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Kultur- und Nachbarschaftszentrum

Buch 2012 kl

Zehn Jahre Bauen und Schreiben am Ostkreuz

 

Als das Rudi, das damals, 2002, noch in einer ehemaligen Fleischerei – oder war es ein Gemüseladen? – am Rudolfplatz residierte und sich schlicht Kiezladen nannte, zum Schreibwettbewerb aufrief, konnte sich kaum jemand vorstellen, dass aus einem kleinen Projekt einer winzigen Arbeitsgruppe mit dem ambitionsgeladenen Namen "Bürgerbeteiligung" eine über die Jahre traditionsstiftende Institution und einer der alljährlichen Fixpunkte im Leben und Treiben des Rudi-Kiezkulturhauses entstehen würde.

Die Viertel südlich der Stadtbahn, auf der Friedrichshainer  bzw. Lichtenberger Seite der Ringbahn, als strukturschwach eingestuft, gehörten Anfang des Jahrhunderts zu einem EU-amtlichen Fördergebiet und genossen deren Fürsorge. Da der Bahnhof Ostkreuz auf der Grenzlinie lag, wurde er titel- und motivgebend für die Schreibwettbewerbe. Darüber hinaus hatte sich das Ostkreuz damals vehement ins Gespräch gebracht, weil aus dem Um- oder Neubau des Bahnhofs, von dem in den Jahren davor immer nur gemunkelt wurde, jetzt Ernst zu werden schien. Es kursierten die ersten computergenerierten Architektenträume vom neuen Ostkreuz. Für die einen war es reine Zukunftsmusik, andere fanden ihn aufgeräumt und sauber, aber hässlich und entdeckten nun, da der Abriss drohte, ihr Herz für den rostig-herben Charme des alten Bahnhofs. Dieser Widerstreit der Bilanzen zwischen Gewinn und Verlust hält bis heute an.

Die Organisatoren des ersten Schreibwettbewerbs hatten noch keinerlei Erfahrungen in diesem Metier, dieser Mangel musste mit viel Begeisterung für die Sache und doppeltem Eifer in den Kleinigkeiten kompensiert werden. Ein Glücksfall war, dass für den Vorsitz der Jury der Grafiker und Schriftsteller Manfred Bofinger gewonnen werden konnte. Sein untrügliches Gespür für gute Texte und seine emphatische, zuweilen präzeptorhafte Art, es an uns weiterzugeben, war prägend für das Konzept und die Struktur des Wettbewerbs. Aus ihm wurde mit der Zeit ein Art "Stil des Hauses", und der sollte sich dann als so robust erweisen, dass er den Schreibwettbewerb über all die Jahre – kleinere zeitgenössische Modifikationen inklusive – weitergetragen hat.

Bofinger zeichnete uns auch das Logo für den Wettbewerb, das seitdem jede Anthologie schmückt. Dank seiner fassten wir den Mut, im folgenden Jahr auch ohne ihn einen weiteren Wettbewerb auszurufen. Mit Ostkreuz 2020 sollte es diesmal um Zukunftsvisionen, Utopie oder Dystopien, gehen.

Die Titel der einzelnen Wettbewerbe, die zugleich einen Themen- und Motivrahmen für die Beiträge setzen, wurden in intensivem Brainstorming und langen Debatten mit noch längeren Denkpausen dazwischen gefunden. Da gab es das Thema, zu denen jedem Schreiber und jeder Schreiberin sofort etwas eingefallen wäre, andere erwiesen sich als schwieriger.

Obwohl sich dann niemand darüber wunderte, konnte man es als schönes, optimistisches Zeichen deuten und erwähnen, dass der Wettbewerb unter dem Titel Liebe am Ostkreuz (2005) der mit der größten Resonanz war. Zur Liebe am Ostkreuz hatten siebenunddreißig Autorinnen und Autoren etwas zu sagen.

Wenn es nicht ein wenig ungerecht gegen alle Übrigen wäre, bekennte ich hier: Meine Lieblings-Anthologie – die mit den frappierenden Texten darin – sind Warten am Ostkreuz (2006), Ostkreuz im Nebel (2007) und Das Ostkreuzspiel (2008).

Wer den kleinen Stapel der Ostkreuz-Anthologien einmal durchgeht, wird leicht feststellen, dass darin Texte recht unterschiedlicher literarischer Qualität versammelt sind. Die Frage, ob es dem Bild des Wettbewerbs nicht zuträglicher wäre, wenn in den Büchern nur die besten Texte erschienen, kam in den letzten Jahren immer wieder auf, wurde diskutiert und dann letztlich doch verneint. Dies ist ein Wettbewerb der Amateure, hier treffen sich Leute, die es einfach lieben etwas aufschreiben und Freude daran haben, sich Geschichten ausdenken. Ich hätte nichts dagegen, unter den eingehenden Texten ein literarisches Genie zu entdecken oder die Erstveröffentlichung des Nobelpreisträgers von 2055 entgegenzunehmen, aber das ist nicht das Ziel dieser Wettbewerbe. Schreiben ist ein Vergnügen und zugleich ein hartes, einsames Geschäft. Und jeder, der dieses Mühsal auf sich nimmt, einen Text produziert und den Mut hat, ihn einem fremden Leser auszusetzen, verdient unser aller Respekt. Und so bleibt es dabei: die Anthologien versammeln alle eingegangenen Texte.

So ein Jubiläum ist auch eine Gelegenheit, einmal ausdrücklich das zu sagen, was im Alltagsgeschäft so leicht untergeht: Danke!

Ein Dank dem Veranstalter, das Rudi-Nachbarschaftszentrum, dem noch jedes Jahr mitunter schwierige Finanzierung dieses Projekts gelang und ohne dessen Infrastruktur und Hardware, dessen netzwerkliche Verbindungen und Erfahrungen in praktischere Problemlösung das Ostkreuz-Projekt nicht zu dem hätte werden können, was es ist, zumal wenn gelegentlich die Termine eng und die Schwierigkeiten groß wurden.

Den Fachfrauen und –männern  in der Jury, die den Wettbewerb mit ihrem Kenntnisreichtum ehrten und sich die Wahl niemals leicht machten.

Den Meister der schwarzen Kunst, die – gemessen an unseren ausgefallenen Extrawünschen und der mitunter unfachgerechten Konfusion, mit der wir sie vorbrachten – erstaunlich selten die Fassung verloren.

Und nicht zu letzt sie, die Autorinnen und Autoren, ohne die das alles Nichts wäre. Unter ihnen gibt es einige, die immer wieder dabei sind, sogar von Anfang an, und schon zur virtuellen Ostkreuz-Familie gehören. Danke.

Die vorliegende, zehnte Anthologie nun ist den Ostkreuz-Verschwörungen gewidmet, und es war erstaunlich zu lesen, welch unterschiedliche Begriffe man von diesem Wort haben kann: stille Zweierverschwörungen auf dem nächtlichen Bahnhof, die massenhafte Verschwörung einer Nagerspezies, die ihr angestammtes Biotop mit ausgeklügelten Terroraktionen verteidigt, die Ostkreuz-Akademiker, der wohl sämtliche einschlägigen Verschwörungstheorien verinnerlicht hat und sie in einem nicht enden wollenden Redeschwall über einen arglosen S-Bahn-Reisenden ergießt oder der kabbalistische Buchstaben- und Primzahlenversteher, der sich mit seinen Rechenkünsten in eine tragisch endende Paranoia stützt… . Viel Stoff für eine verschworene Ostkreuz-Schreiber-Leser-Gemeinschaft!

