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Die Sirenen vom Ostkreuz

Eine Anthologie

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Die Sirenen vom Ostkreuz

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Herbert-Friedrich Witzel - Bunter Morgen in Berlin

 

Herbert-Friedrich Witzel
Bunter Morgen in Berlin

 

Lolas Lockbräute vom Kreuz des Ostens
trällern ein Ständchen in Ulys Ohr:
"Auf jedem Schiff, ob's dampft, ob's segelt,
ist einer, der die Putzfrau vögelt!"

So klang das. Es war einmal.
Alle andern außer ihm saßen da
mit Wachs im Gehör und
Wowis Hartz-4-Vagina vor der Nase
zum Furze uffriechen. Sie riefen:
"Dies ist ein Ruderboot,
hier wird nicht gesegelt!"

"Bindet mich los, Ihr Kanaillen!"
brüllte Ulüsses;
"Ihr Dummbärte, ich
bin gar nicht geil auf Weiberfleisch, ach was!
Ich will doch nur Messungen machen
fürs Statistische Bundesamt!"

Doch so isses, Ulisses:
Alle sind am Rudern und Rudern
für die 4-Viertel-Mehrheit aus
Bankenviertel Medienviertel Brüsseler
Beamtenviertel Berliner Regierungsviertel.

Und sie rudern und rudern hin und weg
von Tempelhof zum BER und
sie flüstern sich zu
durchs Oropax vom Parlament:
"Lasst ihn nicht los, das Schwein
will fliegen."

Cornelia Wriedt - Ostkreuz-Sirenen

 

Cornelia Wriedt
Ostkreuz-Sirenen

 

Man muss sie nicht lange suchen. Vom Ostkreuz aus ist es gar nicht weit zu ihnen. Man braucht nur eine Zeitlang geradeaus zu gehen, dann rechts - da findet man sie. Doch nicht am Tage, denn im Hellen, zwischen Autoschlangen und Touristenströmen zeigen sich solche Vögel der Nacht nicht. Erst im Dunkel fliegen diese Wesen herbei und bleiben, die ganze Nacht über.

Verlässlich ist es vor allem, das heidnische Völkchen. Preußisch pünktlich erscheinen die Sirenen, sommers wie winters, alltäglich, und passen sich dezent dem Arbeitnehmerdasein guter Christen an, denn Freitag- und Samstagnacht sind sie länger da. Ihr Haus lockt merkwürdig an, herausgeputzt wie es ist, mit seinen gelben Baldachinen über den Fenstern, mit roten Jalousien und Lichterketten, mit den Riesenbuchstaben in Weiß auf blauem Grund. Schwaden steigen von hier aus auf, von Parfüm, Rauch, Schweiß, Alkohol. Und eine Musik, deren Bässe heftig wummern, die lauter, mänadenhafter wird, desto mehr sich die Nacht mit Stille umhüllen will. Wenn ringsherum alles schläft, wenn der stets überfüllte Italiener ums Eck und die Napster-Bierbar nebenan längst geschlossen haben: Hier wird die Musik noch mal aufgedreht. Odysseus' Gefährten half es angeblich, sich Wachs in die Ohren zu gießen, heute gibt es gewiss kein Mittel mehr gegen diese Art der Verführung. Selten nur verlassen die Sirenen das kleine Inselreich. Und wenn doch eine auftaucht, dann stolziert sie als Königin der Nacktheit, Schokolade und eine Tüte Milch in der Hand, über die klebrige Bierlache des ortsansässigen Bettlers hinweg. Ein Inder beäugt sie, rückt am Turban und bewacht weiter sein Lokal. An Zulauf fehlt es nie. Wer die Gesichtskontrolle durch den Spion am riegelbewehrten Eingang besteht, kommt rein zu den Frauen, ob er nun bloß einen Leinenbeutel dabei hat oder Anzug trägt. Der Abenteurer Odysseus, ein antiquierter Held, der Sage nach stark und mannhaft, der widerstand dem eigenartigen Sirenen-Gesang. Helden des 21. Jahrhundert bestehen ihre eigenen Gefahren, beim Tabledance der modernen Sirenen scheinen sie sich davon zu erholen. Solche Zauber-Gesänge klingen weit. Sie verführen den pensionierten Dahlemer Juristen zu den wildesten Odysseen, weil der sich umwelt- und gesundheitsbewusst mit dem Fahrrad nach Friedrichshain durchschlägt und dafür seine altgewordene Penelope und die efeubewachsene Villa kurz im Stich lässt. Und Publicity hat die spitzige Insel im glattgespülten Meer der Klamottenläden und Szenefriseure sowieso genug. Der Berliner Kurier brachte längst eine Serie über die Orte der Berliner Sex-Industrie, danach zählten in Wowereits angeblich so armer deutscher Hauptstadt die Friedrichshainer Sirenen schon damals zu den gefragtesten, sie gehörten zu den ersten ihrer Zunft in Ostberlin nach 1989. Ohne Zweifel: Sie sind die Sirenen, denn sie waren überhaupt die ersten hier, noch ehe Touristen, Kneipenwirte und Kreative, Immobilienmakler und Schwaben, Studenten und Hausbesetzer den kiezigen F-Hainer Boxi erfanden und dazu beim Späti-Türken an Club Mate leckten und Veggieburger geil fanden. Die Puff-Portale der Netzwelt informieren heute schnell und breit über das "Deluxe"-Bordell, das früher als "Lord G." sein Rotlicht mit der Dekadenz des britischen Adels überzuckern wollte - und dass eine der Ladies im englischen Upperclass-Auto vorfährt, passt dazu. Etwas unterscheidet sie immerhin von ihren mythologischen Schwestern, sie bringen doch irgendwie Glückhaftes, obgleich als schnell vergängliche, schlüpfrige Illusion, die man für 80 Euro kauft. Glücklich auf Dauer werden andere, nämlich die Besitzer des Inselreichs. Die wechseln oft, denn der Job, wo man Freier, Weiber und Nachbarschaft in Schach hält, bringt schnelles Geld, das bald für ein hübsches Häuschen auf der Insel Hiddensee reicht.

Sie verschwinden frühmorgens. Als ob ihr ewiges Musikgedröhn den Tag herbeigehämmert hätte. Nach so einer Nachtschicht fliegt keiner mehr, die letzten Federn reißt das erste Licht weg. Sie schlurfen raus aus dem muffigen Lokal auf ihren Pumps, saugen an der nächsten Zigarette. Das Taxi langweilt sich mit knurrendem Motor, gerade hört der Ventilator auf zu scheppern. Manchmal werden die Kippen auch vor so einer Riesenkarre mit dunklen Scheiben fallengelassen. Autotüren knallen, mit quietschenden Bremsen und aufheulendem Motor rasen sie fort, hinein in die erwachenden Häuser. Letzter Laut der Ostkreuz-Sirenen.

Andrea Ingeborg Collins Modern - Siren Movement

 

Andrea Ingeborg Collins
Modern Siren Movement

 

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Wenn sie mich holen werde ich springen. You can never evict a movement. 02.09.2014, Flüchtlingswohnheim, Gürtelstraße, 07.09.2014
Wenn sie mich holen werde ich springen.
    You can never evict a
      movement.

 


 

Anhang

1: s.o.

2: 09.05.2014, Markgrafendamm

3: 27.08.2014 Markgrafendamm,
www.Stars in concert.de am 28.08.1014

4: 28.06.2014, Markgrafendamm

5: 06.07.2014, Markgrafendamm

6: 10.07.2014, Corinthstraße

7: s.o.

8: 12.05.2014, Markgrafendamm

9/9A: 06.07.2014 Markgrafendamm
www.mmb-berlin.de/presse/kinderstationen.html am 29.08.1914

10: 02.05.1924, Markgrafendamm

11: 27.08.2014, Markgrafendamm

12: s.o.

13: 27.08.2014, Corinthstraße

14: 27.08.2014, Corinthstraße

15: 27.08.2014, Markgrafendamm

16: 27.08.2014, Markgrafendamm

17: s.o.

18: 10.07.2014, Markgrafendamm

19: 22.05.2014, Modersohnstraße

20: 06.07.2014, Markgrafendamm

21: s.o.

22: 27.08.2017, Laskerstraße

23: 10.07.2014, Markgrafendamm

24: 27.08.2014, Markgrafendamm

25: 19.06.2014, Markgrafendamm

26: s.o.

27: 02.06.2014, Markgrafendamm

28: 27.08.2014, Markgrafendamm

29: s.o.

30: 27.08.2014, Markgrafendamm

31: 27.08.2014, Markgrafendamm

32: 27.08.2014, Markgrafendamm

33: 27.08.2014, Markgrafendamm

34: s.o.

35/35A: 27.08.2014, Markgrafendamm

36: 27.08.2014, Markgrafendamm;
www.am.fischzug.ziegert-immobilien.de am 29.08.2014

37: s.o.

38: 29.06.2014, Markgrafendamm

39.: s.o.

40/40A: Markgrafendamm, 29.06.2014

41/41A: Warschauer Str., Litfaßsäule, 07.09.2014

H. J. D. Kleinschmidt - Bombastische Erinnerungen

 

H. J. D. Kleinschmidt
Bombastische Erinnerungen

 

Genau SIE haben mich mit ihrem Gesang umgeworfen, was sage ich, sogar mein nüchternes Denken umnebelt. Sie haben die mir innewohnende Angstphobie ans Licht des Tages gezerrt. Das bedeutet die Zwangshandlung, beim Ertönen einer Sirene meine Schulmappe, in der sich wichtige Familiendokumente befanden, greifen zu wollen, um mich sofort in den Luftschutzkeller zu begeben.

So geschah es am Sonnabend, dem 20. Januar 1944, um neunzehn Uhr zum zigsten Mal. Unsere Eltern und acht Kinder, vom einem bis achtzehn Jahre. Außerdem Natascha, ein junges Mädchen aus der Ukraine, welches meiner Mutter als Haushaltshilfe zugeteilt war.

Wir hatten kaum unsere vorab festgelegten Plätze im Luftschutzkeller auf den Luftschutzbetten und den Sitzmöbeln eingenommen, als wir auch schon die Bombenexplosionen hören konnten. Ja, wir mussten leider feststellen, dass sich die schrecklichen Geräusche rasch näherten. Der Jüngste lag im Kinderwagen. Unsere Mama saß seitlich auf dem Luftschutzbett. Sie beugte sich über meine beiden jüngsten Schwestern und mich, streichelte uns abwechselnd und sprach beruhigend auf uns ein.

Plötzlich hörten wir ein markdurchdringendes, lang anhaltendes pfeifendes Geräusch. Dann für Sekundenbruchteile Totenstille, dann setzte das Inferno ein. Ein Knall von solch einer Lautstärke, wie ihn die Menschen im Keller noch nie zuvor gehört hatten. Gleichzeitig tobte eine ungeheure Druckwelle gegen die Rückseite des Hauses und ringsherum. Dann hörte man das Zerbersten der Fensterscheiben, außerdem Klappern und Knirschen von Dachziegeln und Gebälk. Im nächsten Moment polternde Geräusche von einstürzendem Mauerwerk, die Grundmauern bebten. Von der Kellerdecke fielen Mauerziegel und Putz herunter. Wir durchlitten die beängstigende Wahrnehmung, als würden uns von der durch das zerstörte Kellerfenster eindringenden Druckwelle die Organe, Herz und Lunge, zerquetscht und die Augen aus den Höhlen hervorgepresst. Es befiel uns eine bisher nicht gekannte Todesangst. Die Kinder und Natascha beteten laut zum lieben Gott. Als unsere Mama sich einen Augenblick aus der über die Kinder gebeugten Haltung aufrichtete, hörten wir, wie die Scherben der zersplitterten Kellerfensterscheibe von ihrem Rücken herunter zu Boden fielen. Sie hatte ihren Körper als Schutzschild für die Kinder eingesetzt.

Unser Papa erkundigte sich nach unserem Befinden. Er wollte, da die elektrische Stromversorgung total ausgefallen war, die oberen Etagen inspizieren, obwohl die Entwarnungssirene noch kein Signal gegeben hatte. Als er die Tür zum Erdgeschoss öffnete bekam er ein Stück Mauerziegel an den Kopf, dabei holte er sich eine Beule und eine kleine Risswunde.

Er wurde sofort von Mama verarztet. Dann lief er hinauf in die obere Etage und sah dort die Bescherung: nach oben schauend sah er den Sternenhimmel. Die Zimmerdecke, der Dachboden, der Dachstuhl samt der Dachziegel waren zerfetzt von der Druckwelle und den Bombensplittern und in alle Winde verstreut. Die hintere Giebelwand war von der Druckwelle nach innen gedrückt, auf die Zwischendecke geworfen worden und hatte diese durchschlagen und mit allen Möbeln in das Zimmer darunter gestürzt. Welch ein Glück, dass die Kellerdecke diese riesige Last getragen hatte. Denn sonst wäre unser Luftschutzkeller auch der Sarg für elf Menschen geworden!

