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Kultur- und Nachbarschaftszentrum

rapoport-klAus diesem Anlass stellen wir das Buch „Meine ersten drei Leben" von Ingeborg Rappaport vor. ". Sie berichtet über 100 Jahre deutsche Geschichte, die sie in allen Facetten erlebt hat.

Prof. Dr. Ingeborg Rapoport,„die Mutter der Neonatologie der DDR"

So wurde Ingeborg Rapoport von ihren Studenten liebevoll genannt. Das war in den siebziger Jahren in einem Land, das DDR hieß. Dort leitete sie die von ihr aufgebaute Abteilung für Neugeborene an der Berliner Charité. Bis dahin aber war es ein weiter Weg.

In einem ganz anderen Land, in Kamerun, damals deutsche Kolonie, wurde sie am 2. September 1912 geboren. „Unbändig und trotzig" war das Wesen der Tochter aus gutbürgerlichen Verhältnissen, Familie Syllm stammte ursprünglich aus Holland und gehörte in den vergangenen Jahrhunderten zu den angesehensten Familien der Stadt Hamburg. Dem alten Patriziernamen ist es womöglich zu verdanken, dass Ingeborg Syllm in die „vornehme Heilwig- Schule" aufgenommen wurde, deren Schülerinnen in teuren Clubs Tennis spielten und auf eigenen Pferden ritten. Für derartige Betätigungen fehlten der Familie nach der Inflation die finanziellen Mittel. Ein „Gefühl des Nicht-völlig- Dazugehörens", dessen eine Ursache auch ihre halbjüdische Herkunft war, prägte sich früh aus.

Den Wunsch Ärztin zu werden hatte Ingeborg schon seit sie denken konnte, Puppen und Teddybär waren ihre ersten Patienten, sie waren arm und auf der Flucht vor dem Krieg, dem ersten Weltkrieg. Seit dem dreizehnten Lebensjahr gab sie Nachhilfestunden für Kinder „begüteter Familien", das verdiente Geld sparte sie bereits für ihr Medizinstudium. Eine Lehrerin, die davon erfuhr, bot ihr ein Stipendium an, das sie bis zum Staatsexamen zahlte. Ohne diese private Unterstützung hätte Ingeborg Syllm in „Hitler-Deutschland nicht zu Ende studieren können, an Jüdischstämmige wurden keine Leistungsstipendien mehr gegeben."

Im Frühjahr 1932 begann Ingeborg Syllm mit dem Medizinstudium, begeisterte sich für Vorlesungen in Pflanzenphysiologie „und für das Physikpraktikum, aus dem Mädchen in der Regel systematisch herausgeprüft wurden. Überhaupt war die Einstellung des Lehrkörpers Medizinstudentinnen gegenüber noch sehr restriktiv. Auch in den Krankenhäusern mussten die Praktikantinnen mit den Schwestern essen, die männlichen Praktikanten jedoch aßen im Ärzte-Kasino."(S. 82) Das Physikum bestand sie mit „sehr gut".

Als die Nazis am 30.1.1932 an die Macht kamen „wurde alles anders", die Studentin durfte nicht mehr in die Mensa und bekam eine gelbe Studentenkarte. Sie musste mit ansehen, wie angesehene Hochschullehrer und Professoren, denen noch vor wenigen Monaten von ihren Studenten großer Respekt entgegen gebracht wurde, gedemütigt und verunglimpft wurden und schließlich daran zerbrachen. So ließ sich dann auch bald der gesamte Lehrkörper von der „nationalistischen Seuche" anstecken. Eine Sonderstellung nahm der Professor für Pädiatrie ein, bei ihm machte Ingeborg Syllm ihr Staatsexamen. Nach der Befreiung versuchte dieser Professor den Lehrkörper von den „schlimmsten Nazi-Elementen zu reinigen", ohne Erfolg, daraufhin verließ er die Universität und ging in die USA. Als sich Ingeborg Syllm bei ihm um ein Promotionsthema bewarb, hatte sie sich noch nicht für das Fachgebiet der Kinderheilkunde entschieden. Scharlach, Keuschhusten und besonders Diphtherie waren die Schrecken der Kinderheilkunde, denen das größte Forschungsinteresse galt. Ingeborg Sylmm formulierte selbst ihr Promotionsthema, das sich mit einer speziellen Fragestellung zur Ursachenerforschung der Diphtherie befasste. Sie führte ihre ersten eigenen Versuche durch und tat dabei den ersten Schritt auf dem für sie immer wichtiger werdenden Gebiet der Forschung. Obwohl der Professor die Doktorarbeit anerkannte und sich sehr für die Verteidigung einsetzte, war es nicht möglich, dass Ingeborg Syllm als „Mischling ersten Grades" doktorierte.

