nach einem kurzen Moment drehte er sich um und verbeugte sich. Als er wieder hochblickte, verschwand der Konzertsaal, und vor seinen Augen sah er wieder die alte hölzerne Bank mit dem Mädchen, das stürmisch klatschte. Erschöpft setzte er sich hin.

Das Mädchen sah ihn bewundernd an. "Das war das wundervollste Weihnachtskonzert, das ich je gehört habe", sagte sie. Sie beugte ihren Kopf zu ihm hin, und dann fühlte der Mann ihren weichen Mund auf seinen spröden Lippen. Ihr Kuss schmeckte nach Jugend und Vanilleeis.

Er glaubte, ihren Geruch noch in der Luft zu spüren, als sie schon lange weg war. Dann spürte er nichts mehr.

Eine Stunde später kam die erste S-Bahn eingefahren. Ein paar junge Leute stiegen aus, anscheinend von einer Weihnachtsparty in der Stadt kommend. Sie waren in guter Stimmung und strebten dem Bahnsteig der Ringbahn entgegen. Sie kamen an der Bank vorbei und sahen einen alten Mann dort sitzen. Er sah etwas verwahrlost aus, unrasiert und nach Alkohol riechend. Merkwürdigerweise lag sein Mantel trotz der Kälte neben ihm auf der Bank, als würde er nicht zu ihm gehören. Der Mann hatte die Augen geschlossen und lächelte. In seinem Mundwinkel klebte etwas, was wie Speiseeis aussah.

"Los, wir wecken ihn auf", sagte einer der jungen Leute, "er erfriert sonst".

Er fasste den Mann an der Schulter, um ihn wachzurütteln.

Doch der Mann fiel stumm zur Seite.

Wenige Tage später wurden die großen Werbeflächen gegenüber dem Bahnsteig Richtung Südosten erneuert. Dabei wurde auch das Plakat mit der jungen braunhaarigen Frau, die an einem Eis leckte und jeden Betrachter freundlich ansah, ausgewechselt. Da die Menschen auf diesem Bahnhof immer in Eile sind, hatte wahrscheinlich keiner gemerkt, dass ihre Augen seit kurzem irgendwie trauriger geguckt haben.

Franziska Dreke - Vergissmeinnicht

Franziska Dreke
Vergissmeinnicht

 

Die Frau fiel mir sofort ins Auge. Ich stellte gerade fest, dass der Kaffee zu heiß war, und verfluchte im Stillen, wie jeden Morgen, dass ich erneut nicht daran gedacht hatte, als sie langsam die Treppe vom oberen Bahnsteig hinunter kam. Ich weiß nicht, was es genau war, das meinen Blick davon abhielt, achtlos über sie hinweg zu gleiten, wie er es sonst zu tun pflegte, wenn ich morgens an diesem Kiosk in aller Eile meinen Kaffee trank, noch halb im Traum oder in Gedanken schon im Büro, und all die Leute um mich herum nur wie durch einen Schleier wahrnahm.

Alles war eigentlich wie immer, die gleiche tägliche Routine, die mir mittlerweile so vertraut war wie meine eigene. Am Blumenladen wurden die Jalousien hochgezogen, die nette Verkäuferin vom Kiosk ordnete die Zeitungen in den Ständern, ein Stück weiter begann gerade der Mann in dem orangefarbenen Overall wie jeden Morgen die Mülleimer auszuleeren. Es faszinierte mich, dass er stets mit dem gelben Eimer begann und dann den roten, den grünen und am Ende den blauen leerte, als wäre das Ganze ein geheimer unveränderlicher Code. Sonst immer genoss ich sie beinahe, die Stimmung des langsam erwachenden Bahnhofes, das Ankommen und Abfahren der Bahnen, die hektischen Schritte der Passanten, Stimmengewirr, Rufe, die vom Obststand herüber drangen, den Duft von Kaffee und noch frischen Brötchen, das warme Gefühl des Pappbechers an meiner Handfläche, aber heute blieb mein Blick an dieser Frau hängen, die mit langsamen Schritten die Treppe hinunter kam, eine Hand auf dem rostigen Eisengeländer, den Blick starr geradeaus vor sich gerichtet. Vielleicht war es dieser Blick, der meine Aufmerksamkeit fesselte: er wirkte völlig in sich gekehrt, abwesend, leer, als handele die Frau unter Hypnose, vielleicht war es aber auch ihr seltsamer Aufzug. Sie trug ein langes, hoffnungslos veraltetes Kleid mit einer breiten Spitzenborte am Saum und einer engen Taille, einen Gürtel und eine dazu passende kurze Jacke. Die eigentliche Farbe des Kleides war nicht mehr auszumachen, denn es war völlig zerschlissen, die einst sicherlich dekorative Spitze hing zum Teil in Fetzen auf den Boden hinab und der Stoff, der an einigen wenigen Stellen noch seine frühere Qualität erahnen ließ, sah nun vor allem schäbig und mottenzerfressen aus. Die Frau machte auf mich den Eindruck, als käme sie gerade vom Kostümverleih für Nachkriegsmode, was wohl vor allem am erstaunlichsten Teil ihrer Erscheinung lag: einem riesigen Hut mit breiter Krempe und gewagter Blütendekoration, der wohl einmal dieselbe Farbe wie das Kleid gehabt haben musste, nun aber eher aussah, als hätte er die vergangenen 60 Jahre auf einem Dachboden verbracht. Unter dem Hut, der die obere Hälfte ihres Gesichtes fast völlig beschattete, schauten einige eisgraue Haarsträhnen hervor. Ich versuchte, das Alter der Frau abzuschätzen, als sie langsam und ein wenig gebeugt, als bereite ihr das Gehen Probleme, in einiger Entfernung an dem Tisch vorbeiging, an dem ich stand. Sie musste wohl bereits die 70 überschritten haben, wenn sie nicht sogar schon 80 Jahre alt war. Ich beobachtete, wie die Bahn nach Grunewald einfuhr, die Türen sich öffneten und die zierliche Gestalt der alten Dame für einen Moment von der sich aus den offenen Türen des Zuges ergießenden Masse aus hektisch rennenden Gestalten verschluckt wurde. Suchend irrten meine Augen über die vielen namenlosen Gesichter bis sie nach kurzer Zeit den wippenden großen Hut entdeckten, der inmitten der Menschenmenge wie eine Insel aussah. Die Leute verschwanden schnell, die Treppen hinauf, um in die Ringbahn umzusteigen oder in Richtung der Ausgänge, und nun konnte ich die Frau wieder sehen. Sie stand mittlerweile mitten auf dem Bahnsteig und sah sich um. Ich dachte darüber nach, ob wohl mit ihr etwas nicht stimmte, ja ganz offensichtlich musste etwas mit ihr nicht stimmen, wenn man von dem Aufzug ausging, in dem sie herumlief. Es war nicht besonders warm jetzt im März und dieses Kleid sah nicht so aus, als wäre es der Jahreszeit angemessen, einmal ganz von der Mode abgesehen. Wieder blickte die Frau sich suchend um. Vielleicht war sie nicht ganz richtig im Kopf und hatte sich verlaufen? Das konnte es sein. Ich hatte schon einige solche Fälle erlebt. Bahnhöfe, und vor allem dieser hier, schienen bevorzugte Orte zu sein, an die es verwirrte Leute immer wieder trieb. Ich sann über ähnliche Erlebnisse nach und darüber, ob ich das Bahnhofspersonal auf die Frau aufmerksam machen sollte, als ich plötzlich abgelenkt wurde. Eine Stimme fragte nahe an meinem rechten Ohr, ob an diesem Tisch noch Platz wäre. Ich murmelte etwas Zustimmendes, rückte automatisch ein Stück zur Seite und riss dann meine Augen von der immer noch mitten auf dem Bahnsteig stehenden Frau los, um sie auf einen bärtigen Mann mit einer Zeitung unter dem Arm zu richten, der sich nun neben mich stellte und ein belegtes Brötchen auf einem Pappteller in der rechten Hand balancierte. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, legte er seine Zeitung neben seinen Teller und begann, darin zu lesen, wobei er von Zeit zu Zeit von dem Brötchen abbiss. Ich schaute schließlich wieder zu der Frau hinüber. Sie stand inzwischen den Gleisen zugewandt und schien den Himmel zu betrachten, der langsam seine Rosafärbung über der Stadt verlor.