 

Rainer Fischer Berlin, im September 2012

Buch 2012 kl

Zehn Jahre Bauen und Schreiben am Ostkreuz

 

Als das Rudi, das damals, 2002, noch in einer ehemaligen Fleischerei – oder war es ein Gemüseladen? – am Rudolfplatz residierte und sich schlicht Kiezladen nannte, zum Schreibwettbewerb aufrief, konnte sich kaum jemand vorstellen, dass aus einem kleinen Projekt einer winzigen Arbeitsgruppe mit dem ambitionsgeladenen Namen "Bürgerbeteiligung" eine über die Jahre traditionsstiftende Institution und einer der alljährlichen Fixpunkte im Leben und Treiben des Rudi-Kiezkulturhauses entstehen würde.

Die Viertel südlich der Stadtbahn, auf der Friedrichshainer  bzw. Lichtenberger Seite der Ringbahn, als strukturschwach eingestuft, gehörten Anfang des Jahrhunderts zu einem EU-amtlichen Fördergebiet und genossen deren Fürsorge. Da der Bahnhof Ostkreuz auf der Grenzlinie lag, wurde er titel- und motivgebend für die Schreibwettbewerbe. Darüber hinaus hatte sich das Ostkreuz damals vehement ins Gespräch gebracht, weil aus dem Um- oder Neubau des Bahnhofs, von dem in den Jahren davor immer nur gemunkelt wurde, jetzt Ernst zu werden schien. Es kursierten die ersten computergenerierten Architektenträume vom neuen Ostkreuz. Für die einen war es reine Zukunftsmusik, andere fanden ihn aufgeräumt und sauber, aber hässlich und entdeckten nun, da der Abriss drohte, ihr Herz für den rostig-herben Charme des alten Bahnhofs. Dieser Widerstreit der Bilanzen zwischen Gewinn und Verlust hält bis heute an.

Die Organisatoren des ersten Schreibwettbewerbs hatten noch keinerlei Erfahrungen in diesem Metier, dieser Mangel musste mit viel Begeisterung für die Sache und doppeltem Eifer in den Kleinigkeiten kompensiert werden. Ein Glücksfall war, dass für den Vorsitz der Jury der Grafiker und Schriftsteller Manfred Bofinger gewonnen werden konnte. Sein untrügliches Gespür für gute Texte und seine emphatische, zuweilen präzeptorhafte Art, es an uns weiterzugeben, war prägend für das Konzept und die Struktur des Wettbewerbs. Aus ihm wurde mit der Zeit ein Art "Stil des Hauses", und der sollte sich dann als so robust erweisen, dass er den Schreibwettbewerb über all die Jahre – kleinere zeitgenössische Modifikationen inklusive – weitergetragen hat.

Bofinger zeichnete uns auch das Logo für den Wettbewerb, das seitdem jede Anthologie schmückt. Dank seiner fassten wir den Mut, im folgenden Jahr auch ohne ihn einen weiteren Wettbewerb auszurufen. Mit Ostkreuz 2020 sollte es diesmal um Zukunftsvisionen, Utopie oder Dystopien, gehen.

Die Titel der einzelnen Wettbewerbe, die zugleich einen Themen- und Motivrahmen für die Beiträge setzen, wurden in intensivem Brainstorming und langen Debatten mit noch längeren Denkpausen dazwischen gefunden. Da gab es das Thema, zu denen jedem Schreiber und jeder Schreiberin sofort etwas eingefallen wäre, andere erwiesen sich als schwieriger.

Obwohl sich dann niemand darüber wunderte, konnte man es als schönes, optimistisches Zeichen deuten und erwähnen, dass der Wettbewerb unter dem Titel Liebe am Ostkreuz (2005) der mit der größten Resonanz war. Zur Liebe am Ostkreuz hatten siebenunddreißig Autorinnen und Autoren etwas zu sagen.

Wenn es nicht ein wenig ungerecht gegen alle Übrigen wäre, bekennte ich hier: Meine Lieblings-Anthologie – die mit den frappierenden Texten darin – sind Warten am Ostkreuz (2006), Ostkreuz im Nebel (2007) und Das Ostkreuzspiel (2008).

Wer den kleinen Stapel der Ostkreuz-Anthologien einmal durchgeht, wird leicht feststellen, dass darin Texte recht unterschiedlicher literarischer Qualität versammelt sind. Die Frage, ob es dem Bild des Wettbewerbs nicht zuträglicher wäre, wenn in den Büchern nur die besten Texte erschienen, kam in den letzten Jahren immer wieder auf, wurde diskutiert und dann letztlich doch verneint. Dies ist ein Wettbewerb der Amateure, hier treffen sich Leute, die es einfach lieben etwas aufschreiben und Freude daran haben, sich Geschichten ausdenken. Ich hätte nichts dagegen, unter den eingehenden Texten ein literarisches Genie zu entdecken oder die Erstveröffentlichung des Nobelpreisträgers von 2055 entgegenzunehmen, aber das ist nicht das Ziel dieser Wettbewerbe. Schreiben ist ein Vergnügen und zugleich ein hartes, einsames Geschäft. Und jeder, der dieses Mühsal auf sich nimmt, einen Text produziert und den Mut hat, ihn einem fremden Leser auszusetzen, verdient unser aller Respekt. Und so bleibt es dabei: die Anthologien versammeln alle eingegangenen Texte.

So ein Jubiläum ist auch eine Gelegenheit, einmal ausdrücklich das zu sagen, was im Alltagsgeschäft so leicht untergeht: Danke!

Ein Dank dem Veranstalter, das Rudi-Nachbarschaftszentrum, dem noch jedes Jahr mitunter schwierige Finanzierung dieses Projekts gelang und ohne dessen Infrastruktur und Hardware, dessen netzwerkliche Verbindungen und Erfahrungen in praktischere Problemlösung das Ostkreuz-Projekt nicht zu dem hätte werden können, was es ist, zumal wenn gelegentlich die Termine eng und die Schwierigkeiten groß wurden.

Den Fachfrauen und –männern  in der Jury, die den Wettbewerb mit ihrem Kenntnisreichtum ehrten und sich die Wahl niemals leicht machten.

Den Meister der schwarzen Kunst, die – gemessen an unseren ausgefallenen Extrawünschen und der mitunter unfachgerechten Konfusion, mit der wir sie vorbrachten – erstaunlich selten die Fassung verloren.

Und nicht zu letzt sie, die Autorinnen und Autoren, ohne die das alles Nichts wäre. Unter ihnen gibt es einige, die immer wieder dabei sind, sogar von Anfang an, und schon zur virtuellen Ostkreuz-Familie gehören. Danke.

Die vorliegende, zehnte Anthologie nun ist den Ostkreuz-Verschwörungen gewidmet, und es war erstaunlich zu lesen, welch unterschiedliche Begriffe man von diesem Wort haben kann: stille Zweierverschwörungen auf dem nächtlichen Bahnhof, die massenhafte Verschwörung einer Nagerspezies, die ihr angestammtes Biotop mit ausgeklügelten Terroraktionen verteidigt, die Ostkreuz-Akademiker, der wohl sämtliche einschlägigen Verschwörungstheorien verinnerlicht hat und sie in einem nicht enden wollenden Redeschwall über einen arglosen S-Bahn-Reisenden ergießt oder der kabbalistische Buchstaben- und Primzahlenversteher, der sich mit seinen Rechenkünsten in eine tragisch endende Paranoia stützt… . Viel Stoff für eine verschworene Ostkreuz-Schreiber-Leser-Gemeinschaft!