Es branne fast überall. Papa versuchte zu löschen. Eine schwierige Aufgabe, denn es handelte sich darum, dass die Brände von phosphorgefüllten Brandbomben ausgingen. Die Brände konnte man nicht mit Wasser löschen. Meine großen Schwestern und mein Bruder schleppten Sand aus dem Keller in die obere Etage zum Löschen. Dann sollten sie alle noch gebrauchsfähigen Gegenstände und Sachen in den Vorgarten hinaustragen. Wolfgang trug gerade einen Karton mit Sachen hinaus, als er wieder so ein schreckliches Pfeifen hörte. Er warf sich sofort flach auf den Boden. Der Pechvogel fiel mit dem Gesicht auf ein Büschel abgetrockneter Herbstastern und stieß sich einen Stiel davon in die Nase. Er wurde vor Schmerz fast ohnmächtig. Nachdem die Detonation der Luftmine zum Glück in weiterer Entfernung erfolgt war, rannte er in den Keller. Unsere Mama musste nun ihn verarzten. Der trockene Asternstiel war ihm durch das Nasenloch in die Nebenhöhle eingedrungen. Eine schmerzhafte Prozedur, diesen wieder herauszuziehen.

Endlich heulte die erwartete Entwarnungssirene. Unser Papa verteilte an Mama und die fünf Kleinen angefeuchtete Tücher und schickte sie zur Einquartierung in einen Luftschutzbunker. Als wir aus dem Keller auf die Straße kamen, erkannten wir den Zweck der Tücher. Es bot sich uns ein Schauspiel besonderer Art. Wie bei einem Großfeuerwerk war alles ringsum von den brennenden Häusern hell erleuchtet. Zusätzlich trieb der Wind einen Funkenregen durch die Straßen, der alle brennbaren Dinge entzündete. Die kleine Gruppe musste sich auf dem Weg ständig gegenseitig von den herabfallenden Funken befreien, um nicht selbst in Brand zu geraten. Papa, mein Bruder, meine Schwestern und Natascha versuchten weiter gegen das Feuer anzukämpfen und aus den Trümmern zu retten, was eben möglich war.

Dieses Ereignis bedeutete nun die Trennung der großen Familie. Mama mit sechs Kindern und Natascha gingen per Evakuierung nach Westpreußen. Papa und die beiden großen Mädchen blieben wegen der Arbeit und der Ausbildung in Berlin. Sie bekamen eine Wohnung zur Untermiete.

Zum Zeitpunkt dieser erschreckenden Ereignisse war ich acht Jahre alt. In all den vergangenen Jahren litt ich unter den geschilderten Angstzuständen. Das bedeutet siebzig Jahre kriegsgeschädigt. Aber ich denke auch demütig an all die vielen Menschen, die infolge der ständigen Bombardements ihr Leben verloren haben.

Get Physical

 

Doris Lautenbach
Get Physical

 

Das Jahr nähert sich dem Ende.

Und damit auch wirklich keine Zweifel aufkommen, kauen die unsäglichen Jahresrückblicke noch mal schön alles durch, womit man so zurechtkommen musste. Silvester an sich ist ja völlig bedeutungslos. Und maßlos überschätzt, wenn man ihn fragt, was natürlich keiner tut.

Ein willkommener Anlass, Party zu machen, mehr nicht, aber dazu gibt es gewissermaßen eine Pflicht. Zeig, dass du noch Leben in dir hast. Gib dir kompromisslos die Kante und vor allem: Amüsier dich gefälligst. Denn das ist der einzige Ausweg.

Doch häufig sausen die Silvesterraketen eben nicht fröhlich Funken sprühend Richtung himmlische Gefilde, sondern fliegen müde Schleifen in Richtung blutergussfarbenes Firmament, bevor sie anschließend mit einem unerfreulichen Pfft! im nächstbesten Geäst hängenbleiben. Und weil das alle wissen, die Realität aber trotzdem bitte einen glamourösen Anstrich bekommen soll, wird kurzerhand zu diversen Hilfsmitteln gegriffen.

Alex ist jetzt 22 Jahre alt und mit dem Thema durch. An Alkohol hat er nie wirklich Gefallen gefunden, mal einen Cocktail vielleicht, aber nur auf Gin Basis, und dann und wann mal einen Pfeffi, auch ganz gut, aber Bier zum Beispiel hatte für ihn, abgesehen vom Wampen-Faktor, irgendwie diesen ekeligen Altherrentouch. Und wie sein Vater, der sich Abend für Abend mit seinen Hopfenkaltschalen, so nannte der das wirklich, vor der Glotze entspannte, wollte er nun ganz gewiss nicht werden.

Aber da natürlich das Schicksal auch Alex nicht nur glitzernden Sternenstaub ins Leben gepustet hat, gab es eine Zeit lang auch bei ihm das ganz dringende Bedürfnis, sich auszuklinken und ganz weit wegzuballern.

Am zuverlässigsten hatte das ja immer noch mit XTC funktioniert. Oder "X".
MDMA halt.

Alex schämt sich jetzt immer ein bisschen, wenn er an das superpeinliche Gequatsche von damals zurückdenkt.

"Es heißt, man stirbt am Tod. Aber das stimmt nicht. Man stirbt an Langeweile und Gleichgültigkeit."

Diese Weisheit stammt angeblich von einem gewissen Herrn Pop und ziemlich lange stimmte Alex da ganz mit Iggy überein.

Lästig war im Grunde nur, dass die Pillen auf Dauer Langeweile und Gleichgültigkeit eben nicht mehr vertrieben, sondern sich diese Gefühle binnen kürzester Zeit vertausendfachten.

Im Gepäck trugen sie, die Gefühle, außerdem einen hübschen Haufen neuer, bis dato unbekannter Ängste. Und die gab es dann noch gratis obendrauf.
Die Spaßdroge, die keinen Spaß versteht. Haha.

Im Übrigen nervte Alex auch gewaltig, dass plötzlich Hinz und Kunz Drogen zu nehmen schienen.

In Berlin ja sowieso. Aber anscheinend wollten sich alle wild, gefährlich und individuell fühlen und so wurde die Stimmung eben auch auf Feuerwehr- und Maibaumfesten in der Provinz entsprechend befeuert.

"Meide alles, was der Masse gefällt."

Das war Alex' Lebensmotto. Unbewusst wohl seit frühester Kindheit und höchstwahrscheinlich hat ihm diese Einstellung später auch den Arsch gerettet.

Wurde sowieso Zeit, andere Wege zu beschreiten. Lange genug schon balancierte er schließlich hochkonzentriert und auf Zehnspitzen durch sein sogenanntes Leben, das sich die meiste Zeit für ihn eher wie ein Minenfeld anfühlte.

So richtig glücklich war er wohl nur bis zu seinem dritten Lebensjahr. Also, was heißt schon glücklich, aber doch, irgendwie schon.

Jedenfalls konnte er sich als Kind stundenlang alleine beschäftigten. Er saß auf dem grünen Teppich in seinem Kinderzimmer in der Laskerstraße und war sich selber genug. Er brauchte einfach niemanden.

Endlos hörte er die immer gleichen Kassetten und erfand Abenteuergeschichten für sich, seine Phantasiegefährten und für seinen heißgeliebten Stoffhund Schoko.

In dieser Phase seines Lebens mochte er noch die ganze Welt.

Und dann zack! kam erst der Kindergarten, wo es noch so halbwegs funktionierte. Obwohl er auch dort schon am zweiten Tag nicht mehr hingehen wollte und sich deshalb beinahe die erste Ohrfeige von seinem Vater eingefangen hätte.

Er gewöhnte sich irgendwie an den neuen Tagesablauf. Eines Tages erschien dort eine junge Erzieherin, Maria hieß die. Sie war nett und lustig und knuddelte die Kinder ganz oft und brachte seiner Gruppe außerdem ein brandneues Singspiel bei:

"Die Feuerwehr, die Feuerwehr, die hat 'nen langen Schlauch"
(dazu musste man mit den Armen einen langen Schlauch zeigen)

"Der Hauptmann von der Feuerwehr, der hat 'nen dicken Bauch"
(mit den Händen einen dicken Bauch zeigen)

"Tatütata Tatütata tatütatatataaaaa"
(mit den Händen wie ein Blaulicht kreisen)

"Tatütata Tatütata tatütatataaaa"

Alex war Feuer und Flamme, er sang und spielte das Lied bei jeder Gelegenheit, was seine Eltern sich zu Hause natürlich nicht bieten ließen, und es nun auch tatsächlich Ohrfeigen hagelte.

Doch so richtig begann der Alptraum erst mit der Einschulung.

Den ganzen Sommer davor hatten seine Eltern ihm eingetrichtert: "Du hast so ein Glück, darfst in die Schule gehen. Unser großer Junge! Schau dir doch bloß mal den feinen Ranzen an! Ganz viele tolle Dinge wirst du dort lernen."

Die Schule wurde zum Drama.

Seine Lehrer runzelten die Stirn, bestellten die Eltern ein und schrieben ihm das Mitteilungsheft voll. Seine Mutter heulte, der Vater brüllte. Oder es war umgekehrt, sie schrie und er sagte nichts.

Beide so zu sehen machte ihn nur noch unglücklicher. Aber was sollte er tun? Was sollte er ihnen sagen? Immer wenn er den Mund aufmachte, wurde es noch schlimmer. Seinen Eltern fiel nichts anderes ein, als immer wieder nur: "Du musst mehr lernen! L-E-R-N-E-N!"

Er hätte ja gerne mehr gelernt. Dann hätten sich vielleicht auch seine Eltern wieder besser verstanden. Das Problem war nur, es gelang ihm nicht. Alles, was in der Schule vor sich ging, kam ihm vor wie chinesisch. Zum einen Ohr rein, zum anderen raus. Zu Hunderten von "Fachleuten" wurde er geschleppt: Augenärzte, Vertrauenslehrer, Logopäden, Experten.

Völlig sinnlos. Man hätte ihn nur einmal zu fragen brauchen. Die Wahrheit war simpel: Die ganze Schule interessierte ihn nicht. Nullkommanull.

Er war sechs Jahre alt und hatte schon alles satt.

Als dann irgendwann feststand, dass er die Klasse würde wiederholen müssen und seine Eltern sich jeden Tag nur noch anbrüllten, was, wie er damals glaubte, einzig und allein seinem kläglichen Versagen geschuldet war, retteten ihn schließlich die Großeltern.

Der unsägliche Kreislauf von Magenschmerzen und Schulangst sollte ein Ende haben.

Opa tauchte eines Abends kurz vor den Sommerferien bei ihnen auf, redete zwei Stunden mit den Eltern und drückte Alex zum Abschied lange an sich: "Die Sommerferien verbringst du bei Oma und mir in Caputh. Wir freuen uns schon ganz doll auf dich! Vorher haben wir beide aber noch einen Termin hier in Berlin".

Bei diesem wurde dann eine Hochbegabung festgestellt. Was auch immer das heißen mochte, Alex war es herzlich egal, denn er verbrachte im Anschluss die glücklichsten sechs Wochen seines Lebens in Brandenburg.

Jeder bekommt in seinem Leben Gelegenheiten, die er in Glück verwandeln kann. Die Kunst ist es, diese Gelegenheiten zu erkennen und zu nutzen.

Alex genoss jeden einzelnen Tag auf dem Reiterhof neben dem Haus seiner Großeltern. Er striegelte die Ponys, mistete aus, schleppte Strohballen und Säcke voller Hafer und durfte Reitstunden nehmen. Oma und Opa hatten nichts dagegen, im Gegenteil, sie ermutigten und spornten ihn an.

"Vor Tieren muss man sich nicht fürchten. Dann schon eher vor den Menschen", war Großmutters Standardspruch.

Nach den Ferien wechselte er auf eine neue Schule, die auf seine Fähigkeiten ausgerichtet war. Seine Eltern beruhigten sich und Alex fühlte sich nicht mehr komplett fehl am Platz.

Das Wichtigste in seinem Leben waren jetzt ohnehin Pferde und Reiten. Seine Eltern erlaubten ihm, auch in Berlin weiterhin Unterricht zu nehmen.

Mittlerweile ist er mit der Schule fertig und hat vor einem halben Jahr die Ausbildung zum Reittherapeuten in den Reitsportanlagen am Olympiastadium begonnen.

Er liebt seine Arbeit mit diesen besonderen Kindern.

Einfühlungsvermögen, Geduld, Disziplin und Konzentration sind unbedingte Voraussetzungen für den Beruf. Kein Problem mehr für Alex. Er fühlt sich speziell den Kindern mit Down-Syndrom sehr nahe.

Deren Entwicklungsmöglichkeiten ja lange Zeit sträflich unterschätzt wurden.