Aus den Augenwinkeln nahm ich plötzlich eine Gestalt wahr, die sich von den Treppen her näherte. Es war ein junger Mann, und er schien es sehr eilig zu haben, denn er rannte fast über den Bahnsteig und sah sich dabei immer wieder hektisch nach hinten um. In der einen Hand trug er eine große dunkle Tasche, in der anderen hielt er vor sich ausgestreckt einen Pappbecher, aus dem es dampfte. Er wirkte seltsam deplatziert und im ersten Moment konnte ich nicht herausfinden, was an ihm so merkwürdig war, bis mir klar wurde, dass er einen zylinderartigen Hut trug und dazu einen dunklen, abgewetzten Anzug mit schwarzer Fliege und weißem Hemd, so dass ich wieder dieses Gefühl hatte, in der falschen Zeit gelandet zu sein. Verwirrt blickte ich ihm nach und sah, wie er in Richtung der alten Dame eilte, jedoch offenbar ohne sie zu sehen, da er sich beim Laufen die ganze Zeit nach hinten umschaute, als befürchtete er verfolgt zu werden. Er war nun schon bis auf wenige Meter an die Frau herangekommen, die noch immer völlig abwesend und ahnungslos in die entgegengesetzte Richtung schaute, als mir mit einem Schlag klar wurde, was gleich passieren würde. Ich richtete mich mit einem Ruck auf und ließ meinen Kaffeebecher los um einen Warnruf auszustoßen, als es auch schon geschehen war: der junge Mann stieß im Laufen mit der alten Dame zusammen. Fast hätte er sie umgerissen, doch sie ergriff geistesgegenwärtig seinen Arm und hielt sich so aufrecht, wobei jedoch der Becher seiner Hand entglitt und der Inhalt — Kaffee, wie ich der Farbe nach annahm — sich in einem dampfenden Schwall über den Rock ihres Kleides ergoss. Sie hielt mit einer Hand ihren rutschenden Hut fest und stieß einen lauten Schreckensruf aus, woraufhin sich einige Köpfe nach dem seltsamen Paar umdrehten. Ich beobachtete nun mit zunehmendem Erstaunen den jungen Mann, der sich immer und immer wieder vor der Dame verbeugte und dazwischen wild gestikulierend auf sie einredete, während sie den Schaden auf ihrem Kleid begutachtete. Erstaunt stellte ich fest, dass ihr abwesender Blick völlig verschwunden war und einem klaren, intelligenten Gesichtsausdruck Platz gemacht hatte. Ärgerlich schaute sie den jungen Mann an und redete auf ihn ein, während sie dabei immer wieder unwillig auf den großen Fleck auf ihrem Kleid deutete. Inzwischen war auf dem Bahnsteig hinter mir wieder ein Zug eingefahren, und die beiden standen auch zu weit von mir entfernt, als dass ich ihr Gespräch hätte mitverfolgen können, aber ich beobachtete weiter gespannt, wie der junge Mann nun mit der einen Hand seine Tasche aufhob und mit der anderen die alte Dame am Arm nahm und sie zu einer nahen Bank führte, auf die sich beide setzten. Er sah immer noch etwas verstört aus und an seinem Hals hatten sich hektische rote Flecken gebildet. Die beiden schienen ein Gespräch miteinander zu beginnen und ich konnte bis zu meinem Tisch erkennen, dass bei der seltsamen alten Dame der Ärger rasch zu verfliegen schien, während er noch immer mit fahrigen Bewegungen versuchte, sich zu erklären. Plötzlich lachte sie laut auf und ich konnte ihr Lachen bis zu mir hinüber hören. Ihre Stimme klang zu meiner Überraschung sehr hell und wirkte fast jugendlich. Am meisten faszinierte mich jedoch die Veränderung, die in ihrem Gesicht vor sich ging während sie lachte. Ich fragte mich, wie ich sie je für abwesend oder verwirrt hatte halten können. Ihre Augen strahlten und sie wirkte plötzlich viel jünger. Ihr Gesicht war mit einem Ausdruck plötzlicher Frische überzogen, ein wenig Rot hatte sich auf ihre Wangen gestohlen, und ich ertappte mich erstaunt bei dem Gedanken, dass diese alte Dame auf eine gewisse Art wirklich schön war und dass die vielen Fältchen, die ihr Gesicht durchzogen, wenn sie lachte, diese Schönheit noch betonten. Über der Betrachtung des merkwürdigen Pärchens, das auf der Bank dort drüben irgendwie wirkte, als wäre es einem alten Film entsprungen, hatte ich die Zeit völlig vergessen. Mein Kaffee war inzwischen fast kalt geworden und kaum noch genießbar und nach einem Blick auf die Uhr stellte ich mit Erschrecken fest, dass es schon sehr viel später war, als ich erwartet hatte. Hastig raffte ich meine Sachen zusammen und nach einem letzten Blick zurück zu der Bank, auf der der junge Mann und die alte Dame noch immer saßen, riss ich mich schließlich los und hastete davon.