 

Rainer Fischer Berlin, im September 2012

Kerstin Janke - Von Menschen und Ratten

 

Kerstin Janke
Von Menschen und Ratten

 

Noch atmete der junge Morgen ruhig. Langsam, gemächlich und unbeschwert. Die Luft war angenehm kühl, obwohl die ersten Sonnenstrahlen bereits mutig über den Horizont kletterten.

Mit gedämpftem Ehrgeiz trat Uwe seinen Frühdienst auf der Baustelle am Ostkreuz an. Allzu chaotisch waren die letzten Wochen verlaufen. Unzählige kleine und große Zwischenfälle brachten den Verkehr und die Bautätigkeiten am Ostkreuz immer wieder beinahe zum Erliegen. Ständig hetzte Uwe, als Baustellenleiter verantwortlich für das reibungslose Zusammenspiel aller Beteiligten, von einem Stromausfall zum nächsten abgerissenen Kabel, um den Fehler zu suchen und die Reparatur zu veranlassen.

Es war wie verhext. Es schien, als wolle einfach nichts recht klappen. Dabei hatten er und seine Kollegen die Stromkreise, Schaltkästen, alle Leitungen, alle Dichtungen und auch jedes noch so kleine Detail hundertfach geprüft, getauscht, repariert. Und das alles kurz bevor diese wichtige Bauzwischenabnahme anstand. Unmissverständlich hatte sein Chef ihm klar gemacht, was passieren würde, wenn sich der Fertigstellungstermin des Bahnhofes wegen dieser, wie er es nannte, "kleinen technischen Unwägbarkeiten" erneut verschieben würde. Längst standen nicht mehr nur die Jobs des ganzen Teams auf dem Spiel, sondern die Existenz des Bahnhofs Ostkreuz. Inzwischen waren die Kosten für den Umbau derart explodiert, dass der Vorstand der Deutschen Bahn bereits die Aufgabe des gesamten Projektes diskutierte. Die "Unwägbarkeiten zeigten sich zunehmend unkalkulierbar" hieß es. Von Umgehungsstrecken war die Rede und verstärkter Umlagerung des Verkehrs auf Busse und Straßenbahnen. So wütend hatte Uwe seinen Chef noch nie erlebt. Richtig geschrien und getobt hatte er. Vor dem versammelten Team. Peinlich war das.

So atmete Uwe einmal tief durch, setzte dem genervten Privatmann eine professionell emotionslose Miene auf und schloss seinen kleinen Kontrollraum auf. Drinnen erwartete ihn ein Stapel Notizen, voll gekritzelt mit all den Vor-, Zwischen- und Ausfällen, die der Nachtdienst unerfüllt hatte zurücklassen müssen. Wie jeden Tag würde er es mit gerissenen Stromleitungen, unerklärlichen Kurzschlüssen, mysteriösen Fehlschaltungen, fehlenden Sicherungen und allerlei anderem lästigen Krimskrams zu tun haben. Und nicht zu vergessen der administrative Aufwand, der sich daraus ergab: Jede Schadstelle musste nicht nur behoben, sondern fotografiert, protokolliert und beurteilt werden.

Eben als Uwe seinen Administrations-Koffer mit den notwendigen Utensilien bestückte, klopfte es. Ah, prima, der Kammerjäger war pünktlich. Er würde heute vor allem die zahllosen gerissenen und zerfransten Kabel besichtigen. Sollte sich der Verdacht bestätigen, dass diese das Werk vorwitziger Mäuse oder Ratten sei, würde er eine Strategie erarbeiten, wie dem Getier effektiv beizukommen sei. Nun denn, frisch ans Werk.

Während Uwe mit dem Kammerjäger umherzog, rumpelten die ersten S-Bahnen durch den von jahrelangen Bauarbeiten schwer gezeichneten Bahnhof. Neuerdings erhob sich zwar immerhin schon die neue Bahnhofshalle selbstbewusst und formschön in den Himmel, aber dennoch, der Bahnhof ächzte spürbar unter der täglichen Doppelbelastung aus Verkehr und Baustelle.

'Wenn das doch nur endlich ein Ende hätte', dachte auch Uwe, als er gemeinsam mit dem Kammerjäger immer neue lose Kabelenden entdeckte. Längst hatte der Fachmann sein Urteil gefällt. Hier waren in der Tat Ratten und Mäuse am Werk.

Ob es hier vorher nie Probleme mit dem Nagetier gegeben habe, wollte der Kammerjäger wissen. Bei der Menge an Schäden müssten die Biester hier recht zahlreich hausen. Längst hätte dies auffallen müssen. Nein, Uwe konnte sich an derlei Zwischenfälle in früheren Jahren nicht erinnern. Im Augenwinkel nahm er einen Schatten wahr, der geschmeidig durchs Gleisbett huschte und zwischen allerlei aufgeschüttetem Müll verschwand.

"Kein Problem", bescheinigte indes der Kammerjäger, ein wenig Gift hier und ein bisschen mehr Gift da und man habe das Problem schnell im Griff. Diese Aussicht stimmte Uwe zufrieden, schließlich warteten genug andere Probleme auf ihn.

Doch die Tage verstrichen, ohne dass sich auch nur ein Getier in eine der sorgfältig geplant und ausgelegten Nagetierfallen verirrte. Nicht einmal ein Zufallstreffer, ja nicht einmal eine beim Versuch eine Ratte zu fangen zwar gescheiterte aber wenigstens zugeschnappte Falle. Nichts. Indes die Anzahl der Bissschäden hatte weiter zugenommen. Als Uwe deshalb erneut mit dem Kammerjäger seine Runde drehte, klingelte sein Mobiltelefon. Bereits dieses Läuten schien ihm nervöser, gar aufdringlicher zu sein, als sonst. Mit einem unguten Gefühl meldete er sich. Und in der Tat: Bernhard, als Polier zuständig für den scherzhaft Südkurve genannten Teil der Baustelle, konnte seine Verzweiflung kaum im Zaum halten, als er die schlechte Nachricht überbrachte. Alle Sicherungskästen auf dem Südgelände seien derart zerfleddert, dass alles — und hier musste er regelrecht nach Luft schnappen, um überhaupt weiterreden zu können — neu gemacht werden musste.

"Shit", entfuhr es Uwe. "Ich bin gleich da."

Er zerrte den Kammerjäger mit sich und ließ sich nur wenige Minuten später von dem Polier über das Ausmaß der Schäden informieren. Regelrecht zerfetzte Stromkästen, die üblichen scheinbar zerbissenen Zuleitungen, auf weiten Strecken abgerissene Isolierungen und haufenweise verteilter Müll. Uwe brachte kein Wort heraus. Der Kammerjäger schüttelte den Kopf. Minuten vergingen, ehe er der erste war, der seine Sprache wiederfand:

"Also wenn ihr mich fragt, hat das Rattenbefall nichts mehr zu tun. So viele Ratten können an einem Ort gar nicht leben, dass sie in einer Nacht ein solches Chaos anrichten können." Er wandte sich zum gehen und fügte seine Zusammenfassung des Ganzen einem Todesstoß gleich noch an: "Ihr habt hier keine Ratten, ihr habt ein echtes Problem."

Uwe musste sich setzten. Das konnte, das durfte einfach nicht wahr sein. Er erwog, seinen Job hinzuschmeißen und einfach nach Hause zu gehen. Er hatte echt einfach keine Lust mehr.

"Chef, was nun?" riss ihn der Polier aus den verzweifelten Gedanken. Uwe schloss kurz die Augen und zwang sich, professionell zu reagieren.