Im Prinzip genau wie bei ihm.

Gemeinhin gelten Menschen mit Trisomie 21 als "eingeschränkt", dabei besitzen sie doch eine der wohl kostbarsten Gaben überhaupt: Sie sind nämlich zu grenzenloser Liebe fähig. Zu einer Liebe ohne Wenn und Aber.

Alex braucht sich ja beispielsweise den fünfjährigen Leo nur anzugucken.

Wie der Kleine selig seine Arme um den Hals der sanftmütigen Haflingerstute schlingt, glucksende Glückslaute von sich gibt und dabei sein Gesicht in die weiche Pferdemähne schmiegt. Und wie er kichert und strahlt, wenn ihm seine große Schwester Julia, die ihn häufig zu den Therapiestunden begleitet, von der Tribüne aus Kusshände in die Reithalle zuwirft.

Liebe pur ist das. Rein und unverfälscht, findet Alex.

Der ist übrigens ebenfalls hingerissen. Und zwar von der siebzehnjährigen Julia. Zum ersten Mal in seinem Leben ist er wirklich verliebt. Und sie glücklicherweise auch. Ganz langsam und behutsam lassen sie es angehen, mehr als Händchen halten, küssen und stundenlanges Reden war noch nicht.

Die erste gemeinsame Nacht werden sie Silvester verbringen.

Oh, wie anders war das noch bis vor einigen Jahren. Mit der Schule lief es zwar einigermaßen, Leere und Sinnlosigkeit hatten sich dennoch, trotz des Reitens, wieder in Alex' Leben geschlichen.

Das Gefühl, völlig unverstanden zu sein, beherrschte alles.

An seiner Zimmertür hing jetzt ein Schild mit der Aufschrift: Hier verblödet ein Genie.

Das erste Mal XTC hatte er in einem Club mit seinem damaligen Kumpel Maik genommen.

Alex war ein bisschen nervös gewesen. "Und wie ist das so? Kannst du mir sagen, wie es wirkt?"

Maik hatte gegrinst.

"Das Coole daran ist ja gerade, dass die Wirkung ungefähr so kalkulierbar ist wie 'n Kampfhund auf 'nem Kindergeburtstag. Nämlich eher gar nicht. Klar ist nur, es wird geil, versprochen."

Zuerst wirkte die Pille ziemlich stark und Alex wurde flau.

"Nicht dagegen ankämpfen, Alter", hatte Maik geraunt, "lass sie kommen".

Dann spürte Alex es.

Zuerst in den Armen, der Wirbelsäule, schließlich im ganzen Körper. Prickelnd. Aufschießend. Die Musik, die zuvor noch extrem genervt hatte, weil sie hektisch und abgehackt klang, drang jetzt von allen Seiten in ihn ein, schien förmlich durch seinen Körper zu rauschen. Elektro mit irgendwelchen Balkaneinflüssen, dazu Holzbläser. Oder so.

Wahnsinn. Er hatte das Gefühl, sein Gehör ruhte satt und zufrieden in seiner Muschel. Er sah das auch ganz genau vor sich.

Auf dem Weg zur Toilette, er wollte sich unbedingt im Spiegel betrachten, schien es ihm, als würde er nicht gehen, sondern in seiner eigenen mystischen Aura dahinschweben.

All diese bildschönen Menschen lächelten ihn an, sie sahen exakt aus, wie er sich fühlte. Das Zeug knallte jetzt rein, ihm flog die Schädeldecke weg, er schäumte über vor Energie und brillanten Einfällen.

"Auf XTC kannst du auch super Sex mit völlig Fremden haben. Ohne Drogen ist so was gar nicht möglich."

Hatte Maik ihm gesagt. Stimmte auch.

Alex konnte nahezu jedes Mädchen dazu bringen, mit ihm ins Bett zu gehen. Damals war es ausschließlich die Eroberung, die ihn reizte. An echter Hingabe oder Seelenverwandtschaft war er rein gar nicht interessiert.

Maik hatte er schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr gesehen, bis sie sich vor zwei Wochen zufällig über den Weg liefen.

Der verkauft jetzt Drogen im größeren Stil und dämmert ansonsten so vor sich hin.

Maik quatschte über Frauen, Funktion One Soundsysteme, über "neue herrlich verspulte Läden".

Alex unterdrückte ein Gähnen, hörte gar nicht richtig hin.

"Und du so? Läuft bei dir was? Gibst immer noch Mongos Reitunterricht?"

Alex hätte am liebsten zugeschlagen.

Maik sah völlig unverändert aus, von weitem noch ganz gut, beim Näherkommen entdeckte man dann aber sofort die fahle Haut, den flackernden Blick und die schlechten Zähne.

Silvester.
Alex' und Julias großer Tag.

Der Plan: Sie werden den Abend und die Nacht bei Julia und Leo zu Hause verbringen. Deren alleinerziehende Mutter wird bei ihrer Schwester feiern und dort auch übernachten.

Als Alex um neunzehn Uhr bei Hausers klingelt, ist er schweißgebadet.

Hätte er sich doch bloß nicht darauf eingelassen. Wieso hat er sich auch von diesem Scheiß Maik bequatschen lassen? Einen riesigen Beutel voller Zeug für ihn aufzubewahren, weil Maik irgendeinen Stress hat und die Ware zur Zeit nicht in seiner Wohnung lassen kann.

In knapp einer Stunde wird er sich kurz mit ihm am Annemirl-Bauer-Platz treffen, an der Kirschlorbeerhecke haben sie gesagt. Zur Übergabe.

Die Grünanlage liegt direkt bei Julia um die Ecke und nicht weit von der Wohnung von Alex' Eltern, komisch, dass sie jahrelang beinahe Nachbarn gewesen sind, ohne von einander zu wissen.

Jedenfalls wird Alex von Maik 300 Euro bekommen, fürs Aufpassen auf das Zeug, und davon wird er Julia zu einem Paris-Wochenende einladen. Paris. Dafür kann man schon mal einen kleinen Schweißausbruch in Kauf nehmen.

Und Maik wird heute Nacht das Geschäft seines Lebens machen. Glaubt er.

Puh. Die ganze Zeit, und vor allem eben in der U-Bahn, hat dieser verfickte Plastik- Beutel Alex beinahe in den Wahnsinn getrieben und ihm förmlich ein Loch in seine Jackentasche gebrannt. Aber ist ja nichts passiert, niemand hat ihn unterwegs verhaftet.

Die Mutter ist schon gegangen.
Leo, der bis eben auf dem Wohnzimmerboden mit Playmobil gespielt hat, stürzt Alex zur Begrüßung in die Arme.

Julia lächelt das spezielle Julia-Lächeln, ihr hübsches Gesicht ist jung und weich. Alles ist gut.

"Guck mal, Leo, habe ich alles für unsere Feier mitgebracht."
Alex wirft seine Jacke auf den Sessel und zieht Luftschlangen, ein Set zum Bleigießen sowie ein großes Kuchenpaket mit Pfannkuchen aus seinem Rucksack.

"Und hier. Raketen. Die feuern wir um Mitternacht ab. Weißt du, wieso man das macht, Leo? Damit sollen die bösen Geister vertrieben werden."

Er drückt den Jungen kurz an sich.

Julia zieht Alex in die Küche. Er soll ihr bei dem Nudelauflauf helfen, während sich der Kleine solange im Wohnzimmer mit den Luftschlangen beschäftigt.

Wenn hier jemand Geister vertreiben kann, dann du, denkt Alex, als er Julia von der Seite beim Käsereiben beobachtet. Meine Dämonen nämlich und die ganze beschissene Vergangenheit gleich mal mit.

Der Auflauf duftet im Ofen.
Julia sitzt auf seinem Schoß, sie lümmeln auf der Bank am Küchentisch und er schnuppert gerade an ihrem Haar, als es im Nebenzimmer plötzlich unheilvoll poltert.

Beide springen auf, Alex ist zuerst im Wohnzimmer.
Der kleine Leo krümmt sich auf dem Teppich. Seine Augen sind weit aufgerissen, Schaum läuft ihm aus dem Mund. Der geöffnete Plastikbeutel liegt auf dem Tisch.

Die bunten Pillen mit den unterschiedlichen Motiven liegen überall verstreut.

Das Sirenengeheul mischt sich unter das Silvestergeknalle und der Krankenwagen trifft fast gleichzeitig mit Maiks SMS ein:
Wo bleibst Du? Die Leute wollen Party machen :D

Christian Gajewski - Sie nannten ihn Paulchen

 

Christian Gajewski
Sie nannten ihn Paulchen
oder
Wie die Berliner Stadtbahn ihre Unschuld verlor

 

In unserer kleinen Geschichte geht es um die Zeit der 30er/40er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Für einige ist es die Zeit der Kindheit und Jugend, für andere wiederum ist es bereits graue Vorzeit.

Um die Vergangenheit etwas klarer vor Augen zu haben, begeben wir uns auf eine kleine Zeitreise und kommen an im Jahr 1939, wo am 17. August die Eröffnung des Bärenzwingers am Köllnischen Park stattfand.

Die ersten Bewohner hießen Jule, Lotte, Urs und Vreni.

Da hatte der Berliner mal was zu lachen, da kam Freude auf.

Doch die währte nicht lange, denn kurz darauf, am 1. September 1939, begann der 2. Weltkrieg mit dem Überfall auf Polen.

Bereits am 2. September wurde das Abhören von Feindsendern unter Strafe gestellt.

Zu der Zeit lebten in Berlin weit mehr als vier Millionen Menschen, davon rund 340 000 im Bezirk Friedrichshain, der von 1933 bis 1945 "Horst-Wessel-Stadt" hieß.

Der Bahnhof Ostkreuz war auch damals schon stark frequentiert.

Wo heute Neubauten stehen rund um die Sewanstraße, lagen damals, begrenzt durch die S-Bahnstrecke Richtung Erkner, endlose Laubenkolonien.

Zwischen den Bahnhöfen Ostkreuz und Karlshorst kam auch ein tüchtiger Reichsbahner zum Einsatz, der von seinen Kollegen und Vorgesetzten einfach nur Paulchen genannt wurde.

Ihn zog es wie viele aus der Provinz in die Reichshauptstadt.

1934 suchte der damals 22-jährige sein Glück dort beim Gleisbau.

Über die Stationen Schlesischer Bahnhof (heute Ostbahnhof) sowie Karlshorst kam er zum Rangierbahnhof Rummelsburg, wo er sogar zum Weichensteller ausgebildet wurde.

Wir schreiben mittlerweile das Jahr 1940.

Am 1. April dieses Jahres wurde in Deutschland erstmalig die Sommerzeit eingeführt.

In der Nacht vom 25. zum 26. August warfen britische Flugzeuge erstmals Bomben über Berlin ab. Betroffen waren Reinickendorf, Pankow, Malchow und Wartenberg.

Die so genannten Luftschutzkeller wurden im weiteren Kriegsverlauf mehr und mehr zum wichtigsten Zufluchtsort der Berliner Bevölkerung.

Auch die Bahn ergriff Maßnahmen zum Schutz vor nächtlichen Bombenangriffen. Eine davon war die Verdunklung der Züge und der Bahnhofsgebäude.

Auch die damit einhergehende Energieeinsparung wurde in den Folgejahren immer wichtiger.

Durch diese Maßnahme und die damit verbundene Sichtbehinderung kam es in der Folge zu immer mehr tödlichen Unfällen.

Mit diesen Gefahren mussten alle Berliner leben.

Die jüdische Bevölkerung Berlins litt zudem noch unter ganz anderen Repressalien.

Neben dem Verbot für jüdische Kinder, öffentliche Schulen zu besuchen, kamen ab 1940 Erlasse über den Einkauf von Lebensmitteln nur noch zwischen 16 und 17 Uhr, sowie der Kündigung aller Fernsprechanschlüsse bis zur Pflicht, einen gelben Stern auf der Kleidung zu tragen.

Den Höhepunkt dieser Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung bildeten die ab dem 18. Oktober 1941 durchgeführten Deportationen, denen auch die Familie Obermann aus der Bödiker Straße 9 zweiter Hinterhof zum Opfer fiel.

Der Kleine Simon lebte dort mit seinen Eltern. Die Mutter war Hausfrau und der Vater hatte einen kleinen Gemüsestand am Bahnhof Ostkreuz, zu dem er jeden Morgen mit einem hölzernen Handwagen zog.

Es hieß, sie würden umgesiedelt in Richtung Osten.

Als sie mit ihren paar Habseligkeiten das Haus verließen, standen alle anständigen Mieter aus der Nachbarschaft unten auf dem Hof und verabschiedeten sich von den Obermanns.

Es war ein Abschied für immer.

Nach dem Krieg wurde bekannt, dass man sie in Auschwitz ermordet hatte.