Im September 1938 verlässt Ingeborg Syllm auf Anraten von Kollegen und Freunden schweren Herzens ihre Familie und ihre Heimat Deutschland.

In New York wurde sie von Verwandten erwartet und unterstützt und konnte schon nach zehn Tagen ihren ersten Aushilfs-„Job" in einem „Women´s Hospital" antreten. Für eine berufliche Weiterentwicklung war jedoch der Titel eines „medical doctors" erforderlich, den sich Ingeborg Syllm in dem andersartigen Ausbildungssystem erkämpfen musste „und hatte wieder das bekannte, fatale Gefühl des Nichtdazugehörens, des Außenseiters." (S.111)

Am Baltimore General Hospital schwankte Ingeborg Syllm noch immer zwischen vier Fächern, zwischen Innerer Medizin, Pädiatrie, Neurologie und Augenheilkunde und entscheidet sich dann endgültig für die Kinderheilkunde. Mit dem Eintritt ins Harriet Lane Hospital begann ein neuer Abschnitt der medizinischen Ausbildung, hier öffnete sich eine wissenschaftliche Atmosphäre, hier arbeitete „die Spitze der US-Pädiatrie". Auch die politische Bildung wurde für Ingeborg Syllm in den USA wichtig, sie „solidarisierte sich mit den Schwarzen", erschrak über die Armut „inmitten des reichsten Staates der Welt", erkannte, dass „gleiche Lebens- und Entwicklungsmöglichkeiten für alle Menschen auf dieser Welt nicht von Religionen oder ethischen und karitativen Bewegungen" gesichert werden können und näherte sich innerlich der Kommunistischen Partei.

Im Jahr 1944 begann in Cincinatti die letzte Station der Ausbildung, im Children´s Hospital and Research Foundation erlebte Ingeborg Syllm „eine zweite Periode des Rausches einer wissenschaftlichen, forschungsorientierten Medizin". Und lernt Sam (Mitja) Rapoport kennen, einen leidenschaftlichen Biochemiker und Mitglied der Kommunistischen Partei. Die beiden heiraten im August 1946, im darauffolgenden Jahr wird ihr erster Sohn geboren. Ingeborg Rapoport hatte eine neue Heimat gefunden, sie liebte die USA, „die Vielfältigkeit der Landschaften und der Bevölkerung, die Ideen von Toleranz und Freiheit des ursprünglichen und eigentlichen Amerika." (S.161) In der McCarthy-Ära ging auch diese Heimat verloren, die Rapoports verließen 1950 den amerikanischen Kontinent und kehrten nach Europa zurück. Wieder lag eine ungewisse Zukunft vor ihr und ihrer Familie, Ingeborg Rapoport erwartete ihr viertes Kind. Weder in Wien noch in London oder Paris ließen sich Arbeitsmöglichkeiten finden. Im Herbst 1951 bekam Sam Rapoport durch Vermittlung der österreichischen kommunistischen Partei das Angebot einer wissenschaftlichen Position in der DDR. Trotz großer Vorbehalte gegenüber Deutschland, entschieden sich die Rapoports das Angebot anzunehmen. Die DDR war ein antifaschistisches, demokratisches Deutschland, diese Erwägung bestimmte ihre Entscheidung.