"Nimm dir alle Leute zusammen, die du finden kannst. Bis heute Mittag möchte ich eine detaillierte Aufstellung über die Schäden samt realistischer Einschätzung, wie lange die Reparatur dauert. Ich rechne dann aus, was uns der Spaß kostet und leite alles in die Wege."

Bernhard nickte und tat, wie ihm geheißen. Uwe kehrte unterdessen in seinen Kontrollraum zurück. Er arrangierte Termine mit mehreren Gutachtern für den Nachmittag, um endlich genau herauszufinden was hier vorging. Er verständigte die Polizei, da er davon ausging, dass eine Gruppe Jugendlicher des nachts in die Baustelle eingedrungen war und randaliert hatte. Ebenso hielt er es für vorstellbar — auch wenn ihm dieser Gedanke unangenehm aufstieß —, dass die seit Jahren genervten Anwohner jetzt plötzlich zu anderen Mitteln als dem friedlichen Protest gegen die Großbaustelle übergegangen waren. Und, ganz wichtig, er organisierte Verstärkung für den Wachdienst. Fast zwanzig breitschultrige Gesellen würden in den kommenden Nächten die Augen und Ohren offen halten. Und natürlich informierte er seinen Chef, der — es überraschte nicht — einen Tobsuchtsanfall erlitt, böse Beschimpfungen über Uwe ergoss und schließlich seine Nachmittagstermine absagte, um vor Ort den Gutachtern auf die Finger zu sehen.

Nach einem langen Tag sank Uwe später Zuhause in seinen Sessel. Nicht einmal Fernsehen würde ihn heute ablenken können. Die drei Gutachter hatten vier Meinungen und sein Chef sah die Sache noch mal ganz anders. Bissspuren von Ratten wollte einer identifiziert haben, der andere Mäusekot und der dritte erzählte gar etwas von Füchsen, die sich dem Stadtleben immer mehr anpassten. Erstaunlich einig waren sie sich allerdings, dass nur menschliche Gewalt in so kurzer Zeit ein solches Ausmaß an Verwüstung anzurichten imstande sei. Doch warum hatten weder Pförtner und Wachleute noch die Kollegen des Nachtdienstes irgendetwas bemerkt? Sollten sie etwa tatsächlich mit unter dieser unheimlichen Decke stecken und gar mit den Randalierern gemeinsame Sache machen? War er einer Verschwörung auf der Spur? Er konnte und wollte das nicht zu Ende denken, zu gewagt, zu unwahrscheinlich erschien es ihm.

Sein Mobiltelefon riss ihn aus dem Schlaf. Er saß noch immer in seinem Sessel, musste wohl eingenickt sein. Er brauchte nicht aufs Display zu sehen, um zu wissen, dass am Ostkreuz irgendetwas passiert war. Als er das Gespräch annahm, dachte er, er wäre auf alles gefasst. Doch der Ton des leitenden Wachmanns ließ ihm einen Schauer über den Rücken laufen.

"Chef?"

"Ja, ich bin dran."

"Es ist besser, wenn du gleich herkommst. Ich meine sofort, jetzt."

Uwe erschauderte. Ohne ein weiteres Wort legte er auf und fuhr los.

Am Ostkreuz angekommen, hatte er keine Mühe den Ort des Geschehens zu finden. Jede verfügbare Beleuchtung war an der betroffenen Stelle eingeschaltet, man hätte meinen können, ein Ufo wäre vom Nachthimmel gefallen. Uwe erschrak, als er sah, dass sich das Blaulicht von Polizei und Feuerwehr zum allgemeinen Trubel gesellte. Sogar eine kleine Schar von schaulustigen Nachtschwärmern hatte sich bereits zusammengefunden und starrte auf das unglaubliche Schauspiel direkt vor ihnen.

Uwe rannte los und erreichte atemlos den Tatort. Pures Chaos erwartete ihn an der Südbrücke — beziehungsweise dort, wo noch gestern die Südbrücke gestanden hatte. Er traute seinen Augen nicht und hatte Mühe Luft zu holen, denn was er sah, war ungeheuerlich: Die Südbrücke war eingestürzt! Einfach weg. Die Trümmerteile hatten sich weiträumig auf den darunterliegenden bis dato nagelneuen Gleisen verteilt. Mehrere Sicherungskästen standen in Flammen, man vermutete zwei verschüttete Bauarbeiter. Schon jetzt war sich Uwe sicher, dass dies das Ende sein würde. Sein letzter Tag als Bauarbeiter und der letzte Tag der legendären Ostkreuz-Baustelle. Wer immer hier seine Finger im Spiel hatte, er hatte gewonnen.

Als einige Stunden später ein wenig Ruhe einkehrte, saß Uwe allein am Rand der Unglücksstelle und starrte dorthin, wo einst eine Brücke stand. Die Feuerwehr hatte alles gelöscht, beide Bauarbeiter waren glücklicherweise nur leicht verletzt in ein Krankenhaus gefahren worden. Das Bauamt hatte den Schaden begutachtet, seine Beurlaubung dringend angeregt, eine Befragung der Wachmannschaft hatte nichts ergeben. Es war ein Rätsel. War es am Ende einfach Pfusch am Bau? Bissschäden und zerstörte Stromkästen würde dies nicht erklären.

So saß Uwe eine ganze Weile dort, dachte nach und betrachtete jedes Detail der Einsturzstelle. Was nur hatte er übersehen? Im Augenwinkel nahm er eine schnelle Bewegung war. Als er den Kopf in die Richtung drehte, sah er gerade noch eine Ratte in ein Loch am Rande des Grabens verschwinden. Er wünschte sich, sie wären das Problem gewesen, denn mit einfachen Mitteln hätte man ihrer Herr werden können.

Und da noch eine Ratte. Und noch eine. Ein paar Mäuse huschten ebenfalls in das Loch. Ungewöhnlich, dachte Uwe, Ratten und Mäuse in derselben Höhle? Und dann sah er sie: Eine besonders große, fette Ratte marschierte gemächlichen Schrittes über die Trümmer. Als sie kurz vor dem Loch war, hielt sie inne und sah zu Uwe hinüber. Man hätte meinen können, sie starrte ihn regelrecht an. Später würde Uwe selbst daran zweifeln, ob er es wirklich erlebt hatte oder nicht, aber bevor die Ratte zu den anderen in das Loch schlüpfte, ging sie langsam auf ihn zu, fauchte ihn heftig an und verzog ihr Gesicht zu einer schaurigen Grimasse. Uwe stockte der Atem. Ja, er meinte tatsächlich, die Ratte spöttisch grinsen zu sehen.

Denn niemand würde je herausfinden, was genau in diesem Moment in der weiten Höhle abspielte, die sich hinter dem unscheinbaren Eingang an der Brückeneinsturzstelle befand. Tausende und Abertausende Ratten und Mäuse hatten sich hier versammelt. Gezischel, Gefauche und gar Gekreische beherrschten die Szenerie. Hier und da gab es Gerangel und Geschubse, war doch der Platz zu eng für diese große Anzahl an Tieren.

Schon heute würden die meisten einzelnen Gruppen wieder in ihre eigenen Jagdgebiete zurückwandern. Denn ihre Mission war erfüllt. Ihre Mission zu der sie sich hier zusammengefunden hatten: Die Vernichtung des Bahnhofs Ostkreuz. Nur deshalb hatten sie sich hier vorübergehend zusammengefunden und sich gegen die Menschen verschworen. Denn der neue Bahnhof würde mehr Sauberkeit, mehr Menschen und mehr S-Bahn-Verkehr mit sich bringen. Das war so nicht hinnehmbar.