Von diesen Entwicklungen weitgehend unbeeindruckt, freute sich unser Paulchen auf das schöne Leben nach dem Endsieg.

Er fühlte sich wohl in seiner gemütlichen Wohnung in der Dorotheastraße in Karlshorst, von wo aus er es nicht weit hatte bis zu seiner Arbeitsstelle.

Im Winter ging er die Strecke zu Fuß, im Sommer fuhr er mit dem Fahrrad, so war er immer an der frischen Luft.

Aber auch nach getaner Arbeit wurden in Berlin, zumindest in den ersten Kriegsjahren, nicht die Bürgersteige hochgeklappt.

Es gab Tanzveranstaltungen, Konzerte und vor allem unzählige Kinos.

Neben Propagandafilmen wie Jud Süß gab es auch Kinofilme wie "Bel ami", "Die Geierwally" und "Quax der Bruchpilot".

Die Stars hießen Heinz Rühmann, Emil Jannings, Marianne Hoppe und Willy Fritsch, sie brachten den Berlinern für ein paar Stunden Ablenkung und Zerstreuung.

In der "Deutschen Wochenschau" wurden zu Anfang noch die Erfolge der Wehrmacht bejubelt, doch bald wendete sich das Blatt.

Viele Menschen spürten und ahnten, was kommen wird, andere glaubten noch an den Endsieg, als die Rote Armee auf den Straßen schon Suppe und Brot verteilte.

Der weitere Fortgang der Geschichte ist bekannt.

Wer den Krieg überlebt hat, fand sich in einer endlosen Trümmerwüste wieder. Es fehlte den Menschen an allem.

Die Versorgung mit Nahrungsmitteln blieb noch über Jahre hinaus eines der dringlichsten Probleme der Berliner.

Doch einer brauchte sich um all diese Dinge keine Sorgen mehr zu machen.

Einige werden es längst erraten haben: Es war unser Paulchen. Er fiel nicht etwa an der Front, er gehörte auch nicht zu den Spätheimkehrern, die erst 1955 wieder deutschen Boden betraten.

Er war auch nicht als vermisst gemeldet, wie so viele andere in dieser Zeit.

Doch was war geschehen?

Unser Paulchen wurde, soviel ist bekannt, am 25. Juli 1941 in Berlin-Plötzensee hingerichtet.

Doch warum?

Hörte er vielleicht Feindsender ab, war er Jude, Kommunist oder hat er als Widerstandskämpfer Flugblätter verteilt?

All das kann wohl entschieden verneint werden.

Paul Ogorzow verübte von August 1939 bis Juli 1941 8 Morde, 6 Mordversuche sowie 31 Sittlichkeitsverbrechen.

Seine Tarnung war perfekt. Er war Parteigenosse, Reichsbahner und SA- Mann.

Knappe 2 Jahre brauchte die Berliner Polizei zur Ergreifung des Berliner S-Bahn-Mörders.

Der Fall ist in der Berliner Kriminalgeschichte ohne Beispiel – und so soll es auch bleiben.

Barbara Bellmann - Schwarz und Weiß

 

Barbara Bellmann
Schwarz und Weiß

 

Sorgfältig legte sie die Kuchengabeln auf die roten Servietten, welche sie neben die weißen Teller drapiert hatte. Die Kaffeemaschine gab gurgelnde Geräusche von sich und der Duft von Kaffee machte sich breit. Die Nachmittagssonne schien in das in hellem Holz eingerichtete Wohnzimmer. Kein Staubkorn oder achtlos hingelegter Gegenstand störten die perfekte Ordnung. Gerlinde lächelte fröhlich und strich ihre weiße Bluse glatt. Ihr Ehemann war bei einem geschäftlichen Termin und bis sie ihre beiden Söhne vom Tennis abholen musste, blieben sicherlich noch zwei Stunden Zeit. Sie freute sich auf einen gemütlichen Kaffeeklatsch mit ihrer Freundin Birgit. Gewöhnlich fuhr diese mit dem Fahrrad aus Schöneberg bis zum Südkreuz, um dann mit der Ringbahn das Ostkreuz zu erreichen. Dann brauchte sie nur noch wenige Meter mit dem Rad zurücklegen, um bei ihr in der Hischberger Straße anzukommen. Den Kuchen kaufte Birgit immer bei dem gleichen Bäcker im Ostkreuz. So machten sie das seit Jahren. Beide hatten mit fünfundzwanzig Jahren ihre zukünftigen Ehemänner kennengelernt als sie zusammen im "Clärchens Ballhaus" tanzen waren. Eine perfekte Freundschaft und zwei wundervolle Ehen seit nun mehr über zehn Jahren. Birgit und Paul hatten keine Kinder, dies wunderte Gerlinde immer etwas. Aber über unangenehme Themen sprach sie nicht gerne, deswegen hatte sie auch nie nach dem Grund gefragt. Endlich klingelte es und Gerlinde öffnete in freudiger Erwartung die Tür. Doch schon bei der Begrüßung bemerkte Gerlinde, dass etwas nicht stimmte. Birgit war fahrig und aufgewühlt. Irritiert und ärgerlich über die Störung des Normalzustandes überging sie den Zustand ihrer Freundin. Doch schon kurz nach dem Hinsetzen brach es aus Birgit heraus. "Ich werde mich von meinem Ehemann Paul trennen. Ich habe mich in meinen Kollegen Dirk verliebt. Du kennst ihn. Wir werden es wagen neu anzufangen. Ich kann das alles nicht mehr!" Gerlinde stockte der Atem. Ihre perfekte Welt kam ins Wanken. "Das kannst Du nicht machen! Ich dulde das nicht! Was sollen die Leute denken!" Sie schrie Birgit geradezu ins Gesicht. "Bitte Gerlinde. So verstehe doch. Paul ist sowieso..." "Ich will, dass du sofort meine Wohnung verlässt. Du bist eine Ehebrecherin!", brüllte Gerlinde. Fluchtartig verließ Birgit die Wohnung. Die Tür schlug mit einem Krachen ins Schloss. Die plötzliche Stille in der Wohnung führte bei Gerlinde zu einer plötzlichen Unruhe. Diese ließ nicht nach. Sie zog sich ihre Jacke an und ein unbestimmtes Gefühl zog sie auf die Straße. Da hörte sie Sirenen. Sie kamen aus Richtung Ostkreuz. Das flaue Gefühl in ihrer Magengrube nahm zu. Sie rannte los und die Sirenen wurden immer lauter. Ihre Beine flogen über den Asphalt. Sie folgte dem Klang der Sirenen und schon bald sah sie Polizeifahrzeuge und einen Krankenwagen. Die Beamten machten betretene Gesichter. Eine Traube aus Schaulustigen hatte sich gebildet. Am Nachmittag war das Ostkreuz immer voll mit Pendlern und Heimkehrenden. "Die Arme, das Taxi hat sie voll erwischt. Sie hatte keine Chance, aber warum hat sie auch nicht rechts und links geschaut als sie von der Straße abgebogen ist zum Taxistand?", murmelte ein alter Mann. Gerlinde wurde schlecht. Sie bahnte sich den Weg durch die Menschenmenge. Die Sirenen dröhnten in ihren Ohren. Dann sah sie Birgit. Der Körper unnatürlich verdreht und eine große rote Pfütze hatte sich auf dem Boden gebildet. Die Augen blickten starr nach oben. Gerlinde schrie und verlor das Bewusstsein. Das Letzte, was sie hörte, waren die Sirenen und das Bremsen der Ringbahn, welche gerade das Ostkreuz erreichte. Die kommenden Tage vergingen wie in Zeitlupe. Gerlinde umfuhr das Ostkreuz. Auch auf dem Weg zu Birgits Beerdigung fuhren sie einen Umweg. Sie hoffte, dass Birgit Paul noch nichts von ihrer Affäre erzählt hatte. Nach der Trauerfeier trafen sie Paul. Hand in Hand stand er dort mit einem Mann. Auf Gerlindes fragenden Blick sagte Paul: "Das ist Tom, mein Freund. Wir sind seit fünf Jahren ein Paar. Gerlinde wusste davon und hat es akzeptiert, solange ich bei ihr bleibe und wir offiziell eine intakte Ehe führen. Ich verstehe nicht, warum meine sonst so kontrollierte Ehefrau an diesem Tag so unkonzentriert war!?" Gerlinde wurde wieder schlecht. Der Boden unter ihren Füßen fing gefährlich an zu schwanken. Sie hörte wieder die Sirenen vom Ostkreuz. Der Klang in ihren Ohren wurde noch stärker, als sie Dirk mit einer roten Rose mit einem fahlen, weißen Gesicht am Grab von Birgit stehen sah. Die Sirenen vom Ostkreuz hatten alles verändert. Ihre innersten Strukturen wurden aufgebrochen. Es gab nicht nur schwarz und weiß sondern auch eine Fülle von Graustufen. Der Klang der Sirenen wurde ein fester Bestandteil ihres ganzen Lebens. Nie wieder setzte sie einen Fuß auch nur in die Nähe des Ostkreuzes, denn seit diesem Augenblick war nichts mehr gewesen wie es war.

Sonja Meggers - Spielzeug-Feuerwehr

 

Sonja Meggers
Spielzeug-Feuerwehr

 

Die Sirene des kleinen Spielzeug-Feuerwehrautos lässt ihn hochschrecken.

"Papa, warum schläft der Mann denn auf der Bank?", hört er einen kleinen blonden Jungen fragen. Die Antwort des Vaters versteht er im Lärm der einfahrenden S-Bahn nicht. Und er hätte sie auch sicher nicht verstehen wollen.

Alexander setzt sich auf der Bank auf, die ihm in den letzten Nächten als Bett, Wohnzimmer und Küche gedient hatte und streicht sich beschämt seine alten Kleider glatt.

Blitzschnell katapultiert die kleine Sirene ihn zurück in eine Zeit, in der ihm nie in den Sinn gekommen wäre, dass das alles einmal so hätte kommen können.

Vor seinem inneren Auge erscheint das Weihnachtsfest 1979. Er war gerade fünf Jahre alt und hatte seine erste Spielzeug-Feuerwehr bekommen. Zutiefst beeindruckt von ihren akustischen Finessen ließ Alexander die Sirene wieder und wieder aufheulen. Irgendwann aber begann Mutter zu schreien. Er schien sie mit der Sirene so geärgert zu haben, dass sie mit Vater in Streit geriet. Sie schrien einander an und unter Tränen schwor er, die Sirene nicht mehr zu benutzen, doch es half nicht. Ab diesem Tag stritten sie ständig. Meist klang es, als würden sie wegen Kleinigkeiten streiten, aber jahrelang glaubte er, dass die Sirene seines Feuerwehrautos der Auslöser für all die schrecklichen Dinge war, die bis zur Scheidung seiner Eltern sechs Jahre später passierten.

Gemeinsam mit Vater blieb Alexander in dem kleinen Haus auf dem Land wohnen. Mutter zog zu ihrem neuen Lebensgefährten in die Stadt. Während Vater anfing zu trinken, brach der Kontakt zu Mutter fast vollkommen ab. Über Verwandte hörte er, dass sie noch ein Kind bekommen hätte. Das Mädchen sei hochbegabt und würde eine teure Privatschule besuchen.

Alexander blieb zweimal sitzen. Nicht, weil er dumm gewesen wäre, nein, das war es nicht. Eigentlich fiel ihm vieles sogar sehr leicht. Aber immer häufiger musste er sich um Vater kümmern. Mal stürzte dieser betrunken die Treppen hinunter, mal geriet er mitten am Tag in eine Schlägerei und musste vom Polizeirevier abgeholt werden. Um den Haushalt kümmerte Vater sich schon lange nicht mehr und auch die Rechnungen zahlte er nicht. Alexander musste sich um alles kümmern und war vermutlich der einzige in der Klasse, der mit 15 schon mit einem Gerichtsvollzieher gesprochen hatte.

Trotz allem schlug er sich durch. Schaffte mit Ach und Krach einen Schulabschluss und begann eine Lehre zum Tischler.

Mit dem Meister verstand er sich gut und seine Leistungen waren hervorragend. Immer noch wohnte er bei Vater und kümmerte sich aufopfernd um den immer hilfloser werdenden Mann.

In einem Stadium der zunehmenden Verwirrung tauchte Vater dann immer häufiger im Betrieb auf. Anfangs saß er nur da und schaute den Tischlern bei der Arbeit zu. Später aber begann er dann zu randalieren. Erst einmal, dann immer häufiger. Jeder Versuch, ihn nach Hause zu bringen, scheiterte, weil er schon nach kurzer Zeit wieder auf der Matte stand.

Alexander wunderte sich immer, dass Vater, der in der Wohnung nicht einmal mehr wusste, wo sein Morgenmantel war, immer wieder den Weg in den Betrieb fand.