Am nächsten Morgen war ich mit meinen Gedanken schon auf der Arbeit. Der Tag versprach, sehr hektisch zu werden und schließlich ärgerte ich mich auch noch, dass der Tisch des Kiosks, an dem ich jeden Morgen meinen Kaffee zu trinken pflegte, bereits besetzt war. Widerwillig ging ich also hinüber an den Nachbartisch und begann missmutig, an meinem Becher zu nippen. Das Erlebnis vom Vortag hatte ich dabei schon völlig vergessen, als ich sie plötzlich zu meiner großen Überraschung die Treppe hinunter kommen sah: die alte Dame, die ich schon gestern gesehen hatte. Sie trug genau dasselbe Kleid wie am Vortag, dazu den auffälligen Hut und bewegte sich mit dem mir schon bekannten leeren Ausdruck im Gesicht in meine Richtung. Verwirrt beobachtete ich, wie sie immer näher kam. Es war schon ein merkwürdiger Zufall, dass mir diese Frau noch nie zuvor aufgefallen war und ich sie nun zwei Tage hintereinander am selben Ort traf. Langsam begann die Dame wirklich, mich sehr neugierig zu machen, und für den Augenblick hatte ich die anstehenden Probleme im Büro völlig vergessen. Als sie näher kam fiel mir erst richtig auf, wie groß der Unterschied zwischen dieser in ihrer Geistesabwesenheit schon fast unheimlich wirkenden Person und der Dame war, die ich gestern mit dem jungen Mann auf der Bank hatte sitzen sehen. Ich musste mir selbst noch einmal versichern, dass diese beiden tatsächlich ein und dieselbe Frau waren, sonst hätte ich das Ganze vermutlich selbst für Einbildung gehalten. Was tut sie bloß hier, fragte ich mich, während sie mit starrem Blick an mir vorbeiging, genau wie am Vortag parallel zu den Gleisen und mitten auf dem Bahnsteig. Aus der Nähe sah ihr Kleid noch viel schäbiger aus und sie bot darin einen fast grotesken Anblick. Ich wartete gespannt darauf, was sie heute tun würde, vielleicht würde ich ja herausfinden können, was sie denn zwei Tage hintereinander in einem solchen Aufzug hier auf dem Bahnhof suchte. Meiner Neugier nachgebend beschloss ich, sie noch eine Weile zu beobachten. Ich hatte es, angesichts der Dinge, die mich heute erwarteten, ohnehin nicht besonders eilig, ins Büro zu kommen. Die Frau blieb nun stehen und musste sich nun merkwürdigerweise ungefähr dort befinden, wo sie gestern gestanden hatte, als der junge Mann mit seinem Kaffee sie fast umgestoßen hatte. Vielleicht sucht sie dort etwas, schoss es mir gerade durch den Kopf, doch bevor ich noch weiter darüber nachdenken konnte, passierten plötzlich mehrere Dinge gleichzeitig: aus den Augenwinkeln nahm ich eine Bewegung an der Treppe war und erkannte den jungen Mann vom Vortag. Ungläubig beobachtete ich, wie er, sich immer wieder hektisch umsehend, über den Bahnsteig rannte, dieselbe Tasche in der einen, einen Becher in der anderen Hand. Auch er war exakt wie am gestrigen Tag gekleidet: derselbe altmodische Anzug, die Fliege, und auch der Hut fehlte nicht. Ich fragte mich, ob ich da wirklich sah, was ich sah, oder ob ich jetzt ganz plötzlich verrückt geworden wäre. Das konnte es doch gar nicht geben, solche Zufälle waren einfach nicht möglich. Völlig fassungslos musste ich mit ansehen, wie der Mann genau wie am Vortag der ahnungslosen alten Dame immer näher kam — … er musste doch jetzt aufpassen, er konnte doch nicht denselben Fehler noch einmal machen, hatte er denn nicht daraus gelernt … — und schließlich mit ihr zusammenstieß, wobei er erneut seinen Kaffee auf ihr Kleid verschüttete. Dort, wo sie den alten Kaffeefleck scheinbar erfolgreich beseitigt hatte, prangte nun ein neuer, der sich rasch ausbreitete. Fast amüsiert wartete ich jetzt auf die überraschte Reaktion, wenn beide erkennen würden, welcher unglaubliche Zufall sie erneut in genau derselben Situation wie am Vortag zusammengeführt hatte, um so verwirrter war ich jedoch, als weder die alte Dame noch der junge Mann auch nur eine Spur des Wiedererkennens zeigten. Im Gegenteil: die beiden verhielten sich vielmehr, als würden sie sich zum ersten Mal begegnen. Was nun folgte, kannte ich schon: der junge Mann entschuldigte sich gestenreich und mit Hilfe vieler Verbeugungen, die Dame machte ein ärgerliches Gesicht. Wieder war der abwesende Ausdruck völlig verschwunden und sie machte nunmehr bis auf ihre merkwürdige Kleidung einen ganz normalen Eindruck. Als ich die beiden kurz darauf dann erneut zu der Bank hinübergehen sah, glaubte ich, meinen Augen nicht zu trauen. Für einen kurzen Augenblick erwog mein Gehirn die Möglichkeit, in einer Zeitschleife gefangen zu sein, nur um aber im nächsten Moment den Gedanken sofort wieder zu verwerfen. Das ist doch Unsinn, dachte ich. Vielleicht war ich ja nur überarbeitet und meine überreizte Fantasie spielte mir einen makabren Streich. Vielleicht bildete ich mir das alles ja nur ein, oder ich träumte nur und würde im nächsten Augenblick aufwachen. Ich ertappte mich dabei, wie ich schon angespannt auf das Klingeln meines Weckers wartete, doch nichts dergleichen passierte. Im Gegenteil — der junge Mann und die alte Dame saßen weiterhin dort drüben auf der Bank und unterhielten sich angeregt miteinander und ab und zu wurde das glockenhelle Lachen der merkwürdigen Frau bis zu mir hinübergetragen.

Niemand anderem schien aufzufallen, dass das Ganze alles schon einmal passiert war, niemand außer mir schien zu bemerken, dass etwas hier nicht mit rechten Dingen zugehen konnte. Ich klammerte mich an meinem Becher fest und versuchte, mich gegen den Gedanken zu wehren, dass hier gerade Unerklärliches geschah oder dass ich womöglich eben den Verstand verlor. Ich wagte gar nicht, das Paar auf der Bank auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen, und nach einer Weile bemerkte ich, dass ich sie geradezu hypnotisieren musste, als sich beide plötzlich erhoben. Ich erstarrte, dann fiel mir ein, dass ich ja am Vortag vorher gegangen war und deshalb nicht wissen konnte, was jetzt passieren würde, aber das es dasselbe sein musste wie gestern, daran hatte ich plötzlich keinen Zweifel mehr. Die Dame strich ihren Rock glatt und lächelte, und der junge Mann verbeugt sich galant und küsste ihre Hand. Eine Gruppe vorübergehender junger Mädchen kicherte. Der junge Mann deutete mit ausgestrecktem Arm auf die nahe Bahnhofsuhr, woraufhin die alte Dame nickte. Ich konnte bis hierher sehen, wie sie errötete. Ich beobachtete fasziniert, wie daraufhin beide in verschiedene Richtungen davongingen. Der junge Mann entfernte sich und verschwand rasch in der Menge, die Dame aber ging erneut an mir vorüber und stieg langsam die Treppen zum Bahnsteig F hinauf. Noch zeigte ihr Gesicht Spuren frischer Röte und ihre Augen strahlten. Sie sah völlig verwandelt aus und wirkte jung und auf seltsame Weise glücklich. Noch lange nachdem ich die beiden aus den Augen verloren hatte, stand ich wie versteinert am Tisch des Kiosks und umklammerte meinen Becher kalten Kaffee. Immer wieder kreisten meine Gedanken um das eben Erlebte, versuchten verzweifelt, eine Erklärung dafür zu finden, die sich halbwegs normal und einleuchtend anhörte, aber mir fiel dafür einfach nichts ein. Ich hätte sie ansprechen sollen, dachte ich, aber dann fragte ich mich, was ich denn hätte sagen sollen, ohne mich völlig lächerlich zu machen. Schließlich stand es Leuten ja frei, so oft sie wollten, auf einem Bahnhof zusammenzutreffen und sich auf einer Bank zu unterhalten. Vielleicht hatte ich auch einfach etwas missverstanden und die beiden kannten sich. Manche Leute benahmen sich eben etwas merkwürdig. Und der Kaffee, warf eine zweifelnde Stimme ein, was ist mit dem Kaffee. Solche Dinge passieren doch ständig, versuchte ich mich zu beruhigen, aber tief in mir wusste ich, dass so etwas zwar ständig passieren konnte, aber wohl kaum an zwei aufeinander folgenden Tagen um dieselbe Zeit am selben Ort.