Lange Monate Vorbereitung hatte es sie gekostet. Komplizierte Angriffspläne mit ausgeklügelten Ablenkungsmanövern, speziell formierte Task Forces für Sondereinsätze und lange Listen über die Stellen, an denen Fallen aufgestellt worden waren, wann die meisten Menschen die S-Bahnen benutzten und wann wie viele Bauarbeiter im Dienst waren. Besonders der Brückeneinsturz war eine Meisterleistung: Hunderte Tiere hatten zeitgleich die gesamte Stützkonstruktion untergraben und Sicherheitsbefestigungen gekappt, alles undercover. Was für ein Spaß.

Und sie hatten die Menschen überschätzt. Die heran geschleppten Vorräte hätten noch für viele weitere Wochen Einsatz gereicht. Doch nun war es geschafft: Der Bahnhof Ostkreuz war ein Opfer der Nagetiere geworden. Der neuen gemeinsamen Kraft bewusst, philosophierten die ersten Tiere bereits, was man mit dem Hauptbahnhof anstellen könne…

Katharina Triebe - Falsches Spiel

 

Katharina Triebe
Falsches Spiel

 

"Liebe Mitreisende, hier spricht Ihr Triebwagen-Scout Michael Heinevetter. Ich begrüße Sie aus dem Cockpit der Ringbahn S42 und wünsche Ihnen im Namen unseres gesamten Bahnpersonals einen wunderschönen guten Morgen. Bitte lehnen Sie sich entspannt zurück und genießen Sie den Blick durch die frisch geputzten Scheiben Ihres Waggons!"

"Dear passengers, your driver Mike Heinevetter is speaking. I say hallo from the cockpit of the circle train S42, wishing you a wonderful good morning and a relaxed trip. Enjoy a clear view through the freshly cleaned windows of your wagon."

Die Fahrgäste in der Ringbahn sahen sich irritiert um – überrascht von so viel Freundlichkeit an so einem Ort zu so früher Stunde. Wieder meldete sich die Lautsprecherstimme: "Meine sehr verehrten Fahrgäste, wir haben uns etwas ganz Besonderes für Sie ausgedacht. Von heute an werden wir Sie während der Fahrt mit einem exklusiven, weltweit einmaligen Serviceprogramm verwöhnen. Lassen Sie sich überraschen." Bevor sich die Fahrgäste versahen, erscholl bereits Karel Gotts Biene Maja durch die Lautsprecher der Waggons. Was war heute nur los in der S-Bahn? Die Reaktionen fielen unterschiedlich aus. Manch ein Lesender faltetet genervt seine Zeitung zusammen, Jugendliche fühlten sich beim Telefonieren gestört. Doch viele Mitreisende lächelten. Ja, als Karel Gott bei der zweiten Strophe angelangt war, begann die Generation 40 plus bereits mitzusummen, Wildlederschuhe, Damenpumps und Pfennigabsätze klopften zart den Takt mit. Bei der dritten Strophe konnte der genaue Betrachter bereits erste Schunkelbewegungen in den Reihen der stehenden Gäste beobachten. Ledermäntel, Strickpullover und Outdoorjacken folgten verstohlen dem Rhythmus der Gott'schen Klänge.

Nächste Station Ostkreuz. Die Musik setzte aus, Leute drängten raus und wieder hinein. Unter ihnen auch ein junger Mann in Uniform, auf seiner Mütze die Aufschrift "Ticket-Scout". "Die Fahrscheine bitte!, Your ticket please, votre billet, s'il vous plaît", scholl seine Stimme durch den Waggon. Doch wer jetzt ein entschiedenes "Tut mir leid, wennse keenen jültigen Fahrausweis besitzen, müssense nächste Station mit raus und Strafe bezahlen!" erwartete, wurde getäuscht. Der Ticket-Scout wandte eine völlig neue Kontrolltaktik an, die so genannte "Positivkontrolle". Wer einen gültigen Fahrausweis vorzeigte, bekam einen Gutschein, den er später am Ostkreuz-Kiosk am Ausgang Sonntagstraße gegen ein Erfrischungsgetränk seiner Wahl einlösen konnte. Wer keinen Fahrschein besaß, bekam keinen Gutschein, wurde aber auch nicht mit einer Geldbuße belegt, sondern mit einem aufmunternden Schulterklopfen und einem Handzettel bedacht, auf dem der nächstgelegene Ticketautomat genannt war. Dieses neue Bonussystem nannte sich Pro(st)-Fahrschein und kam ausgesprochen gut an bei den Fahrgästen. Einige Stationen später traten mehrere "Service-Scouts" in die Waggons, die die Aufgabe hatten, sich um die Bequemlichkeit der Gäste zu bemühen und noch leere Plätze zu vermitteln. "Gnädige Frau, in Fahrtrichtung rechts ist gerade ein Fensterplatz frei geworden, darf ich Sie dorthin begleiten?" Oder "Mein Herr, Sie gestatten, dass ich Sie von der alten Zeitung unter Ihrem Fuß befreie?" oder an drei kräftige kahlköpfige Bauarbeiter gewandt "Bitte nehmen Sie doch die junge Dame zu sich, es ist ja noch genügend Platz neben Ihnen". Ein rothaariger Bartträger ohne Deutschkenntnisse, vermutlich irischer Herkunft, versuchte herauszubekommen, wie er zum Lehrter Bahnhof käme. Die Service-Scouts riefen sofort per Funk einen englisch sprechenden Scoutkollegen heran, der bereits drei Stationen später zustieg und dem Barbarossa den Weg erklärte. Als sich draußen dunkle Wolken zu einem Gewitter zusammenschoben, verteilten die Service-Scouts so genannte Pfandschirme, die man für einen Euro erwerben und bei Sonnenschein dann wieder zurückgeben konnte. Selbstverständlich bekam man dann auch den Euro zurück. Es gab dezent karierte für die Herren und rot gepunktete für die Damen, die durch ihre Farbgebung den Teint zusätzlich vorteilhaft betonten. Auf beiden Schirmsorten war auch ein Foto vom Baugeschehen am Ostkreuz abgebildet, darunter die Aufschrift "Wer Ringbahn fährt, fährt nie verkehrt".

Die Reisenden waren starr vor Staunen. Misstrauische Gesichter überall, viele glaubten zu träumen. Doch am nächsten und übernächsten Tag das gleiche Spiel. Man witterte eine groß angelegte Verschwörung. Im Internet kursierten Gerüchte über Twitter, dass Bahnchef Grube Fahrpreiserhöhungen plane und mit dieser Taktik die Leute bei Laune halten wolle. Andere wieder vermuteten, dass die Piraten dahinter steckten und mit dieser Strategie Wählerstimmen für die nächste Bundestagswahl gewinnen wollten.

Überraschendes offenbarte sich den Passagieren vor allem am Ostkreuz. Überall hingen Werbetafeln mit verblüffenden Sprüchen wie: "Die S-Bahn kommt, steig nur schnell ein, wirst vor dem Chef auf Arbeit sein", oder "Wanderer, kannst nach langem Marsch du nicht mehr gehen, mach's dir in der Ringbahn nur recht bequem" oder "Lass dein gültiges Ticket sehn und du wirst nicht durstig nach Hause gehen". Alles in allem eine Entwicklung, die mit einer gewissen Erregung, aber durchaus auch wohlwollend aufgenommen wurde.