Das dritte Leben der Ingeborg Rapoport begann im Februar 1952 auf dem Bahnhof Friedrichstraße in Berlin. Noch im gleichen Jahr bewarb sie sich am Hufeland-Krankenhaus in Berlin-Buch und arbeitete in der Kinderabteilung. Hier fand sie ganz andere Verhältnisse als in den USA vor: „Andere Medikamente, andere Firmennamen, wieder zurück in ein metrisches System der Dosierungen, neuartige amtliche Bestimmungen, ein anders strukturiertes Gesundheitswesen". (S.270) Das freundschaftliche Kollektiv von Ärzten und Schwestern machten ihr den Wiedereinstieg leicht. Trotzdem verspürte sie Lust etwas Neues, Schöpferisches in Angriff zu nehmen, sie war 41 Jahre alt, als sie beschloss, die reguläre Laufbahn des Arztes zu verlassen und sich in eine Labortätigkeit zu stürzen. Der einzige Weg zum Labor führte über die Aspirantur zur Erlangung der Habilitation am Lehrstuhl für Kinderheilkunde der Humboldt-Universität, so wurde sie Angehörige der Charité und blieb es bis zu ihrer Emeritierung am 31.August 1973. Ingeborg Rapoport war Oberärztin an der Kinderklinik der Charité, betreute die Säuglings- und Frügeborenenstationen, hielt Vorlesungen und Seminare, leitete Diplomanden, Doktoranden und Habilitanden an, vertrat den Leiter der Klinik und forschte für die Zukunft. Aber auch die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen besonders der Frauen lagen Ingeborg Rapoport am Herzen, so setzte sie sich z.B. für die gesellschaftliche Anerkennung der Arbeit der Krankenschestern und für die Erhöhung ihrer Gehälter ein.

„Vieles war gut, manches nicht gut genug, anderes inakzeptabel."

Obwohl sich Ingeborg Rapoport in der DDR dazugehörig fühlt, ein Gefühl, das sie oft vermissen musste, setzt sie sich kritisch mit dem real existierenden Sozialismus auseinander. „Plane mit, arbeite mit, regiere mit" war die Devise der Arbeiter-und Bauernmacht. Was ist aus dieser Forderung geworden? Als Mitglied der SED stellt sie sich die Frage, was falsch gemacht wurde, welche Fehler sie selbst gemacht hat und „warum der Sozialismus im Wettlauf mit dem Kapitalismus um die bessere Gesellschaftsordnung am Ende unseres Jahrhunderts in Europa unterlag."(S.402)

„Ich habe mein ganzes politisches Leben hindurch- vielleicht auch schon, als ich noch „unpolitisch", christlich war- die Welt durch die Brille eines Arztes gesehen, dem Armut, Elend und Krankheit die Hauptfeinde sind. So bin ich zum Kommunismus gekommen, und so habe ich das Glück gehabt, in der DDR ein Gesundheits- und Sozialwesen zu erleben, das ein großartiges Rahmenwerk schuf, eine soziale und gesundheitliche Vorsorge und Betreuung der Bevölkerung, wie ich sie nie gesehen hatte"(S.402) schreibt Ingeborg Rapoport in Ihrem im Jahr 1997 erschienenen Buch „Meine ersten drei Leben".

„Die offensichtliche Gleichsetzung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR mit der Gestapo des Hitlerfaschismus ist eine solche Ungeheuerlichkeit, dass ich mich frage, ob die Deutschen bis heute nicht begriffen haben, was damals als Staatsmaxime verkündet wurde und in millionenfacher systematischer Durchführung geschah: die physische Vernichtung von „rassisch, politisch und genetisch minderwertigen", mißliebigen Menschen! Als öffentlich erklärte, propagandistisch verbreitete Staatsmaxime und mit der Gründlichkeit und Präzision einer Mord- und Sterilisationsmaschinerie ausgeführt! (S.212)

Die erste Auflage ist bei edition ost, Berlin , die zweite Auflage bei

NORA Verlagsgemeinschaft Dyck & Westerheide im Jahr 2002 erschienen.