Einen Monat später zog ich ernsthaft in Erwägung, einen Arzt aufzusuchen. Es ging mir ja eigentlich nicht schlecht, aber der Fakt, dass ich im Büro praktisch nicht mehr geistig anwesend war und mir so ständig Fehler unterliefen, machte mir zunehmend zu schaffen. Ich konnte inzwischen auch nicht mehr schlafen und wenn ich schlief, sprach ich im Schlaf oder träumte verworrenes Zeug. Meine Frau fing an, sich ernsthafte Sorgen zu machen, als ich begann, jeden Morgen eine Stunde früher aus dem Haus zu gehen, nur um rechtzeitig am Bahnhof zu sein. Ich verbrachte meine Zeit, bevor die alte Dame auftauchte, damit, einen Kaffee nach dem anderen zu trinken und wartete begierig darauf, endlich ihren merkwürdigen Hut in der Menschenmenge auf der Treppe ausmachen zu können. Ich wurde unruhig, wenn sie nicht pünktlich war, es gab mir das Gefühl, dass etwas aus den Fugen geraten könnte und ich ertappte mich dabei, wie ich begann, mit den Fingern nervös an meinen Becher zu trommeln. Sobald sie dann aber die Treppe hinunter kam und mit leerem Blick an mir vorüber schritt, verschwand das Gefühl dieser Rastlosigkeit augenblicklich und ich entspannte mich, während ich zusah, wie der junge Mann der alten Dame den Kaffee über das Kleid goss und anschließend mit ihr ein Gespräch auf der Bank begann. Das Ganze erschien mir mittlerweile auch nicht mehr so kurios wie am Anfang. Sie trafen sich eben zufällig oder auch nicht – na und, was war schon besonderes dabei. Irgendwann hatte dieses Gefühl, die beiden unterbrechen zu müssen, um sie zu fragen, was sie da eigentlich taten und warum ich sie hier jeden Tag in derselben Situation beobachten konnte, nachgelassen. Die Geschichte dahinter erschien mir einfach nicht mehr so wichtig, der Grund ihres Treffens hatte für mich an Bedeutung verloren und ich wunderte mich auch nicht mehr darüber, ja, wenn ich darüber nachdachte, erschien mir das Ganze in zunehmendem Maße ganz natürlich. Meine anfängliche Neugier war einfach immer mehr abgeklungen und hatte schließlich einer stummen Akzeptanz Platz gemacht. Es war einfach, als wäre es schon immer so gewesen, als hätte ich mein ganzes Leben jeden Morgen damit verbracht, am Ostkreuz Kaffee zu trinken und einen jungen Mann und eine alte Dame zu beobachten, die sich dort jeden Morgen neu zufällig trafen. Die beiden waren ein Teil meiner Routine geworden, ein Teil meines Lebens beinahe und ich konnte mich gar nicht mehr daran erinnern, wie es gewesen war, als sie das noch nicht gewesen waren. Sie erfüllten mich auf eine merkwürdige Weise mit einer Art Zufriedenheit und ich fühlte eine unerklärliche Wärme und ein wunderbares Glücksgefühl in mir aufsteigen, wenn ich die beiden beobachtete. Ich brauchte sie einfach, um meinen Tag zu beginnen, um weiterzumachen und war, ohne dass mir das selbst bewusst war, regelrecht davon besessen, das Treffen der beiden wieder und wieder zu beobachten, jeden Tag aufs neue, als spulte ich ein Video immer und immer wieder zurück, um es mir noch einmal von vorne anzusehen.

Ich trank schon meinen vierten Kaffee. Sonst war ich spätestens bei drei wenn sie kam. Dreieinhalb höchstens. Heute schon der vierte. Wenigstens war er noch heiß. Ich presste meine Hände gegen den Becher und genoss beinahe den Schmerz, als ich die Hitze durch die dünne Pappwand an meinen Handflächen spürte. Auch der Becher konnte das leichte Zittern meiner Hände nicht verbergen. Ich schaute hinüber zur Bank. Zuerst war der junge Mann noch unruhig herumgelaufen, hin und her, hin und her, immer in der Nähe der Bank, unruhig zur Treppe hinüberschauend. Jetzt lief er nicht mehr hin und her. Er saß mit dem Rücken mir zugewandt auf der Lehne, die Füße auf der Sitzfläche. Neben ihm auf der Bank stand der Kaffeebecher. Ab und zu schaute er auf zur Treppe hinüber oder auf zu den Leuten, die vorübergingen. Sie würde nicht mehr kommen, ich wusste das irgendwie und er vielleicht auch, aber er blieb weiter dort auf der Bank sitzen und die Leute gingen an ihm vorüber. Er rührte sich auch nicht, als ich mich neben ihn auf die Lehne setzte, er schaute nicht einmal auf, sondern starrte weiter vor sich hin auf den Boden. Wir sprachen nicht, sondern saßen nur so da und ich beobachtete, wie der Himmel über der Stadt sich langsam von rosa zu zartblau verfärbte. Ab und zu fuhren Züge ein, hielten und fuhren wieder ab und noch mehr Leute eilten an uns vorüber.

"Sie war die erste Liebe meines Vaters" sagte der junge Mann schließlich leise. "Er hat sie in seinem Tagebuch erwähnt." Er stockte. Plötzlich wollte ich gar nicht mehr wissen, wie es weiterging. Es war einfach nicht mehr wichtig. Was änderte das jetzt noch. Ich wollte schreien, ihm sagen, dass mich das nicht interessierte, aber ich hielt den Mund. "Als ich sie endlich gefunden hatte, habe ich herausgefunden, dass sie nie geheiratet hat. Sie lebte inzwischen in einem Altersheim und hatte schwere Alzheimer. Sie hatten sie schon längst aufgegeben, denn sie hat niemanden mehr erkannt. Als sie mich sah, ist sie plötzlich aufgewacht. Alle sagten, es sei ein Wunder. Sie hat mich immer für meinen Vater gehalten, so sehr ich auch versucht habe, ihr zu erklären, dass er gestorben ist. Der Tag, an dem sie sich kennen lernten war das Einzige, an das sie sich noch erinnerte…" Er hob wie Hilfe suchend die Arme. "Also hat sie ihn kennen gelernt, jeden Tag, immer wieder und wieder neu…!" Der junge Mann verstummte. Was gab es auch noch mehr zu sagen? Ich dachte an die leeren abwesenden Augen der alten Frau und danach an ihr strahlendes, verwandeltes Gesicht, an die zarte Röte auf ihren Wangen, das mädchenhafte Lachen – eine Spur der glücklichen Jugend, der Beginn einer jungen Liebe — jeden Tag aufs Neue erlebt. Ich bemerkte nicht, wie wieder ein Zug einfuhr, bemerkte nicht die vielen Leute, die vorübereilten auf die Ausgänge zu oder die Treppen hinauf, bemerkte auch nicht, wie der junge Mann schließlich aufstand, seinen Kaffeebecher nahm und davonging, sondern fühlte nur den stechenden Schmerz eines herben Verlustes und eine unerklärliche Traurigkeit über etwas, das ich gar nicht benennen konnte. Und ich saß auf der Banklehne, die Füße auf der Sitzfläche und schaute auf die Gleise hinaus, während der zartblaue Himmel über der Stadt sich langsam azurblau färbte und in den Bahnhof Ostkreuz ein neuer Zug einfuhr.