Bereits nach einer Woche war Erstaunliches zu beobachten. Fahrscheinkontrolleure waren nicht mehr gefürchtet oder gar körperlicher Gewalt ausgesetzt, nein, wenn sie einen Waggon betraten, erscholl stürmischer Applaus, Bravo-Rufe erklangen. Jeder wollte als erster seinen gültigen Fahrschein zeigen – und einen Gutschein kassieren. Abends bildeten sich dann lange Schlangen am Getränkekiosk Ausgang Sonntagstraße, um die Gutscheine gegen ein Erfrischungsgetränk einzulösen. In allen Zeitungen wurde das neue Serviceorientierte Verhalten der S-Bahn gelobt. Im Topmanagement des Eisenbahnbundesamtes herrschte ausgelassene Stimmung; die neue "Charmoffensive Ostkreuz" war offensichtlich ein voller Erfolg. Monatelange Diskussionen und detaillierte Planungen waren dieser Offensive vorangegangen – und vor allem eines – strengstes Stillschweigen war vereinbart worden. Zu oft schon hatte die S-Bahn ihre Fahrgäste enttäuscht. Diesmal sollte der ganz große Coup gelandet werden, und dass das gelungen war, zeigten die rasant ansteigenden Fahrgastzahlen. Ein duales Studium bei der Bahn besaß plötzlich höchste Attraktivität und löste den Traumberuf "Topmodel" vom ersten Platz ab. Horst Bäumlich, der Leiter des Eisenbahnbundesamtes, wurde für das Bundesverdienstkreuz in Silber vorgeschlagen.

Schulzki fuhr den Laptop runter, klappte ihn zu und legte ihn in den Aktenkoffer. Er warf einen letzten prüfenden Blick auf den aufgeräumten Schreibtisch, nahm das Jackett vom Haken und verließ sein Büro. Mehr als zwanzig erfolgreiche Jahre hatte er im Gebäude des Eisenbahnbundesamtes gearbeitet, in den letzten Monaten allerdings hatte sich die Situation gewandelt und die Freude an der Arbeit war einer starken Unsicherheit gewichen. Er würde nicht wieder zurückkehren an diesen Ort, sein Entschluss stand fest.

Draußen schien die Abendsonne. Es war schon einige Minuten nach 18 Uhr; in einer knappen Stunde wollte er bereits bei Vorstetten in der Redaktion sein. Im Taxi entspannte er sich endlich, wenn alles gut lief, war er morgen bereits in der Schweiz und fing ein neues Leben an. In der Axel-Springer-Straße hielt das Taxi vor dem Redaktionsgebäude der BILD-Zeitung. Schulzki zahlte und legte noch ein kleines Trinkgeld drauf. Im Foyer der Redaktion steuerte er auf den Empfangstresen zu. "Schulzki mein Name, Herr Vorstetten erwartet mich." Er bekam einen Besucherausweis ausgehändigt und fuhr ins 5. Obergeschoss, Raum 134. Ein Schild an der Tür verkündete: "BILD-Zeitung, Redaktion Wirtschaft, Dr. Jürgen Vorstetten". Auf sein Klopfen ertönte eine Stimme von drinnen: "Herein mit Ihnen". Vorstetten zeigte einladend auf einen Sessel an seinem Schreibtisch, nahm ebenfalls Platz und kam sogleich zum Kern der Sache: "Wenn das stimmt, Herr Schulzki, was Sie da gestern am Telefon angedeutet haben, dann sind Sie in Kürze ein reicher Mann und ich habe eine Topstory für die Titelseite. Schießen Sie mal los – Sie gestatten, dass ich mein Aufnahmegerät laufen lasse?" Schulzki nickte und erzählte.

Er war als Abteilungsleiter "Ostkreuz-Koordinierung" direkt dem Leiter des Eisenbahnbundesamtes, Horst Bäumlich, unterstellt. Seit mehr als 7 Jahren gingen alle Fäden zum Thema "Baugeschehen Ostkreuz" durch seine Hand. Jede Planänderung, jeder Neuvorschlag und sämtliche Budget-Abstimmungen wurden von beiden gemeinsam diskutiert, geprüft, bestätigt oder abgelehnt. Das hatte jahrelang wunderbar geklappt – bis vor einigen Monaten. Seitdem schien Bäumlich Geheimnisse vor ihm zu haben. Als Letzterer mit der "Charmoffensive Ostkreuz" ganz groß rauskam, erntete er allein die Lorbeeren und das höchste Lob, während Schulzki sich seltsam ausgeschlossen fühlte. Irgendwas stimmte da nicht, nur was? Woher nahm die Bahn plötzlich soviel Geld, dass sie ihren Fahrgästen diesen extravaganten Service anbieten konnte ? Er grübelte und beobachtete, ließ Horst Bäumlich und dessen Sekretärin Mandy-Vanessa nicht mehr aus den Augen, bis ihm schließlich das Glück lachte. In einem Moment, als die Sekretärin vor dem Eisenbahnbundesamt eine Rauchpause einlegte und Horst Bäumlich auf einer Dienstbesprechung weilte, betrat er kurz entschlossen das leere Sekretariat und fand, was er suchte – Hintergrundinformationen zur "Charmoffensive Ostkreuz".

"Ich habe Ihnen davon Kopien mitgebracht." Schulzki reichte Vorstetten eine Mappe mit Dokumenten, die dieser eifrig ergriff. "Kurz gesagt", fuhr Schulzki fort, "handelt es sich um ein Komplott zwischen dem Regierenden Bürgermeister und dem Leiter des Eisenbahnbundesamtes. Da der Flughafen Berlin Brandenburg International nicht rechtzeitig zum 3. Juni 2012 fertig wurde, geriet der Regierende Bürgermeister als Aufsichtsratsvorsitzender unter schwerste Kritik, Rücktrittsforderungen wurden laut, Negativschlagzeilen über ihn prangten auf den Titelseiten aller Tageszeitungen. Um das Medieninteresse von sich abzulenken, war der Regierende auf den Leiter des Eisenbahnbundesamtes zugegangen und hatte ihn aufgefordert, das Geld für den Börsengang der Deutschen Bahn sofort in eine 'Charmoffensive Ostkreuz' zu investieren. Als Gegenleistung dafür versprach er ihm, dass die Bahn bei der Ausschreibung der Linien S41, 42 46, 47 und 8 ab Ende 2017 den Zuschlag erhalten würde. Konkurrenten wie Veolia und die BVG würden keine Chance haben."

"Sie sehen ja, wie sich Bäumlich entschieden hat", endete Schulzki. Vorstetten war dem Bericht mit Spannung gefolgt und strahlte schließlich über das ganze Gesicht. Das war tatsächlich eine spektakuläre Story, damit konnte er bei der Veröffentlichung ordentlich punkten und womöglich auf den demnächst frei werdenden Chefredakteursposten hoffen. Er schlug Schulzki begeistert auf die Schulter. "Famose Story, Schulzki, die ist mir eine Million Euro wert." Auf der Stelle holte er ein Scheckformular aus dem Schreibtisch heraus. "Haben Sie schon Pläne?" Schulzki lachte geschmeichelt. "Morgen geht’s ab in die Schweiz", antwortete er stolz und bat noch schnell darum, die Währung von Euro auf Schweizer Franken zu korrigieren, da der Wechselkurs momentan so ungünstig sei.

Nach einem letzten Händedruck verließ er die Redaktion hochzufrieden mit dem Scheck. Vorstetten ging kurz darauf ebenfalls hinaus, im Aktenkoffer die Kopien der Unterlagen und das Tonband. Sein Auto wartete in der Tiefgarage. Er legte den Aktenkoffer auf den Rücksitz und fuhr in Richtung Alt-Stralau, wo er eine Eigentumswohnung besaß. Das Wetter hatte umgeschlagen, keine Spur mehr von mildem Spätsommer. Regen peitschte auf die Straße. Auf dem Markgrafendamm, kurz vor dem S-Bahnausgang, wo die Kurve rechts herum zum Wasserturm führte, war ihm, als laufe ein Schatten direkt auf ihn zu. Er riss das Lenkrad erschrocken nach rechts, geriet ins Schleudern und krachte ungebremst gegen den Brückenpfeiler.