Ein halbes Jahr vor der Gesellenprüfung zerschlug Vater dann in einem unerklärlichen Anfall von Wut den halben Betrieb und Alexander verlor seine Arbeit.

Es dauerte lange, bis er eine neue Lehrstelle fand. Der Meister in diesem Betrieb war ein herrschsüchtiger rotgesichtiger Kerl, der ihn endlose Überstunden schieben und nur die niedersten Arbeiten erledigen ließ. Alexander sagte Vater nie, wo er jetzt arbeitete und so schaffte er mit unermüdlichem Einsatz tatsächlich seine Gesellenprüfung. Sofort danach suchte er sich eine neue Stelle und lernte Susanna kennen. Nur ein Jahr später heirateten sie. Susanna war seine Traumfrau gewesen. Hübsch, klug und geduldig. Lange Zeit kümmerte sie sich hingebungsvoll um Vater. Dieser wurde zunehmend anstrengender. Zu all den alkoholbedingten Ausfällen kam letztlich auch noch eine akute Demenz. Egal wie sehr Alexander und Susanna sich bemühten, immer häufiger gerieten sie über Vater in Streit. Eine Zeit lang hatte er das Gefühl, dass ihre ganze Ehe sich nur noch um Vater drehen würde.

Als im Winter vor sechs Jahren sein Sohn geboren wurde, schöpfte Alexander Hoffnung, dass sich nun doch noch alles zum Guten wenden würde.

Da Vater eine Gefahr für das Neugeborene darstellte, entschieden sie, ihn in einem Pflegeheim unterzubringen. Sie hatten lange gesucht und waren mit ihrer Entscheidung letztlich sehr zufrieden.

Mit 35 Jahren hatte er kurzzeitig das Gefühl, all die Ereignisse der Vergangenheit hinter sich gelassen zu haben. Er hatte einen guten Arbeitsplatz, eine Frau, einen gesunden, klugen und aufmerksamen Sohn und auch Vater war gut untergebracht. Trotzdem schien etwas nicht zu stimmen. Immer und immer wieder geriet er mit Susanna aneinander. Es waren immer nur Kleinigkeiten. Weihnachten 2009 kam es dann zum großen Krach. Sein Sohn war genau fünf Jahre alt. Er hatte ein Feuerwehrauto bekommen. Eines mit einer echten Sirene.

L. Gelpke und T. Djmaudrinowicz - Ulli Zeetzens abenteuerliche Reise zum Ostkreuz

 

L. Gelpke und T. Djmaudrinowicz
Ulli Zeetzens abenteuerliche Reise zum Ostkreuz

 

Kapitel 1: Aufbruch

Es war einmal ein segelndes Restaurant-Schiff, das sollte in Berlin zu Füßen des Ostkreuzes, am Paul-und-Paula-Ufer der Rummelsburger Bucht, vor Anker gehen, an einer bereits zu DDR-Zeiten angelegten Pier, um dort einen Restaurant-Betrieb zu eröffnen und dann endlich die nach besonderen lokalen Spezereien dürstenden Berlinerinnen, Berliner und alle anderen Menschen in und um Berlin herum mit der gehobenen Kost der lokalen Fischküche erfreuen und laben zu dürfen. Allein, die verantwortlichen Berliner Verwaltungsbehörden, strotzend vor Stolz und ohne jeden Anflug von Demut über die ihnen obliegende Macht, verlangten den Nachweis der Schiffbarkeits- und Segel-Tauglichkeit der alten Hanse-Kogge, bevor diese die Genehmigung erhalten sollte, als "Restaurant-Segelschiff" und damit als neues Leuchtfeuer und Gourmet-Magnet der einfallsreichen Berliner Erlebnis-Gastronomie firmieren zu können.

Aus diesem Grund waren die Gourmet-Freunde angehalten, den Nachweis zu erbringen, dass die doch immerhin zweimastige "Gote Wind" unter eigenen Segeln innerhalb eines 13 Stunden offenen Zeitfensters von Friedrichshagen am Großen Müggelsee bis zum Paul-und-Paula-Ufer am Fuße des Ostkreuz-Wasserturms schippern möge – selbstverständlich unter strenger behördlicher Aufsicht. So begab es sich, dass am späten Nachmittag eines ottonischen Oktobers, kurz vor Aufgang des Vollmondes, der frühneuzeitliche Zweimaster — der Nachbau einer veritablen Hansekogge aus dem späten vierzehnten Jahrhundert — von der Hafenmole in Friedrichshagen ablegen sollte und die Reise nach der Rummelsburger Bucht unter eigenen Segeln begänne, nur unterstützt von einem behördlich genehmigten Zugeständnis, einem kleinen Außenbord-Motor mit sechs Pferdestärken, der die Manövrierfähigkeit der Hanse-Kogge unterstützen durfte. Vor Antritt des behördlich befohlenen Segeltörns war noch eine kleine Mahlzeit erlaubt, um die gemischte Besatzung aus künftigen Restaurant-Segelschiff-Betreibern und einer Abordnung aus kontrollierenden Verwaltungsbeamten der involvierten, zur Genehmigung des künftigen Betriebes ermächtigten Berliner Behörden ausreichend verköstigen zu können.

Zu diesem Behufe kletterte der Kombüsen-Junge am Nachmittag über die Reling an Land, nur ausstaffiert mit zwei großen Bastkörben und einem verwaltungsbeamtlich limitierten, sehr schmalen Budget. Seine Aufgabe war nun, auf dem nahen Wochenmarkt in Friedrichshagen eine ausreichende Menge an Eiern und anderen Zutaten für ein karges, doch hinreichend nahrhaftes Omelette-Gericht zu besorgen, damit die gemischte Crew nach sarrazinscher Manier gestärkt und leidlich wohlbestallt die lange Flussreise antreten könne.

Der Markt zeigte sich schon in Auflösung begriffen, als der unerfahrene und ortsunkundige Kombüsenjunge endlich den Marktplatz erreichte, nachdem er sich mühsam orientiert und immer wieder vorbeieilende Passanten nach dem Weg zu fragen sich nicht gescheut hatte. Die meisten Marktstände wurden bereits abgebrochen, überall herrschte emsiges Treiben, niemand beachtetete den kleinen unerfahrenen Kombüsenjungen, der bald verzweifelt nach einem Stande Ausschau hielt, welcher ihm die geeigneten Lebensmittel für das Omelette verschaffen könnte. Erst ganz am Ende des Marktplatzes, in einer versteckten Ecke, tauchte plötzlich ein altes, verhutzeltes Kräuterweiblein aus der Deckung, erregte sogleich die Aufmerksamkeit und irgendeine geheimnisvolle Kraft zog den Schiffsjungen sogleich in seinen Bann, denn an seinem zierlichen Mifa-Klapprad baumelten noch vier wohlbefüllte Marktkörbe im steifer wehenden Spätnachmittagswind. Sogleich zückte er seine Matrosenmütze und sprach behände die alte Dame an: "Sagen Sie, werte Marketenderin, darf ich mir erlauben, Sie zu fragen, ob Sie noch einige geeignete Lebensmittel mitsamt nützlichen Zutaten für ein großes Schiffsomelette zur Labsal einer allzeit hungrigen Crew übrig hätten?" Das Hutzelweiblein lächelte ihn sogleich sybillinisch an und wandte sich in einem ungewohnt klingenden , weil selten zu Gehör gebrachten, Oberschlesisch an den Jungen mit den maritimen Bastkörben: Sie käme ja gerade noch rechtzeitig vor Marktschluss aus den Müggelbergen auf den Markt geflogen, um ihm frisch gesammelte Wildenten-Eier anzubieten, und obendrein sei sie auf dem Rückweg ganz zufällig in einen Trupp delikater Marktpilze geraten, sie wisse gar nicht, wie ihr geschah, junge Röhrlinge und einige andere wohlschmeckende Arten, die da in einem großzügigen Hexenring versammelt in der Zwischenzeit aufgeschossen waren. Auf dem Hinweg zu der Wildenten-Kolonie war von den Spitzhüten noch kein Lebenszeichen zu vernehmen gewesen, jener Sippe von Wasservögeln, bei denen sie einmal wöchentlich zur Eier-Musterung ihre Aufwartung mache. Von den herrlich wohlschmeckenden jungen, rotstieligen Hexenröhrlingen und Artverwandten sei da auf dem Hinweg noch keine Wittergung ausgegangen, selbst für die so fein ausgebildete Nase der erfahrenen Sammlerin nicht. Alles in allem, mit den ausgezeichneten Gewürzen versehen, welche sie ihm obendrein anbieten könne, ergäben die frisch ausgeschobenen Schwämme zusammen mit den gerade gelegten Eiern ein herzhaftes Wildpilz-Omelette vom Allerfeinsten, das die ganze Besatzung für die weite Reise von Friedrichshagen zum Paul-und-Paula-Ufer an der Rummelsburger Bucht ausgezeichnet rüsten könne, dies in ihrer gutturalen Phonetik sprechend, zwinkerte sie ihm schalkhaft-verschmitzt zu, übergab die stattliche Menge an Jungpilzen, den reich gefüllten Korb mit Eiern, und die geheimnisvoll duftenden Gewürze aus fernen Landen rieselten in seinen Mitgebrachten, hinzufügend, der Smutje werde daraus einen ausgezeichneten Eierschmaus braten, da sei sie sich ganz sicher. Komisch, wandte sich der Schiffsjunge mehr an sich selbst, woher weiß die ehrwürdige alte Dame denn so genau, wohin die Reise gehen möge? Dachte dies mehr bei sich und übergab das sarrazinisch zum Reißen knapp kalkulierte Alimentations-Budget an die Respektsperson. Bevor er nun vernehmlich nachfragen konnte, hatte sich das alte Kräuterweiblein schon erstaunlich geschmeidig und flugs wie der auffrischende Abendwind auf sein gut geöltes Mifa-Klapprad geschwungen und war in einem Hui schon außer Sicht- und Hörweite in dem dichten Gedränge des sich auflösenden Marktes. Das ging so geschwind, dass sich der Schiffsjunge etwas verdattert und nachdenklich auf den Rückweg zur Mole am Hafen in Friedrichshagen aufmachte. Als er dort schließlich ankam, hatte er jedoch das Geschehen auf dem Markt in seinem jugendlichen Überschwang auch wieder verdrängt (es handelt sich hierbei um ein eher modernes Märchen) und machte sich sogleich mit dem Schiffskoch an die Arbeit der Zubereitung des gewaltigen Pilzomelettes für die doch recht disparat zusammengewürfelte Crew.

So war der folgende Schmaus rasch zubereitet, dank der lässigen Routine des Smutjes, welcher auch kaum Zeit damit vertat, den Schiffsjungen zu nunmehr vorgerückter Stunde in ein Kreuzverhör zu nehmen angesichts der etwas ungewöhnlichen Wahl der in dem Korbe sich findenden Pilzarten. Hier vertraute er souverän der bekanntermaßen sprichwörtlichen Akribie der amtlich bestallten Wochenmarkt-Kontrolleure zu Berlin, in Anbetracht der ablaufenden Frist, nach der die "Gote Wind" laut Behörden-Plan dann endgültig ablegen sollte und ihre ungewisse Reise in die bald von einer gigantischen, tiefroten Vollmondnacht illuminierten Spree-Gestade antreten würde.

 

Kapitel 2: Das Gericht und der Stich in den Fluss namens Spree

Ist es nun Zeit vom raunenden Imperfekt sich abzukehren und in die Sphäre des verheißungsvollen Präsens zu wechseln – was hieße: jetzt "Action"? Schließlich verhandelt das Sujet die mögliche Begegnung mit genuinen oder wenigstens semantisch umgewidmeten Sirenen – und in welchem Tempus besang Homer einst seine odysseeischen Verse? Es wäre doch naheliegend, das dort verwendete Tempus als Landmarke zur Orientierung einzusetzen. Oder kümmert das heute eh kein lesendes Wesen mehr...? -- Allerdings – mit Hexametern möchte ich jetztmals nicht dienen können; das hat schon mein Knan (in etwa: der Papa) weiland in der Schulzeit, der meinigen, versucht (als mein unberufener Ghostwriter) und mir damals ein glattes "Mangelhaft" wegen möglichen Betrugsversuchen eingehandelt bei einer zu Hause auszuführenden Aufsatz-Arbeit. Zunächst nun zurück zum bewährten und natürlich raunenden Imperfekt: ...