Hannelore Adam - Sehnsucht.

Hannelore Adam
Sehnsucht.

Für Henning.

 

Steh wieder am Fenster, und denke
an dich,

seh dich ganz nah vor mir, schau in
dein liebes Gesicht.

Du bist einfach gegangen, der Schmerz
sitzt noch tief,

doch mein Herz, das ist bei dir, hab
dich noch sehr lieb.

Kann dich nicht vergessen, warte
immer noch auf dich,

am Ende des Weges brennt noch ein
letztes Licht.

Das Licht steht für Hoffnung, und
solange sie lebt,

werde ich dich wieder finden, vergiss
mich bitte nicht.

Gabriele Müller - Magie und meine Liebe am Ostkreuz

Gabriele Müller
Magie und meine Liebe am Ostkreuz

 

S-Bahnhof Ostkreuz, wichtiger Knotenpunkt zwischen vielen Strecken innerhalb Berlins.

1968 — Mein Weg führte mich vom oberen Bahnsteig, wo die Züge aus Pankow, Oranienburg, Grünau und Königs Wusterhausen ankommen, zur Treppe zum Bahnsteig Richtung Erkner.

Ich, Gabriele, wohnte damals — 17-jährig — noch bei meinen Eltern in Köpenick und war Schülerin der Erweiterten Oberschule Max-Planck in Berlin-Mitte in der Auguststraße. Wir waren dort die einzige reine Mädchenklasse dieser Schule. Diese Mädchen zum Abitur zu führen, war für unsere Lehrer bestimmt nicht immer einfach. Unser Mathematiklehrer hatte immer Spaß mit uns, aber unsere Klassenleiterin hatte kein einfaches Los. Unsere Geschichtslehrerin — eine spätere, kurzzeitige Kollegin von mir — sagte mir damals, dass an einer normalen Grundschule die Kinder eher berechenbar sind, aber in den Abiturklassen schwebt immer etwas in der Luft, was man nicht erfassen kann und das macht es so schwierig. Ich denke, sie hatte Recht. Wir waren schon etwas Besonderes.

Als reine Mädchenklasse waren wir sehr empfänglich für die Aufmerksamkeiten der Jungen aus anderen Klassen. Intensive Blicke wurden ausgetauscht, Briefchen geschrieben und zugesteckt. So erging es mir auch.

Ebi (Eberhard) hatte ein Auge auf mich geworfen. Er war eine Klasse tiefer und es begann ein interessanter Briefwechsel auf einer Schulbank. Ihm ging es bestimmt genau so wie mir. Da wir für die speziellen Unterrichtsfächer die Klassenräume wechseln mussten, konnten wir immer nicht schnell genug erwarten in den entsprechenden Klassenraum zu kommen, wo wieder eine neue Nachricht geschrieben stand. Ebi, kleiner als ich, schwarzhaarig mit Brille, die er aus Eitelkeit auf der Straße immer nicht aufsetzte und lieber nach dem S-Bahnzug fragte, da er die Anzeige ohne Brille nicht lesen konnte, war total verliebt in mich. Ich fand auch alles toll und spannend.

An diesem sonnigen Frühlingstag kam ich eben diese Bahnhofstreppe Ostkreuz herunter, um in den Zug Richtung Erkner einzusteigen. Normalerweise musste ich immer ganz nach hinten gehen, aber an diesem Tag stand Ebi mit seinem Freund gleich am Zuganfang, da er in Friedrichshagen vorn aussteigen musste. Ich freute mich sehr Ebi zu treffen. Begrüßte auch seinen Freund.

Der war circa vier Jahre älter als Ebi, blond, blaue Augen und etwas größer als ich. Das Auffälligste an ihm waren sein Lächeln, die wunderbaren Zähne, die man dann sah, und eine offene Zurückhaltung. Ich registrierte vor allem, dass er auf den ersten Blick eine große Ähnlichkeit mit dem Aussehen und der Jugendlichkeit von Schlagersänger Frank Schöbel hatte.

Mein verliebter Ebi war natürlich auch sehr froh, mich zu sehen. Wir unterhielten uns bis Köpenick über die Schule, die neuesten Kinofilme und viele andere Dinge. Die fünf Stationen von Ostkreuz bis Köpenick vergingen sehr schnell. Ich erfuhr nur kurz, dass sein Begleiter mit Spitznamen Andy (Andreas) hieß, er der langjährige Freund und Nachbar von Ebi war und bald zur Armee musste. Zwischen Ebi und mir war es ein lockeres und temperamentvolles Gespräch, soweit das mit Ebi möglich war. Seinen Freund Andy spürte ich nur.

In Köpenick angekommen, gab es einen kurzen Händedruck zur Verabschiedung und ein "Mach's gut".

Der Zug hielt und ich verließ den Wagen. Die S-Bahntür schlug zu und ich stand kurze Sekunden still mit dem Rücken zur Tür. Es war wie Magie. Als der Zug anfuhr, wusste ich, dass ich Andy heiraten werde.

Nachdem wir kurze Zeit später zu dritt im Kino waren und Andy mich nach Hause brachte, weil Ebi nicht wollte oder keine Zeit mehr hatte, wurden wir ein Paar.

1970 haben wir dann auch wirklich geheiratet. Wir bekamen später eine wunderbare Tochter. Leider trennten wir uns als Freunde nach 18 Jahren, aber immer noch, wenn ich heute am S-Bahnhof Ostkreuz bin, muss ich an diese Magie denken, lächeln und habe das Bedürfnis, davon zu erzählen.

Barbara Blum - zärtlichkeit auf dem bahnsteig

Barbara Blum
Zärtlichkeit auf dem Bahnsteig

 

Bahnhöfe haben ein eigenes Leben, sie atmen förmlich. Einfahrende Züge werden angesaugt, während diejenigen, die wegfahren, wie überflüssig wieder ausgespuckt werden.