Der Wagen war sofort Schrott und auch für Vorstetten kam jede Hilfe zu spät.

 

Schulzki nahm am Flughafen Tegel die 22-Uhr-Maschine nach Zürich, löste am nächsten Morgen bei der dortigen Credit Suisse seinen Scheck ein und eröffnete ein Konto für die Million. Er hatte bis auf Weiteres ein Zimmer in einem kleinen unscheinbaren Hotel genommen. Eine Weile wollte er dort wohnen und die Situation in Deutschland aus der Ferne beobachten. Spätestens zu Weihnachten jedoch würde er sich ein Haus am Genfer See kaufen und sein Leben genießen. Gesagt, getan. Jeden Morgen holte er sich im Tabakladen neben dem Hotel ein BILD-Zeitung und suchte die Topstory zum Ostkreuz. Sie erschien niemals.

Peter Grünwald - Die Ostkreuz-Akademie

 

Peter Grünwald
Die Ostkreuz-Akademie

 

Verzeihen Sie, dass ich Sie anspreche Verehrtester, aber mir ist nicht entgangen, dass Sie seit geraumer Zeit auf dieses Loch im Erdreich starren. Ja, das da unten, gleich neben Gleis vier der Stadtbahn. Das gibt ihnen zu denken nicht wahr? Mir auch! Aber man kommt nicht ran. Zu viele Zäune. Nachts schleichen hier Wachmänner herum, in Operettenpolizistenuniformen, und die sind noch gefährlicher als echte Bullen. Aber von ein paar Graffitikünstlern und Aerosoljunkies, die hier ihr Revier haben, weiß ich, dass das Loch mindestens dreißig Meter tief ist. Wozu zum Henker braucht jemand ein Dreißigmeterloch auf einem Bahnhof, frage ich Sie. Die denken das merkt keiner, aber irgendjemand merkt immer was. Verlassen Sie sich drauf. Und unter denen sind Typen, die sind noch viel verrückter als Sie und ich. Ich meine jetzt nicht die Schwachköpfe in den Liegestühlen, die nachts Ufos suchen, sondern echte Autisten, menschliche Taschenrechner. Denen entgeht nichts. Die können ihnen locker vorrechnen, dass man von dem ganzen Beton und all den Stahlprofilen, die sie hier herangekarrt haben, mindestens drei Ostkreuze hätte bauen können. Wo ist das Zeug geblieben, frage ich Sie, und unter denen gibt es ein paar verdammte Genies, die mühelos das unverbundene verbinden können und deren Theorie ist, dass sich unter der Ringbahn ein Teilchenbeschleunigertunnel befindet, so wie der vom Cern in der Schweiz. Nur eben, dass dieses Ding geheim ist und kein Schwein etwas davon mitkriegen darf. Und wenn man fragt, wird das nicht etwa bestätigt oder dementiert, sondern es heißt nur "Schnauze halten". Aber vielleicht dient das Gerücht vom Teilchenbeschleuniger nur dazu, eine noch größere Geheimsauerei zu vertuschen.

Ausgrabungen sind auch eine gute Tarnung. Man setzt während der Bauarbeiten die Nachricht von einem bedeutendem historischen Fund in die Welt, dann ein großes Zelt über das Loch und darunter können sie dann sonstwas anstellen. Archäologen, dass ich nicht lache. Archäologen graben etwas aus, aber diese Typen haben Dinge verbuddelt, das weiß ich. Ich habs gesehen! Um einen Teilchenbeschleuniger zu betreiben braucht man ein paar Millionen Gigawatt, deren Stromrechnung muss saftig sein.

Und dann der Typ, vom BND, der hier eine zeitlang herumgelungert hat. Sein Codename war Pastor von Pullach. Ja, so bizarr sind die da. Er nannte sich Überläufer, entwichener Patient trifft vielleicht eher zu. Jedes mal wenn er mit uns redete, begann er mit diesem Satz: "Falls sie je gefragt werden ob dieses Treffen stattgefunden hat, werden sie das strikt verneinen!" Und das Zeug das er redete, großer Gott. Er und die paar Freaks, die immer um ihn herum waren, die hatten manchmal wirklich erstklassige Informationen über Staatsgeheimnisse, Ufosachen und so, aber ihre Ideen waren überwiegend gespenstisch. Das waren die schlimmsten Paranoiker denen ich je begegnet bin. Lauter Wahrheiten für die die Menschheit noch nicht reif ist, aber es soll ja auch Leute geben, die denken Punto di Fuga sei ein Dorf in der Toscana. Armer Alberti. Mit denen kannst du auch nicht Cluedo spielen. Die rechnen dir vor, dass nur das Opfer der Täter sein kann und denken Sie nicht wir hätten die nicht gewarnt.

Die Gestalten in Schutzkleidung, immer nachts mit ungekennzeichneten Fahrzeugen "Lasst das Zeug doch einfach drin", haben wir gesagt, aber sie ließen es rausholen, säubern und einpacken und nahmen es mit die Trottel. Da halfen auch die Protestbriefe eines Indianerstamms aus Tierra del Fuego und Tonnen ethnologischer Gutachten nichts. Die hielten den Chupacabra für ein Märchen. Nur die Ratten waren schlauer. In jener Nacht hat eine Million Ratten das Ostkreuz verlassen. Ihr panisches gepiepse gellt mir heute noch in den Ohren, es war widerlich.

Eine Amaru-Urne ist so etwas wie die Büchse der Pandora, die stellt man nicht beschriftet in eine Vitrine sondern lässt sie da wo sie ist und vergisst sie möglichst. Manche Dinge sollten lieber begraben bleiben.

Sie kennen doch diese Stände mit französischem Backwerk, die gibts auf jedem Bahnhof: "Warum?" … frage ich Sie, da ist doch was faul. Neben so einem Stand haben sie neulich Paul gefunden.

Paul war auch einer von diesen Irren die hier herumhängen alles anstarren ohne dass man ihnen anmerkt was sie sich dabei denken. Die kritzeln dir eine Thermodynamikgleichung auf einen Bierdeckel aber wenn du denen eine Zahnpastatube zeigst wissen sie nicht was das sein soll. So einer war er und eines Morgens fand man Paul, wie gesagt, neben dem französischen Backwerkstand, oben auf der Ringbahn. Er soll grauenhaft ausgesehen haben, als wären die Armeen der Finsternis an ihm vorübergezogen, eine nach der anderen. Der Notarzt konnte nichts mehr für ihn tun und dann kamen auch gleich die Burschen in den weißen Overalls und haben als erstes ein Zelt über dem Ort des Geschehens errichtet. Im Autopsiebericht soll als Todesursache Unterkühlung gestanden haben. Unterkühlung, ich bitte Sie, ein sechzehnjähriger, in einer Julinacht stirbt in einer Bahnhofshalle an Unterkühlung das fasst man nicht, aber das ist ein Trick indem sie den Gerüchten durch absichtlich unglaubwürdige Erklärungen neue Nahrung geben bleibt die eigentliche, die ganz große, Scheiße weiterhin schön im verborgenen. Pauls Freundin Bambi hat das ganze aus der nähe mit ansehen müssen. Sie liegt immer noch auf der Intensivstation und plappert wie ein Äffchen. Sie heißt tatsächlich Bambi, das ist der Name den ihr ihre liebenden beknackten Eltern, Hobbynaturkundler, einst gegeben hatten.