Aufgrund der behördlich angeordneten Eile ward das Pilzgericht in depeschierter Form zubereitet — und zuletzt bot sich gerade für die Goumet-Fraktion an Bord (auch hier ein durchaus gemischter Haufen an deutlich genussorientierten Langsam-Essern, bestehend sowohl aus Teilen der künftigen Segelschiff-Restaurant-Betreiber-Fraktion als auch wohlgesprenkelt mit subordinierten Berliner Beamten vor allem aus der Kostenstelle, Abteilung "Prospektive Stadtplanung"), nun, letztselbige Abgesandten fanden in der Zwischenzeit von Minute zu Minute mehr Gefallen an dem zu prüfenden Objekt insgesamt, je länger sie pars pro toto Messer und Gabel durch das Omelette furchen ließen, da Selbiges trotz der gebotenen Schnelle durchaus wohlfeil zubereitet war; und je länger sie es auf den Tellern mit kontemplativer Ziemlichkeit hin- und herwendeten, daran zärtlich knabberten, schnoperten, ja den aufsteigenden Duft genussvoll durch die Nüstern einsogen, um angemessen den Eros der Aisthesis zu laben angesichts eines solch unverhofft servierten Meisterstücks, denn nicht nur das Auge isst bekanntermaßen immer wieder gerne mit, begannen die fruchtkörperdurchwirkten Teile der auf den Tellern schwebenden Gaumenfreude im von Kerzen nur matt illuminierten Restaurantraums im Schiffsbauch der famosen Hansekogge allmählich sanft in Blau, Lila, Purpur, Orange und Türkis zu pulsieren wie kosmische Quasare. So recht konnte sich das keine anwesende Dienstperson zu explizieren, man schrieb es insgeheim der dürftigen Beleuchtung zu,  in Form eines stillen Konsens', und mancher Insasse der gewöhnlichen Crew wollte das auch schon gar nicht mehr so ausdrücklich zur Kenntnis nehmen, denn das alte Piratenschiff von Klaus Störtebeker hatte ihnen so manches unverhoffte Abenteuer auf der langen Fahrt von der kurischen Nehrung nach Berlin beschert, das eines jeden kritischen Betrachters bekannte Schulweisheit in große Erklärungsnöte gebracht hätte; deshalb verschob so mancher das farblich changierende, pulsierende Glimmen, das wie späte Glut im Lagerfeuer am besten zu umschreiben gewesen wäre, in den Bereich einer schlichten optischen Täuschung. Allein Kapitän zur See Ulli Zeetz, vom Restaurant-Dienstleister pflichtschuldigst zeitnah angeheuerter Inhaber eines antik zu nennenden Schiffsführer-Patents, welcher es eigentlich nicht länger vorhatte, derart windig zu nennende Aufträge anzunehmen, aber eben, neuzeitlich sorgt nur das liebe Geld für Lebensmittel, Dach über dem Kopf, bezahlt Wasser und Strom, ihm kam das Phänomen dann doch durchaus spanisch vor, hatte er doch schon vor Gibraltar Gelegenheit gehabt, am äußersten Rand der Scheibe jener damals bekannten Welt, mehr oder weniger erfolgreich gegen die dortig ansässigen Hispanier mit eibenhölzernem Pfeil und eisernem Bogen zu kämpfen. (Aber das wäre jetzt eine ganz andere Geschichte und würde diese schmale Episode lediglich ein weiteres Mal sprengen – zum Leid der auch einmal zu Ende kommen wollenden JurorInnen der hier einstweilen noch bevorstehenden Sirenen am Ostkreuz.)

Als die "Gote Wind" am frühen Abend dieser denkwürdigen Nacht endlich von der Pier in Friedrichshagen ablegte, war bereits ein zum Bersten voller, ja deutlich in ein Übergroßes tendierender Mond am Firmament aufgegangen und beleuchtete verschmitzt grinsend die Abläufe unten auf der Erde, das etwas umständlich, da schusselig ausgeführte Ablege-Manöver des Segelschiffes. So schien dies zumindest dem Schiffsjungen an Bord vorzukommen, welcher von dem großartigen Omelette leider gar nicht oder erst ganz spät satt geworden war, da die Hauptzeit des Mahles ja mit dem Servieren und dem Aufrechterhalten des Getränkeservices beschäftigt. In der Zwischenzeit hatte auch der Wind beträchtlich aufgefrischt und erschwerte das jeweils nötige Segelumsetzen weg von der Pier und in Fahrtrichtung, ausgeführt von der behäbig hantierenden Besatzung, erheblich. Im Grunde wirkte der Wind wie bestellt, denn er blies, wie in den Lokalnachrichten im Radio bereits angekündigt, aus Ost-Nord-Ost nicht mit fünf, in Böen gar sechs bis sieben Windstärken, sondern schon jetzt mit einer strammen, runden 7, ganz abgesehen von den Böen, welche schon zu dieser frühen Stunde der Reise bequem volle Sturmstärke erreichten. In Anbetracht dieses beträchtlichen Rückenwindes konnte Ulli Zeetz als verantwortlicher Schiffslenker zumindest für das Erste getrost auf den läppischen Außenborder verzichten. Umso mehr gefragt jedoch waren die Segelkünste der insgesamt sieben Mann zählenden nautischen Crew, die es für diesen exzentrischen Törn in Richtung Innenstadt nun mit eher gemischten Gefühlen in die Wanten des Zweimasters trieb angesichts der deutlich mehr als gewogenen Unterstützung durch das luftige Element. Hören Sie, wussten Sie eigentlich schon, werte Lesende, wie hoch die Wellen reichen können auf dem Preußischen Meer, derart nahe gelegen an einer zivilisiert wirkenden Großstadt wie Berlin (Meinen Sie wirklich, gibt es da noch ein anderes, sehr viel imposanteres preußisches Meer)? Zwei bis drei Meter höchstens, meinen Sie ..., so wie in der Ostsee? Ha, weit gefehlt, Sie machen sich ja keinen blauen Dunst – bedenken Sie nur, dass aufgrund der oftmals begrenzten, da befestigten Ufer die Wellen sich ja gar nicht ausschaukeln, sondern im Gegenteil, sich immer nur weiter aufschaukeln müssen, je höher der Seegang infolge des einwirkenden Sturmwindes sich aufzutürmen können!

Das ist der berühmte Badewannen-Effekt; einige Seeleute mit beträchtlicher Erfahrung, welche auch schon Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts den Müggelsee mit ihren kohlebeladenen Lastkähnen regelmäßig zu überqueren hatten, berichteten von wahren Kavenzmännern, von regelrechten Wänden aus Wasser, die da mit elementarer Gewalt über ihren offenen Kohle-Lastkahn-Kolonnen zusammengeschlagen wären bei längerer Sturmdauer, so ab Windstärke 10, und damit so manchen erfahrenen Flussbären derart überfordert hätten, dass auf dem tiefen Grund des Müggelsees bis heute so manches gewaltige Schiffswrack ruhen würde. Zum Glück passierten die Männer auf der "Gote Wind" nur den äußersten Rand des bald sturmumtosten Meeres und gelangten zügig in die ruhigeren, jedoch dafür von heftigen Böen umso stärker heimgesuchten Gewässer des Spreeunterlaufs. Rasant kam die Hansekogge voran, sie segelte zugegebenermaßen mit dem Wind, welcher meist aus östlichen Richtungen bald nun auch orkanartig blies, mit berauschender Geschwindigkeit passierten sie Köpenick, Spindlersfeld, Johannisthal, Nieder- und Oberschöneweide, die Königsheide und bald den Plänterwald, so dass kaum zweieinhalb Stunden vergangen waren, bis sie den Bullenbruch erreichten, ein kleines Eiland auf Höhe der Nalepastraße, gleich gegenüber des ehemaligen Gebäudes, in der weiland dem Fall der Mauer der Rundfunk der DDR seine wohlbehütete Heimat gefunden hatte.

 

Kapitel 3: Die Liebesinsel im Strom und nächtliches Treiben

Doch was war das? In regelmäßigen Abständen stießen große Kanus vom Ufer der Insel im Strom ab, sich darin duckend schwarz vermummte Gestalten, welche das Haupthaar unter weiten Kapuzen verbargen. Wie eine lange Perlenkette schmückten bald die Kanus schon die mondglänzende Spree und durchpflügten den Flusslauf stromabwärts. Bald war die Hansekogge umringt von den hölzernen Langbooten, deren Insassen wohlgeübt im symmetrischen Gleichschlag back- wie steuerbords die Stechpaddel mit großer Kraft eintauchten und so die hölzernen Boote vorwärts stießen. Kein menschlicher Laut zu vernehmen, nur das Rauschen der Wälder, das Tosen des Windes, das Plätschern und strudelnde Glucksen des Wellenschlages begleitete die seltsame Armada auf der Reise in Laufrichtung der Mündung des Flusses.

Im weiteren Verlauf des Abends fanden sich bald der Schiffsjunge und Kapitän Ulli Zeetz gemeinsam am Schiffsbug wieder, obschon sie da ja beide recht wenig zu suchen hatten. Der eine sollte sich eigentlich unter Deck in der Kombüse um den allfälligen Abwasch kümmern, der andere jedenfalls nicht am Bug zu finden sein, denn er war ja für das Wohl und Wehe der Besatzung verantwortlich, und deren Schwerpunkte befanden sich im Moment in jedem Falle vermehrt unter Deck bzw. auf der Brücke hinter dem Hauptmast der wohlgefälligen Kogge. Dennoch, die beiden befanden sich aufgrund gemeinsamer, vor allem sozialer Intelligenz und geteilter Neugier am Bug des Schiffes, um Ausschau nach der Richtung zu halten, die die Perlenkette aus wacker von wohlgeführten Stechpaddeln bewegten Kanus wohl einschlagen würde. Allein es half nichts: einer musste hinauf in den Ausguck, um nach dem Rechten zu sehen und sagen zu können, wohin denn die vermummten Gestalten ihre Reiseroute lenkten, denn keinem der beiden ließ es Ruhe, weder dem Ältesten noch dem Jüngsten an Bord, bis nicht klar geworden wäre, was die ganze Prozession für einen Weg folgen würde.

Über die Wanten stieg der Schiffsjunge in das so genannte Storchennest. Mittlerweile befand sich die "Gote Wind" auf der Höhe der breitesten Stelle des Flusses auf seinem langen gemächlichen Lauf in die Havel. Ganz links lag klar im Mondschein sichtbar die Insel der Tugend, durch die bogenförmige Abteibrücke mit den Gestaden des Treptower Parks verbunden. Ganz zur rechten Hand begrenzte das Sichtfeld der Hafen auf Lichtenberger Seite mit dem dahinterliegenden Gelände der ehemaligen Nylonstrümpfe-Produktion der AGFA-Werke, auch diese unternehmerische Tat vergessen und längst zur Industrie-Geschichte geronnen. Spätestens bei einer der Bombennächte des Zweiten Weltkriegs war hier Schicht im Schacht gewesen. Umso interessanter die Gegenwart, dachte sich der Schiffsjunge: Ungefähr auf Höhe der Mitte des Panoramas, leicht backbordseitig der Spundwand als Zufahrt zur Rummelsburger Bucht vorgelagert, auf der Steuerbordseite des Kratzbruchs, einem winzigen Ödland von irgendeinem gewaltigen Sturm der Landspitze der Halbinsel Stralau abgerissen, das die Abgabelung zwischen dem Hauptlauf der Spree und dem alten versandeten Seitenarm, der heute die Rummelsburger Bucht ist, markierte, lag die Liebesinsel, ein üppig mit Vegetation ausgestattetes Eiland. Genau dort landeten die Kanus an und wurden flugs über die Uferböschung gezogen, verschwanden im unsichtbaren Bereich der über und über von Vegetation beflorten Insel. Zwischenzeitlich war Kapitän Zeetz seiner Aufsichtspflicht folgend doch einmal unter Deck gegangen, um dort nach dem Rechten zu sehen. Die meisten Personen hatten eine seltsame Abart der hinlänglich bekannten Seekrankheit befallen, das heißt, sie waren nicht die ganze Reise über damit beschäftigt, in ein Außen, das heißt über Bord, die Fische zu füttern mit dem überaus köstlichen Omelette vom Friedrichshagener Markt, sondern es schien ein jeder für sich ganz massiv, still und leise mit so einer Art Innenschau beschäftigt zu sein, viele wirkten als kaum ansprechbar. Was so ein bisschen hoher Seegang in so einer sturmdurchpeitschten Nacht nicht alles bewegen kann? Kapitän Zeetz schien es, als würde das gerade den hohen Beamten einmal ganz recht tun, so eine stille und leise Innenschau, welche ihm auch gar nicht so fremd schien, denn auch er hatte nach und nach während der Reise immer wieder die Gelegenheit ergriffen und sich mit interesselosem Wohlgefallen der Kontemplation hingegeben angesichts dieser herrlichen mondbeschienenen Sturmnacht auf dem Weg in das Herz einer so schönen großen pulsierenden Stadt wie Berlin.