Es geht nicht um einen unter vielen Bahnhöfen, wo nur ein einzelner Zug kommt und geht. In dieser Geschichte dreht es sich um einen Bahnhof, auf dem sich Züge von mindestens vierzehn unterschiedlichen Richtungen inner- und außerhalb Berlins treffen.

Es war auf dem S-Bahnhof Ostkreuz in Berlin. Ulrike stand jeden Morgen auf dem Bahnsteig 3 und wartete auf die S-Bahn, die in Richtung Friedrichstraße fährt. Sie war jung, es machte ihr nichts aus, das Treppauf und -ab und die Atmosphäre der Unruhe, der Ankunft und Abfahrt. Jeden Morgen traf sie Viertel vor sieben Uhr den jungen Mann mit dem grünen Anorak und der hellen Manchesterhose. Er kam immer fast zeitgleich die Treppe hoch gerannt wie sie, und sie standen in unmittelbarer Nähe, dass ihre Blicke sich treffen konnten. Ihr gefielen die braunen Augen und schwarzen Haare des Mannes. So blinzelte sie in seine Richtung hinüber bis die S-Bahn einfuhr. Dann wurden sie manchmal auseinander gerissen im Gedränge des Einsteigens und sie verloren sich.

Einmal hatte sie zwei schwere Taschen zu tragen und kam ins Stolpern, er sprach sie an. Seine Stimme war ungewöhnlich wohlklingend und tief, sie drang in sie ein. "Kann ich Ihnen eine Tasche abnehmen?" "Gern", sagte sie und gab sie ihm, als schon der Zug einrollte. Die Fahrt reichte kaum aus für das interessante Gespräch, das sich nun entspann.

Es kam wie es kommen musste. Karl und Ulrike verabredeten sich das erste Mal, um allein spazieren zu gehen.

Es war wunderschön, der Herbst zeigte sich von der besten Seite, es war noch lind im Oktober und die bunten Blätter rieselten von den Buchen und Kastanien auf die Straße. Es begann eine wunderschöne Zeit der Liebe und Zärtlichkeit. Sie wohnten noch beide zur Untermiete.

Später, als er mit ihr im Zimmer am Tisch saß, sagte er: "Ulrike, leider kann ich nicht in Berlin bleiben, ich will ein Studium als Elektro-Ingenieur anfangen und die Ingenieurschule ist weit weg, in einer kleinen Stadt in Sachsen. Wirst du die Zeit auf dich nehmen, die wir uns nicht sehen können, ohne mich auszukommen?"

Ulrike warf ihren Kopf nach hinten, dass ihre schwarzen Locken flogen. Ihrem Gesicht war anzusehen, dass sie dem Plan ablehnend gegenüberstand. Sie erhob sich vom Stuhl, der mit Korbgeflecht auf dem Sitz beschaffen war und musste in dem geräumigen Zimmer auf und ab gehen, ehe sie etwas sagen konnte.

Ihr biegsamer schlanker Körper war voller Unruhe. "Ich weiß nicht, ob das gut ist für uns", begann sie endlich, "doch du musst es tun, wenn du dir etwas mehr im Leben vorgenommen hast, natürlich will ich dich nicht aufhalten. Wir werden uns sehr selten sehen." Kurze Zeit nach ihrem Gespräch begann Karl sein Studium und er blieb lange Wochen fern.

Ulrike fiel das Alleinsein schwer. Die Freundinnen nahmen sie mit ins Theater und zu Tanzabenden, sie war eine fröhliche und aufgeschlossene Frau.

Später lernte sie einen jungen Mann im Theater kennen, der ihr über Freunde, Verwandte, Kunst und Sport erzählte und Anregungen zum Nachdenken gab. Sie war von seinen Kenntnissen und seiner Ausstrahlung fasziniert, dass aus den lockeren Gesprächen mehr wurde. Sie trafen sich und besuchten gemeinsam verschiedene Veranstaltungen und Museen. Karl konnte nur einmal nach Monaten zu Besuch kommen, da das Lernen ihn in Anspruch nahm. Ulrike brachte es nicht übers Herz, Karl etwas von ihrer Bekanntschaft zu erzählen, so schrieb sie ihm einen Abschiedsbrief und sie sahen sich nicht wieder.

Ulrike heiratete den neuen Freund. Durch seinen künstlerischen Beruf hatte Alexander mit vielen Malern zu tun und konnte andere Menschen von seinen Ideen begeistern.

Jedoch war sein Leben von Höhen und Tiefen gezeichnet, die Ulrike nicht mitgehen konnte. Nach fünf Jahren führten die Spannungen zu einer tiefen Krise und zum Bruch der Ehe.

Unrast, Unzuverlässigkeit und Untreue konnte Ulrike nicht mehr ertragen. Ein schnelles Beenden war für sie die beste Lösung.

Noch immer kam Ulrike jeden Morgen zum Ostkreuz und stieg in ihre Bahn, um zur Friedrichstraße zu fahren. Ihre Arbeit als Sekretärin nahm sie in Anspruch. Die zahlreichen Beratungsprotokolle und Niederschriften kosteten viel Zeit und Mühe, des öfteren kam sie erst spät in ihre kleine Wohnung, die in der Nähe der Spree gelegen war.

Eines Tages, als sie wieder auf dem Bahnsteig am Ostkreuz stand, es war spät geworden, sah sie einen Mann stehen, dessen schwarzes Haar ihr auffiel. Sie musste einen Moment nachdenken, der Atem stockte ihr, es war Karl. Auch er sah in ihre Richtung und sein Gesicht war starr vor Staunen

Beide kamen aufeinander zu und begrüßten sich. "Du fährst wieder in deine Firma in die gleiche Richtung? Welcher Zufall. Dein Studium wirst du abgeschlossen haben, oder?", sagte Ulrike.

Karls Gesicht war freundlich geworden, doch seine Zurückhaltung nach dem Vorgefallenen war spürbar.

Er erzählte, dass er mit Bravour sein Studium abschloss, ein Jahr in Sachsen arbeitete und jetzt wieder in Berlin in der alten Firma zum Abteilungsleiter aufgestiegen war. Es machte ihm Freude, sagte er. Sie saßen noch lange in dem Restaurant, das abseits der Straße lag, es war wieder Herbst und bereits dunkel. Sie tranken ein Glas Wein und er sagte;

"Meinst du nicht auch, Ulrike, es ist doch gut, dass es das Ostkreuz gibt und wir uns da wieder begegnet sind?"

Von den Schnecken

 

Fabian Theurer
Von den Schnecken

 

Jonas Morgenstern, stolzer Besitzer von nicht weniger als drei attraktiven Schnecken, war heute Morgen gut gelaunt. Morgenstern war Programmierer und teilte sich mit seinen possierlichen Tierchen eine Altbauwohnung im südlichen Friedrichshain Berlins. Aufgelesen hatte er die Schönheiten an der Autobahnraststätte Hermsdorfer Kreuz und an noch zwei anderen Orten, an denen es ihnen ziemlich mies ergangen war oder zumindest alsbald ergangen wäre. Er, Jonas Morgenstern, gab ihnen Herz, Verstand und einen kleinen Platz, an dem sie sich sicher fühlen durften.