Vom hohen Ausguck hatte der Schiffsjunge einen wirklich imposanten Panoramablick über die ganze Szenerie zu seinen Füßen. Allmählich zeichnete es sich endgültig ab, wohin die Kapuzenmenschen in den hölzernen Nachen strebten, wirklich auf die Liebesinsel. Ismael hatte nicht halluziniert, obschon ihm schien, dass es gegenwärtig eine gewisse Tendenz im Sinne seiner Wahrnehmungsfähigkeit zugunsten einer Abwandlung oder Veränderung der Sinneseindrücke gab. Er zumindest ging mit diesen sich verändernden Sinneskanälen und der darauffolgenden Unsicherheit recht souverän um. Oben am Storchennest war eine Signallampe angebracht. Innerhalb einer Minute schickte der Junge aus der Kombüse wohlgeübt im Morsealphabet die Nachricht an den Steuermann, der schläfrig und noch immer mit der metabolischen Verarbeitung des Omelettes beschäftigt über sein Schiffsruder gelehnt lag; allein, er erhielt auch noch den Hinweis, sich wegen weiterer Instruktionen an den Käpt'n zu wenden, aus den Augenwinkeln bekam dies der geschulte Seemann gerade noch mit. Ein vorbeischwankender Maat war schnell beauftragt, Ully Zeetz zurück an Deck zu holen. Kaum wieder oberhalb der Wasserlinie, ließ dieser den Kurs neu anpassen. Nahziel war jetzt die Backbordseite der Liebesinsel, die mit gerefften Segeln und dem Schleppanker ausgeworfen ans Tau geklinkt zur deutlichen Verlangsamung des Schiffs im Gegen-Uhrzeigersinn zu umrunden sei. "Wir wollen doch dort einmal nach dem Rechten sehen", sagte Ully Zeetz mehr zu sich selbst, denn ein so starker Sportbootsverkehr bei diesem Sturm und um diese Zeit ließen einen alten erfahrenen und listenreichen Seebären über alle Maße neugierig und erstaunt zurück.

 

Kapitel 4: Nächtliches Treiben am Strand

Von seinem Ausguck bemerkte Ismael, dass überall auf der Insel Fackeln entzündet wurden und sich die Kapuzentragenden in langen Kolonnen auf einen bestimmten Punkt der Insel zubewegten, der durch eine größere Ausbuchtung sogar auf Google Maps spezifizierbar ist. Die Einheimischen sprechen hierbei von der sogenannten Schwanenbucht der Liebesinsel (schließlich war die Tochter der Liebesgöttin, Leda, eine ganze Weile mit einem ganz besonderen Schwan liiert und der Rest ist Mythos, da gehen wir jetzt gar nicht weiter darauf ein). Hoch betagte Ortsansässige erinnern sich sogar noch an ein Restaurant, ein Wirtshaus auf der Liebesinsel, das einst per 6-Personen-Fähre mit dem Festland in regelmäßigem Verkehr stand. Noch können Photographien aus den 1920er Jahren dies bezeugen (ich habe selbst zu Hause einen Abzug davon); bei der ganzen Angelegenheit handelt es sich ja wahrlich nicht um frisch gesponnenes Seemannsgarn, wie Sie sicher auch bemerkt haben. Aber was sage ich, schweife schon wieder ab (Räuspern): Mittlerweile erstrahlte die Insel der bekannten Göttin im milden Glanz der Fackeln, die von Hand zu Hand gegeben, weiter entzündet wurden. Mit deutlich trägerer Fahrt (dank des Schleppankers) hielt jetzt die "Gote Wind" direkt auf die Schwanenbucht zu. Mit einem Male entflammten an den Insel-Stellen, welche die Himmelsrichtungen markieren könnten, vier große Lagerfeuer, vom Schiff aus sehr gut zu sehen, denn es wirkte aus der Totalen der Menschen auf der "Gote Wind" fast so, als ob da auf dem Eiland plötzlich vier große Scheinwerfer angeschaltet worden wären, um endlich mit irgendwelchen lange schon anstehenden, gut vorbereiteten Dreharbeiten mitten in der Nacht beginnen zu können. Aber ... – was ist das? Seit wann können sich solch' große Lagerfeuer in Bewegung setzen (da geht es ja zu wie in Shakespeares "Macbeth", wo gleich ein ganzer Wald herbeiwandert)? Sei es, wie es sei, jedenfalls bewegten sich die Feuer jetzt. Und dann geschah das, womit Kapitän Zeetz insgeheim die ganze Zeit schon gerechnet hatte: Er wusste nur nicht recht, wieso, weshalb, warum und wann. Ein tiefer, kehliger Ton schwoll an wie ein Stausee, der sich allmählich bis zum äußersten Rand füllt, teilte sich auf in drei Stimmlagen, dann wurden viere, fünfe daraus und nach und nach gesellten sich noch mehr dazu. Es klang fast, als würde sich ein vielhundert-köpfiger Chor einstimmen auf ein großes Konzert. Gemächlich trieb es die "Gote Wind" jetzt dicht an die Liebesinsel heran, die Einzelheiten des Geschehens rückten so sukzessive wie bei einer langsamen Zufahrt mit der Filmkamera immer näher, entwickelten Konturen und klare Formen. Die großen, langsam wandernden Scheiterhaufen sind auf fahrtüchtigen Gestellen aufgetürmt und diese werden von je zwölf Fackeltragenden mühsam gezogen. Soviel war mit bloßem Auge vom Storchennest aus deutlich zu sehen. Überall auf dem Eiland strebten lange Kolonnen aus fackelbewehrten, prometheisch wirkenden Gestalten bedächtigen Schritts auf die besagte, einzige Bucht der Insel zu – dabei schwoll der Gesang immer weiter an. Ully Zeetz wusste instinktiv, wenn er jetzt nicht handelte, beschwörte er eine gewaltige Katastrophe für Leib und Leben der ganzen Schiffsbesatzung herauf. Wie vom Blitz gesandt stand ihm ein uraltes, schmerzhaft eingebranntes und regelrecht in das Gedächtnis zurückkatapultiertes Bild vor Augen. "Genau denselben Spuk habe ich an anderer Stelle schon einmal erlebt." Zeetz reagierte geistesgegenwärtig, trommelte in einem Affenzahn seine Leute zusammen, sprich: nautische Crew, und ordnete an, dass sämtliches verfügbares Kerzenwachs an Bord sofort zusammengetragen werde und dazu müssen von den Waschgelegenheiten an Bord alle verfügbaren Wattebäusche und -reste, und daraus solle anschließend sofort Oropax gebaut werden, damit die Ohren aller an Bord befindlicher Personen versiegelt werden können, damit diese das, was zwangsläufig kommen wird, nicht zu hören bekommen mögen, und er selber solle, jetzt subito!, mit den abgefierten Schoten des Focksegels, welches bei dem starken Rückenwind gar nicht gesetzt zu werden brauchte, an den Hauptmast der Kogge gebunden werden, und Pronto! umso fester, desto besser. Leider vergaßen die Seeleute in der gebotenen Eile ausgerechnet die überaus wichtige Person, welche weit oberhalb des Decks ihren Dienst verrichtete: den Schiffsjungen Ismael, der nun gewissermaßen den Feldherrnblick auf das weitere Geschehen in einsamer Zurückgezogenheit genießen durfte. Gerade rechtzeitig waren die Befehle des Kapitäns umgesetzt, da brach auf der Insel das Spektakel los. Wie bei einer Theaterbühne wurde die wandartig wirkende Vegetation einfach beiseite gezogen an der Stelle, an der der schmale Strand der Schwanenbucht sich ins Insel-Innere verjüngte – ganz wie wenn ein Theatervorhang vor der Guckkastenbühne weggekurbelt wird oder in einem großen Kintopp-Saal der 1920er Jahre dies dann schon elektrisch erfolgte, als zum Kinematographen noch 1.000 Menschen oder mehr gingen und Platz fanden in den feudalen Sälen. Hier nun war eine große sandige Fläche, auf die der Blick sich nun öffnen konnte, freigemacht. Alle Kapuzen tragenden Kanufahrer, es mögen mittlerweile auch gegen 1.000 sein, hatten sich an und um die Bucht herum versammelt. Der auf- und abschwellende Laut, koloratorisch mit Ober- und Untertönen polyphoner Art gemischt, verklang -- und Stille herrschte ringsherum. Kein menschlicher Laut zu vernehmen, nur das Rauschen der nahen Wälder, Brausen der Sturmwinde, das Plätschern und strudelnde Glucksen der aufgepeitschten Wellen und das mächtige Flackern, Knistern und Zischen der vier Scheiterhaufen am Strand. Die "Gote Wind" glitt wie in Zeitlupe etwa 20 Meter entfernt auf gleicher Höhe mit der Liebesinsel . Als hätten sie darauf nur gewartet, streiften alle auf der Insel Versammelten gleichzeitig ihre abenteuerliche Vermummung ab und blickten stumm und starr auf das unverhoffte Publikum, das sich auf der "Gote Wind" im mehr oder weniger derangierten Zustand befand. Oftmals schulterlange Haare quollen unter den Kapuzen hervor, andere trugen selbiges eher kurzgeschnitten – nur eines war jetzt klar: Es sind ausschließlich unglaublich viele Frauen, die ihre Stimmen nach einer effektvollen Pause nun erhoben und zu einem mächtig tönenden Choral-Gesang anschwellen ließen. Ully Zeetz ging es wie einst. Er wunderte sich nur, dass aus den ursprünglichen zwei Konzertantinnen über die unzähligen Generationen seit dem siebenten Jahrhundert vor der großen Zeitenwende derer so viele hatten werden können. Er war von der gewaltigen, lockenden Kraft des Gesangs gleich wieder wie verzaubert und fuhr seine Leute an, sie sollten jetzt SOFORT direkt die Insel ansteuern, damit er die nun folgende Zeremonie endlich einmal aus nächster Nähe erleben könne. Selbstredend reagierte die eh stark absente Crew achselzuckend, denn nicht von ungefähr wurden ihnen ja gerade noch rechtzeitig die Ohren mit Wachswatteballen verschlossen. Ohne dass sie viel mehr als ein fernes Grollen und Gellen vernehmen konnten, brandete der Chor aus weiblichen Stimmen nun mächtig auf, vermischte sich mit dem mächtiger werdenden Tosen des Sturmwindes. Dem Schiffsjungen Ismael hoch droben in seinem Ausguck schwante es, dass sich hier nun wirklich der Vollzug eines archaischen Rituals anbahnte, wie er es sich selbst nicht in seinen kühnsten Träumen und Phantasien von matriarchalischem Kultus hatte je ausmalen können. Vom Ausguck nun am besten zu sehen, aus der Mitte des sichtbaren Kreises strebte mächtig und sehr schnell am Stiele etwas pflanzenhaft empor, was aus der Ferne wie ein Stein aussah. Der Stamm wirkte gedrungen, nicht sehr hoch und nicht sehr schlank und hatte an seinem oberen Ende eine Art helmförmige Haube, die sich auch farblich und in der Struktur vom stämmigen Säulen-Stiel deutlich absetzte. Für einen zufällig anwesenden Pilzkundigen, der auch noch mit der örtlichen Topographie vertraut wäre (einer von den Beamten mittlerer Laufbahn an den Bullaugen unter Deck), mutete das Gebilde an wie eine wilde Kreuzung aus einem gigantischen Abbild eines Phállus impudicus, zu Deutsch: die Gemeine Hexenmorchel, und einem formschönen Modell des Wasserturms am Ostkreuz, hier vor Ort als Wahrzeichen und städtische Landmarke hochverehrt. Auf diese höher und höher emporwachsende Chimäre geformt aus Fruchtkörper und Steinartigem wanderten nun die aus allen Himmelsrichtungen heranrückenden mobilen Scheiterhaufen langsam zu. Ully Zeetz bettelte mittlerweile an seinen Mast gefesselt verzweifelt darum, man möge das Schiff noch näher an die Bucht heranmanövrieren, damit er das mythenumrankte Geschehen endlich einmal aus nächster Nähe verfolgen könnte.