Obgleich die liebenswerten Geschöpfe voneinander wissen mussten, gab es weder Zwang noch Eifersucht unter ihnen.

Da war einmal die blonde Schnirkelschnecke mit dem grauen Teint, die das Basilikum so liebte. Des Weiteren die kohlenschwarze Baumschnecke mit dem braunmarmorierten Gehäuse, die ihre gesammelte Aufmerksamkeit stundenlang einem alten Kopfsalatstumpf widmen mochte. Und zu guter Letzt die Hainbänderschnecke, die eindeutig das Prädikat "anspruchsvoll" verdient hatte. Wäre sie doch bereit gewesen, für Apfelschalen und welke Petersilie ihr Leben zu geben.

Jede von den drei hatte ihren ganz eigenen, unverkennbaren Reiz und Charakter. Und doch war zugleich erst im intimen Durcheinander, im Kreuz und Quer und Nebeneinander, im Auf- und Abtasten, im Berührung Suchen und wieder Rückzug Antreten jener sanften Geschöpfe, Schönheit und Sinnlichkeit vollkommen zu begreifen.

Ein schöner Tag stand bevor! Es blieb dunkel und regnete in Strömen. Die Schnecken durften eine Brause auf dem Balkon nehmen. Jonas frühstückte unterdessen. Die Eierschalen und den Teesatz würde er später im Mörser zerstampfen und den Wirbellosen in ihr Terrarium legen. So saß er da und kaute, und die Schnecken nahmen gierig die kalten Regentropfen auf, fraßen, bildeten Schleim für künftige Spaziergänge. Jonas Morgenstern wälzte spärlich belegte Butterbrote im Mund und schwere Gedanken im Kopf. Es war wie jeden Morgen seit einem guten halben Jahr. Aber letzten Endes waren sie glücklich. Es fehlte ja an nichts. Oder doch? Jonas Morgenstern studierte seinen Geldbeutel. Es befanden sich zwei Euro und zweiunddreißig Cent darin, wobei sich die zweiunddreißig Cent aus vier Stücken zu fünf Cent, einem Stück zu zehn Cent und einem Stück zu zwei Cent zusammensetzten. Es würde nicht einmal ganz für Nummer 7, gebratener Eierreis mit Huhn, am ehemaligen Imbiss International reichen. Für höhere Investitionen sah es erst recht finster aus. Was andere Quellen anbetraf, so kannte er Sofaritze und Sparschwein von früheren Untersuchungen her bereits ähnlich in- und auswendig wie seine Westentasche. Es war da nichts mehr zu holen; also musste er nun doch zur Arbeit gehen. So ist das in einer Leistungsgesellschaft. Jeden Morgen das gleiche Theater. "Adieu, Schnecken!", rief er wie immer von der Wohnungstür. Die blonde Schnirkelschnecke wackelte heute recht artig mit den Fühlern dazu. Die Baumschnecke hatte sich zurückgezogen. Und die Hainbänderschnecke fraß welke Petersilie.

Jonas Morgenstern war Programmierer von Beruf, aber nicht aus Berufung. Seine Arbeit machte ihm überhaupt keinen Spaß. Er hatte sich auf maßgeschneiderte Softwarelösungen für mittlere und große Betriebe spezialisieren müssen; seine Aufgabe bestand zumeist darin, eine Software zur Ermittlung des Einsparpotenzials beim Personal zu erstellen. Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen konnte er aber nicht gut schummeln.

Die einzige Ausnahme war die Angelegenheit mit dem Millenium-Bug gewesen, an der er gut verdient hatte. Damals, zum Wechsel vom Jahr 1999 auf das Jahr 2000, war es notwendig geworden, die Betriebssysteme von Millionen von Computern umzustellen. Denn die Programme hatten nur zwei Speicherstellen für die Jahreszahl erhalten, so dass nach 1999 wieder das Jahr 1900 anzubrechen drohte; klapprige Rentner wären zum Wehrdienst eingezogen worden, Fahrstühle wären stehen geblieben und Kernreaktoren geschmolzen. Auf einmal war seine Hilfe gebraucht worden. Aber hatten denn er und seine Kollegen schon 1987 oder 1991 vorhersehen können, dass irgendwann einmal mehr als zwei Speicherstellen für die Jahreszahl gebraucht würden? 2000, so Jonas Morgensterns Auffassung, das klang doch heute noch wie alberne Science-Fiction. Das Jahr 2000 durfte es nach dem gesunden Menschenverstand eigentlich gar nicht geben, von 2002 oder 2020 ganz zu schweigen.

Seine maßgeschneiderte Software zur Ermittlung des Einsparpotenzials beim Personal hingegen war immer sorgfältig und vorausschauend erstellt, so dass meist schon kurz nach Einführung des Programms seine Stelle gestrichen wurde. Auf diese Weise zog er von Betrieb zu Betrieb wie ein Landstreicher und nicht wenige Firmen kamen nach seinen Berechnungen zum Schluss, dass sie besser ganz ohne Personal auskamen. Häufig förderte diese Erkenntnis denkwürdige Szenen zutage. So etwa, als der Vorstandsvorsitzende einer Firma namens Paradeiser-Reisen seinen gesamten Personalstab betriebsbedingt kündigte und die Hemdsärmel hochkrempelte, um selbst bei der Kartoffelernte anzupacken. Hatte er doch im Eifer des Gefechts vergessen, dass er höchstpersönlich Jahre zuvor den Konzern von einem rückständigen Landwirtschaftsbetrieb in ein innovatives Touristikunternehmen überführt hatte. An der alten Stelle war kein Kartoffelacker mehr, sondern nur noch englischer Rasen mit einem Pförtnerhäuschen davor! Wie konnte man nur so vergesslich sein. Völlig verwirrt, ließ er sich abfinden und nach Mallorca ausfliegen.

Ganz allgemein schien Morgenstern vom Schicksal dazu verdammt, immer wieder von desorientierten, ignoranten und sinnestauben Menschen umgeben zu werden. In welchem Gegensatz standen sie zu den wundervollen, gefärbten Schnecken, die ihre Umwelt mit vier Fühlern aufzunehmen vermochten und über die einfachsten Dinge auf Erden die größte Freude und Dankbarkeit empfanden! Auf das gesellige Beisammensein mit seinen gehäusetragenden Haustieren freute er sich deshalb Tag für Tag nach Feierabend.

Jonas hatte auch versucht, mit den Schnecken über jenen betrüblichen betrieblichen Vorfall zu sprechen. Aber es war zu schwer gewesen, ihnen überhaupt zu vermitteln, was eigentlich vorgefallen war.

In letzter Zeit ertappte er sich nach der Arbeit des Öfteren dabei, junge Frauen in der S-Bahn anzulächeln. Manchmal erwiderten sie das Lächeln – davon aufgerüttelt, hielt Jonas es dann für einen Irrtum oder ein schweres Vergehen seinerseits. Er überlegte fieberhaft, ob sein Verhalten durch das Grundgesetz in seiner derzeit gültigen Form gedeckt war, oder ob er ähnliches wenigstens schon einmal in der Fernsehwerbung beobachtet hätte. Einfach so fremde Mädchen anzusehen, ohne Auto, Bausparvertrag oder zumindest die längste Praline der Welt. Ihm fiel nichts ein. Er errötete dann und sah rasch zur Seite. Von diesen Abgründen mussten die Schnecken aber nichts wissen.