Unbemerkt von der nautischen Besatzung hatte sich mittlerweile der Schiffsjunge vom Ausguck herabbegeben und achterwärts der "Gote Wind" den kleinen Außenbordmotor angeworfen, dessen sonores Surren und Blubbern von der fulminanten Geräuschkulisse regelrecht verschluckt wurde. Der Schiffsjunge steuerte nun die Kogge tatsächlich noch näher an die Bucht heran; der Crew selbst war das egal, alle starrten wie gebannt auf das Geschehen an Land. Die vier mobilen Scheiterhaufen erreichten langsam, erbarmungslos langsam den emporgeschossenen Kultstein in der Mitte der kreisrunden Fläche, die wie eine Bühne anmutete, ja wie der Mittelpunkt eines Amphitheaters der klassischen Antike. Die Scheiterhaufen fielen krachend über dem mächtigen Pilzstein zusammen. Wird der gar nun als Götzenbild verehrt? Nun schwoll auch der Gesang der mindestens zwölfstimmigen Frauenchöre bis ins Crescendo furioso an. Die Hitze infolge der ineinander über dem Kultstein verkeilten Scheiterhaufen trieb den schwarz gewandeten Frauen den Schweiß in die Stirn, während sie in beginnender Ekstase sich windend die Skulptur, oder besser Installation, zuckend umtanzten. Die "Gote Wind" schmiegte sich so an den Strand, dass sie gerade noch manövrierfähig blieb. Ully Zeetz war überglücklich und frohlockte, dass er nun doch noch Zeuge des Rituals werden würde. Er grinste wie ein unter Drogen stehender Karmelitermönch nach der finalen Lebensbeichte. Infolge der Hitze begann der im Feuer stehende Pilzstein von innen heraus zu glühen und in wechselndem Farbenspiel zu pulsieren. Das erinnerte Ismael, der von der abgewandten Heckseite aus das wilde Treiben beobachtete, an das Leuchten im Innern der Mehlspeise, die die Besatzung gemeinsam im Schein der Kerzen unter Deck im Bauch des Schiffes zu Beginn des Turns eingenommen hatte. Mit einem Paukenschlage krachte eine gewaltige Explosion mitten durch den Scheiterhaufen, als sei der Pilzstein in 1.000 Stücke zersprungen; die Nacht war nun von gleißender Helligkeit in ständig changierenden Farben erleuchtet; vor den Augen der Männer an Bord begann sich die ganze Szenerie zu fragmentieren, bis zunächst nach der taghell blendenden Helle nur noch vorüberfliegende, gewaltige Schatten wie Scherenschnitte das Dunkel durchmaßen, nur gelegentlich noch zuckten helle Blitze und Lichtspalten auf, darin sich tummelnd Schatten wie riesige Fledermäuse oder um den Faktor 13 vergrößerte Scherenschnitte von Krähenflügeln, und der Gesang der Frauen tönte jetzt kehlig-krächzend wie das vielhundertfach verstärkte Konzert eines Meeres von Rabenvögeln, die sich zu einem Rave in einem gewaltigen Baum – der Weltenesche gleich - auf einer kleinen Insel im Strom versammelt hatten. Und dann schwirrten Vögel, Fledermäuse und amorphes Gekröse mit einem Schlag hinaus und umflatterten die Insel in rasender Geschwindigkeit, ein ohrenbetäubendes Getöse, Geschrei und Gekrächze veranstaltend – bis sie sich auf die Besatzung der "Gote Wind" stürzten, alles in eine dichte Wolke aus wirren Flügelschlägen einhüllend. Das Gewimmel hob sich ab vor einem vollmondbeschienen Nachthimmel und schien so dicht, dass selbst die unter Deck an den Bullaugen klebenden Seekranken kaum mehr erspähen konnten als stroboskopisch vorbeizuckende Schwärze. Den fliegenden Wüsten-Derwischen gleich flatterte und schepperte, krächzte, quietschte, jaulte, holperte und polterte es über Deck. Die verschreckten, tief in ihre eigentümliche Seekrankheit verstrickten Beamten, die ja in der Eile kein Wachs mehr für die Ohren abbekommen hatten, verkrochen sich verängstigt in die hinteren Winkel des Schiffsbauchs. Sie ahnten, dass das, was sich da gerade an Deck ereignete, auch ihnen bald blühen könnte. So wurden sie stille Zeugen der gellenden Schreie der Besatzung, lauschten dem aufgeregten Geflatter, Gewimmel, Gekratze und Geraschel. Wiederholt war das laute Aufklatschen zu hören, wenn eine der Personen an Deck verzweifelt über Bord ging, um sich dem rasenden Gebaren der schwarz gefiederten Mischwesen zu entziehen, alles übertönt vom nun nicht mehr lieblichen, sondern dissonant krächzenden Geschrei der Sirenen, die nicht Halt machten, bis nicht auch der letzte Wurm an Deck ihren mehr als fragwürdigen Reizen gehuldigt hatte, wenn sich nicht rechtzeitig voller Verzweiflung über Bord gestürzt in den tobenden Fluss. Unter Deck umklammerten die Verängstigten bebend vor dem, was sie sich in ihren Fieberphantasien ausmalten über die Begegnung mit dem, was da an Schrecken weit außerhalb jeder Vorstellung des Alltagslebens an Deck stattfand, und das dennoch die langen Schwänze (sprich: Flugfedern) hinter sich herziehend direkt über ihren Köpfen einherstolzierte, die greifbaren Stuhl- und Tischbeine in der großen Kajüte des Restaurant-Segelschiffs. Oben an Deck war es wieder ganz stille geworden. Nur das Plätschern der Wellen, die sich an den Planken der "Gote Wind" brachen, das stetige Tosen des Windes, das unermüdliche Rauschen der Wälder und das strudelnde Glucksen der nahen Brandung am Inselstrand waren zu hören.

In ihren Angeln ächzend knarrte langsam aber unerbittlich die Kajütentüre auf: Hinunter fiel in vollem Mondeslicht der gigantische Schlagschatten einer Fledermaus und müsste sich eigentlich im rückwärtigen verspiegelten Teil der Kapitänskajüte gebrochen haben. Allein: Dort war nur der gleißende Vollmond zu sehen... . Was dann kam, könnte als brüllender Lärm, tobendes Chaos, helle Panik und der volle Galopp der apokalyptischen Reiter durch die verletzlichen Seelen bezeichnet werden – und alles versank im Trauma und vor gähnender Angst in sirrender Todesvorahnung — bis auch der letzte Beamte sich in die rettende Bewusstlosigkeit geflüchtet hatte. Kopf in Sandmännchens Schoß legen immer noch gute Alternative zur Wirklichkeit, sagte man sich für gewöhnlich selbst in höchsten Entscheider-Kreisen.

 

Kapitel 5: Lieber ein Ende voller Schrecken als ein Schrecken ohne Ende

So, und wie soll es jetzt weitergehen? Diese Frage sei mal erlaubt. Nachdem die Besatzung des Schiffs entweder unfreiwillig über Bord gegangen ist, gleich Opfer des Sirenen-Gemetzels wurde oder an den Mast gefesselt oder geistesgegenwärtig genug war, noch rechtzeitig über Bord zu gehen, sich dann an das Tau des Schleppankers zu hängen, um nur mit Stirn und Augenpaar über Wasser aus sicherer Distanz das weitere Geschehen auszuspähen, was bleibt da an lenkbarer Energie noch übrig, um ein Schiff wie die "Gote Wind" vollends zum Paul-und-Paula-Ufer zu segeln? Sollen etwa die Sirenen selber das Schiff weiter in die Rummelsburger Bucht hineinsteuern oder was?!? Und Skylla und Charybdis? Die gehören schließlich als nächste Stationen zur Odyssee auch dazu. Willst du etwa aus den zwei einander gegenüberliegenden Enden der Spundwandkonstruktion als Flussenge und Zufahrt zur Rummelsburger Bucht zwei antike und furchtbaren Schrecken verbreitende Meeresungeheuer klassischen Angst-Ausmaßes zaubern oder was!?! Geht's noch bei dir? Glaubst du, du hast sie wirklich noch alle beieinander oder gibst du jetzt ENDLICH auf mit diesen haarsträubenden Bemühungen, die Sache am Ende doch noch gut ausgehen zu lassen? Alter, das läuft nicht - ...Gut, ich weiß, ich weiß, es ist schon spät..., nun habe ich aber doch noch eine Idee, pass mal auf und hör zu beziehungsweise lies: Die Sirenen fliegen, nachdem sie sich an der gesamten Besatzung gelabt haben, zum Ostkreuzturm als Original jetzt in vergleichender Beziehung – auch blickachsenmäßig (Du verstehst? Blickachse, intellektuell immer wichtig) — zum Götzenbild am Strand en miniature. Dort halten sie jetzt ihren finalen Hexensabbath ab. Das ist in etwa so wie das volle herbstliche Gegenstück zur Walpurgisnacht im Frühling auf dem Harzer Brocken. Ismael und Käpt'n Ully überleben als einzige den Angriff. Aus irgendeinem Grund wurde Zeetz verschont, vielleicht gerade weil er dem Sirenen-Konzert zugehört, sich begeistert gezeigt und sich damit der Macht, dem rauschvergessenen Verlangen der Chimären hingegeben hatte. Ismael hingegen wurde im Wasser nicht entdeckt oder übersehen, denn vielleicht hatte er ja als dreizehnjähriger Schiffsjunge auch noch nicht ganz das Mannesalter erreicht, und das mag dann besondere Gründe der Schonung nach sich ziehen. Sobald beide wieder halbwegs auf dem Mast beziehungsweise vom Mast los sind, jagen sie den Sirenen hinterher, können natürlich aber den Hexensabbath dort an Land nicht aufhalten, das heißt dem Ostkreuz-Turm geht es so wie der Skulptur: Die Sirenen bringen auch ihn mittels ihres betörenden und schaurig-schönen Gesangs zuerst zum Glühen und Pulsieren, dann farbmäßig prächtig Changieren, konventionelles Feuerwerks-Gedöns ein feuchter Dreck dagegen, und die Sirenen treiben da also weiter gründlich ihren mitternächtlichen Schabernack. Kann der alte Wasserturm das Ganze aushalten oder kommt es da am Ende zur großen katalytischen Katastrophe für Friedrichshains altehrwürdiges Wahrzeichen? Kapitän Zeetz wird gemeinsam mit Schiffsjunge Ismael im Dunst des Morgengrauens völlig verstört, mit zerfetzter Kleidung, über und über verkratzt und blutüberströmt auf der am Paul-und-Paula-Ufer gestrandeten "Gote Wind" gefunden. Mit Beginn der ersten Morgenröte war wieder Stille eingekehrt, als der Fundort begangen wurde: Nur das Plätschern der Wellen, die sich an den Planken der "Gote Wind" brachen, das nachlassende Tosen des Windes, das Rauschen der Bäume am Ufer und das strudelnde Glucksen der Brandung am Strand des Paul-und-Paula-Ufers waren zu hören gewesen. Also, was wollt ihr? Das Restaurant-Segelschiff hat wenigstens letztendlich sozusagen den Stresstest bestanden und das Ziel unter eigenen Segeln, nur unterstützt vom spärlichen Einsatz des Außenborders, in der geforderten Zeit erreicht. Das ist schon mal ein Pluspunkt. Einmal aufgefunden, wandern Ismael und sein Kapitän zunächst zur Untersuchung in die psychiatrische Sektion des Urban-Krankenhauses ("Ich mach dich Urban!" endlich mal verwendet in einer überraschenden Wendung...). Und sowohl im Polizei- wie auch im Meteorologischen Bericht von dieser Nacht taucht ein schreckliches Gewitter mit Hagel, Hochwasser, Sturm bis Orkanstärke, mit Kugel- und anderen seltenen Blitzarten der nach oben offenen Gewitter-Eskalations-Skala auf, das in der Stunde zwischen Mitternacht und ein Uhr morgens über der östlichen Innenstadt getobt haben soll. Schwerpunkt, also Sturmauge offenbar die Gegend um den Bahnhof Ostkreuz in Friedrichshain. Begleitet wurde das Ereignis von zahlreichen entgleisten S-Bahnen, völlig verstörten Gästen im Nah-, Fern- und S-Bahn-Verkehr und auf dem Bahnhof selbst; am Wasserturm des Ostkreuzes wurden erstaunlicherweise erhebliche Hitzeschäden festgestellt, als hätte der Turm in der Nacht tatsächlich gebrannt, zudem sind unzählige neue Risse im Mauerwerk zu den schon vorhandenen dazugekommen, so dass der Turm nunmehr vom statischen Bauamt als erheblich einsturzgefährdet bewertet wird, so oft wurde er von einer Unzahl an Blitzeinschlägen in dieser Nacht zu vorgerückter Stunde getroffen – und einige ältere S-Bahn-Gäste, die völlig verwirrt, verzeifelt und offenbar auch traumatisiert zunächst ebenfalls in der Psychiatrie landeten, berichteten davon, dass sie in dieser Nacht den verheerenden Luftangriff vom 27. Januar 1944 auf Berlin noch einmal wiedererlebt hätten, mit Bombenteppich und ganz schwarz angestrichenen alliierten Jagdbombern, die durch die umliegenden Straßen und über den Bahnhof gewischt seien, um Jagd auf die Passanten zu machen. Und unerklärlich blieb, dass überall auf dem betroffenen Gelände Blut gefunden wurde, an den Kleidern, unter den Fingernägeln und auf den Gesichtern der Passanten und Fahrgäste, am Turm selbst und überall in großen Lachen auf den Bahnsteigen. Das Merkwürdige nur, als die Proben aus den Labors retour gekommen waren, stellte sich heraus, dass es sich meistenteils seltener um Menschen- als vielmehr um Vogelblut handelte. Das aber verschwieg der Polizeibericht geflissentlich.

Sonja Meggers
Spielzeug-Feuerwehr