Abends war er allemal wieder der treu sorgende Familienvater für seinen langäugigen Harem. Es war gut, dass sie eigentlich erst richtig wach wurden, wenn er nach Hause kam.

Tagsüber schlafen die Schnecken doch.

So ging es lange Zeit. Morgenstern und die Außenwelt blieben sich fremd. Jedoch verändert sich auch das Leben eines Programmierers zuweilen so unvorhersehbar wie ein Absturz von Windows eintritt! Bei Morgenstern geschah es auf folgende Weise: Die letzten Meter nach Hause legte er immer mit dem Fahrrad zurück, damit er nicht auf den Bus angewiesen war. Dazu musste er sich vom Bahnsteig zu einer Abstellanlage begeben. Diese lag neben der Bushaltestelle und gegenüber eines großen schwarzen Wasserturms. Jonas machte sich also wie immer gemütlich auf den Weg, ohne sonderlich auf die anderen Menschen in seiner Nähe zu achten. Als er jedoch gerade das Bügelschloss von seinem Rad entfernt hatte, schrak er von einem sonderbaren Geräusch auf. Zuerst glaubte Jonas, ein Rülpsen oder ein lautes Rascheln von Blättern vernommen zu haben. Dann aber hörte er ganz deutlich ein Räuspern und Hüsteln, das zwischen den glasierten Ziegeln des alten Turms hervorzubrechen schien. "Bonjour!", sagte Jonas unwillkürlich. "Bonjour!", krachte der Wasserturm, "ich fühle mich ganz und gar nutzlos. 1912 erbaut, habe ich einige Jahrzehnte lang als Wasserturm gedient. Seither heiße ich nur noch so und stehe in der Landschaft." Da konnte Jonas seine Bewunderung nicht mehr verhalten und rief aus: "Welch ein imposantes Bauwerk Sie sind!" – "Nicht wahr?", erwiderte der Wasserturm, "an Gestalt und Wuchs bin ich noch am ehesten mit dem Ischtar-Tor aus Babylon zu vergleichen, das sich jetzt im Pergamon-Museum befindet." Jonas erriet wohl, dass der Wasserturm nicht sehr bescheiden war. Aber er war so rührend! – "Wenn Sie jetzt die Güte hätten, mich zu huldigen …", fuhr der alte Turm fort. – "Natürlich", erwiderte Jonas verwirrt und vollzog mit ausgestreckten Armen mehrere Verbeugungen in Richtung des Turms. Dann wollte er aber doch nach Hause, und die Leute an der Bushaltestelle starrten inzwischen auch schon ganz ängstlich in verschiedene Richtungen. Offensichtlich hatten sie den Wasserturm nicht gehört und hielten darum ihn, Jonas Morgenstern, für einen ausgemacht komischen Vogel.

"Halt! Bleiben Sie stehen!", rief jemand hinter ihm her. Der Wasserturm konnte es nicht gewesen sein, denn der hatte eine tiefere Stimme.

"Was ist denn nun schon wieder?", rief Jonas Morgenstern verstört, und griff in beide Bremsen, dass es quietschte. Als er sich umwandte, erkannte er eine Rollstuhlfahrerin. Sie lächelte verlegen, winkte kurz, und bemühte sich dann, zu ihm aufzuholen. "Haben Sie gerade mit dem Wasserturm gesprochen?", fragte die Frau etwas außer Atem. Jonas zuckte gleichgültig mit den Schultern. "Ja, na und? Sie kennen doch diese greisen Bauwerke. Sie nehmen sich furchtbar wichtig und sprechen wildfremde Personen auf der Straße an, um ihnen ihre Lebensgeschichte aufzuzwingen." Die Frau schien zu überlegen. "Das ergibt Sinn", stellte sie dann mit einem feinen Lächeln fest. Sie überlegte nun nicht mehr, schien aber auf eine bestimmte Reaktion von Jonas zu warten. Der rang nach passenden Worten. "Sind Sie wirklich behindert?", sagte er schließlich monoton. Die strahlende Erwartung im Gesicht der Rollstuhlfahrerin wich großer Enttäuschung. Und so schob er eilig nach: "Ich meine natürlich, Sie sehen kein bisschen behindert aus." Die Frau bemerkte wohl, dass Jonas Morgenstern kein sonderlich begabter Romantiker war, aber sie fand ihn so süß! "Ich heiße Monika. Monika Schubert", erklärte sie. "Und ich Jonas. Jonas Morgenstern", bestätigte Jonas.

Er lud Monika auf eine Tasse Tee zu sich nach Hause ein.

Es stellte sich heraus, dass Jonas keinen Aufzug im Haus hatte. Bis dahin hatte er das nie als Hindernis erkannt; jedoch konnte Monika mit seiner Unterstützung am Treppengeländer entlang laufen. So umschlungen, sahen sie schon wie ein frisch verliebtes Paar aus – aber so schnell ging es denn doch nicht! Vielleicht erröteten deshalb alle beide, als ihnen im Treppenhaus ein Mann mit Wollmütze entgegenkam und "Siebzehn Jahr, blondes Haar" vor sich her trällerte…

In der Wohnung sah Monika sich neugierig um, indem sie den Rollstuhl mit erstaunlicher Wendigkeit mal hier, mal dorthin wandte. "Warum bewahrst du denn den Salat in einem Aquarium auf?", fragte sie schließlich. "Das ist kein Aquarium", antwortete Jonas nachsichtig, "sondern ein Terrarium. Und der Salat gehört den Schnecken, die darin wohnen". Das sah Monika ein. Sie fand die Schnecken sogar richtig süß. Und so kamen sie allmählich ins Gespräch. Langsam, aber unaufhaltsam. So wie die Schnecken sich fortbewegen.

So hatten sie sich schon für Stunden unterhalten, als Jonas auf einmal wieder einfiel, dass Monika im Rollstuhl saß. Natürlich wollte er wissen, wie es passiert sei. Und Monika berichtete, dass sie bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt worden sei. Sie war als Kind etwas unvorsichtig mit dem Fahrrad in eine Spielstraße eingefahren. Ein Autofahrer hatte sie erfasst und war dann vom Unfallort geflüchtet – der Täter konnte nie festgestellt werden. Jonas machte ein betroffenes Gesicht. Aber Monika sagte: "Es ist nicht so schlimm für mich."

Und sie fügte hinzu: "Nur leider sitzt mein Vater deswegen im Gefängnis. Er hat damals in seiner Verzweiflung den nächsten rücksichtslosen Autofahrer, der ihm begegnet ist, verprügelt und dabei schwer verletzt. Er tut mir sehr leid." Jonas zog es vor, zu schweigen. Vielleicht konnte er ihrem Vater bei Gelegenheit einen Kuchen mit einer Feile darin backen. Vorläufig war er einfach nur froh, dass er Monika gefunden hatte.

Und er hoffte sehnsüchtig, dass sie ihn ebenso gerne mochte wie er sie.