Früher waren die Computernerds meistens picklige Jungs die keine Freundin abgekriegt hatten und so irgendwie in ihren Kinderzimmern hängengeblieben waren. Über die haben wir wohlwollend gelächelt, harmlose Irre, aber jetzt sind immer mehr Frauen dabei und die sind zum fürchten sage ich ihnen. Sehen aus wie Kindergärtnerinnen oder BWL-Studentinnen, aber wenn sie mal von ihren Displays wegkommen, und die Tastaturen, die die natürliche Verlängerung ihrer Fingerspitzen zu sein scheinen, einen Augenblick Ruhe geben und sie dich ins Auge fassen, gefriert dir das Blut in den Adern. Alter, das kann ich Ihnen sagen.

Meistens sind sie oben am nördlichen Ende des Ringbahnsteigs. Da hocken sie mit ihren verkratzten, verbeulten Notebooks. Überall Klebeband, die Schnittstellen bestückt mit bizarr anmutender selbstgelöteter Hardware. Aber täuschen Sie sich nicht, die Dinger sind kein Schrott, das sind Superrechner, solche hat nicht einmal das Innenministerium. Die hacken sich in eins der umliegenden WLAN s und können sich jede Information verschaffen. Alle die Wahren und die Falschen. Wenn sie sich in den Netzen bewegen wird es um so bizarrer je verbotener, abgeschotteter, gesicherter das alles ist. Wie kommt eine Dreijährige, als Geheimakte, in den Computer des Verteidigungsministeriums? Das ist doch echt krank. Nein, nein lassen Sie nur das war eine rhetorische Frage. Natürlich waren das keine Files, im Klartext, das war eine schnittige 128-Bit-Verschlüsselung. Sie hatten das Baby gut versiegelt aber für Bambi und ihre Komplizinnen gibt es keine Hindernisse, nur Herausforderungen, jedenfalls so lange es sich in der Welt der Daten abspielt. Im wirklichen Leben sind sie hilfloser als Sie und ich und machen einen dummen Fehler nach dem anderen aber einen Code knacken das können sie doch was dann heraus kam war eher ernüchternd.

Ein Shakespearesonett, ein paar Zeilen aus dem Koran, Leonardos goldener Schnitt, ein bisschen altes Testament, ein paar Takte aus Bachs brandenburgischen Konzerten, die Goldbachsche Vermutung, ein Absatz aus Hegels Phänomenologie "Dantes Inferno". So was, lauter Schnipsel, als ob ein gelangweiltes Kind seine Spielzeugkiste ausgekippt hätte oder als ob Voyager mal auf ein paar Drinks vorbeigekommen wäre und am Ende hatten die Schweine noch eine Überraschung parat, eine Art perfides Addendum. Das Virus tauchte auf wie Deus ex Machina und war sehr gründlich. Jede Maschine, die damit in Berührung kam, war auf der Stelle mausetot. Bambi hat das Virus dann schließlich extrahiert. Ein paar weitere Rechner sind dabei drauf gegangen. Es waren nur einige wenige Zeilen Computercode, sehr simpel, sehr elegant, sehr sexy, Zitat Bambi. Sie trug es in einem Stick um den Hals, wie ein Amulett. Sie hätte es gern mal getestet, aber es ging nicht, es einfach ins Netz zu entlassen. Es brauchte einen materiellen Hardwarenexus. Also stiegen sie eines nachts beim Einwohnermeldeamt ein, es ist immer wieder erstaunlich, wie schlampig die Behörden hochsensible Daten sichern, fanden den Server und dann hinein damit in sein gieriges Laufwerk und dann war nur noch stille und Finsternis. Die rätseln heute noch darüber was ihnen passiert ist. Deren Experten einigten sich schließlich auf elektromagnetische Schockwellen, ausgelöst durch ein Gewitter das zum Glück parallel lief.

Wir Verschwörungstheoretiker, wir selber nennen uns lieber die mit dem Glauben, wir sind ja keine geschlossene Gruppe, da gibt es Fraktionen noch, und noch die, die ernsthaft an der reinen ganzen Wahrheit interessiert sind. Dann die Typen die es schlicht geil finden, krausen Unsinn in die Welt zu setzen, dann leicht gestörte arme Schweine, die nicht wissen wohin und einfach nur dabei sein wollen und schließlich die Spitzel und Undercovertypen, die versuchen das ganze zu ordnen und zu kontrollieren. Geheime Unterabteilungen, irgendwelcher Geheimdienste, mit Leuten die wohl selber nicht wissen ob sie da nun mitmachen weil sie brillant oder weil sie entbehrlich sind. Ich hatte schon öfters mit denen zu tun. Sie haben eine schwäche für opernhafte Auftritte und Tarnungen, die so merkwürdig offensichtlich sind, dass man sie gar nicht in Erwägung zieht.

Normalerweise würde ich Fremden, die in meinen Schuppen kommen, sagen sie sollen sich verpissen, aber bei denen tat ich es nicht. Es waren Männer in Reichsbahnuniformen, alten, aus der Nachkriegszeit, aber diese waren nicht alt, sie waren nagelneu. Sie zeigten mir ein Dokument. Es war eine Art Protokoll einer Entführung durch Aliens. Das Ganze merkwürdigerweise schon in Form eines Filmdrehbuchs geschrieben. Das las sich wie die Zusammenfassung einer Episode aus Rocky und Bullwinkle. Sie fragten mich ob ich etwas damit zu tun hätte, und wenn nicht, wer dann. Als wäre ich mit sämtlichen Irren der Stadt persönlich bekannt und dabei schlugen sie einen Ton an, wie man ihn aus Hardcore-Thrillern kennt. Falls doch, sollte ich die Schnauze halten und falls nicht, wäre ich ein toter Mann oder umgekehrt. Ich weiß nicht mehr so genau. Dann trat einer der Typen vor und sagte er wäre vom Max-Planck-Institut für Neurotheologie, - gibt`s das überhaupt? - und hätte an dieser Sache nur ein rein wissenschaftliches Interesse. Dann fixierte er mich und murmelte ich wäre jetzt sehr schläfrig und wirklich entspannt. Danach zeigten sie mir ein anderes Manuskript, das aber nur eine Version des ersten war, und die enthielt noch mehr dummes Geschwätz als die vorige. "Und was gibt`s sonst neues?" habe ich die Typen gefragt. Ja Verehrtester, schließlich habe ich nicht all die Jahre Star Trek gesehen ohne etwas über Mut zu lernen. Die Reichsbahner sahen mich nur böse an, wiederholten ihre Drohungen und zogen von dannen. Ach ja der Neurotheologe fragte mich noch, ob der eine von den Aliens tatsächlich einen russischen Akzent gehabt hätte.

Man fasst es nicht. Ich war mir danach allerdings tagelang nicht sicher, ob diese Begebenheit überhaupt stattgefunden hatte, aber diese Burschen hatten es nicht drauf mit meiner Psyche rumzufummeln. Die nicht, dazu waren sie zu blöd. Allerdings kann diese Blödheit auch der abgefeimteste Teil ihrer Tarnung sein. Bei anderen, die ähnliche Erlebnisse hatten, bin ich mir nicht sicher. Bei denen war das nicht bloß eine Amnesie nach einem Schock, sondern ein gezielt herbeigeführter Gedächtnisverlust. Mit was für Kerlen hatten die sich eingelassen? Es soll ja Chips, geben die nicht nur schlichte Informationen verarbeiten, sondern auch die mentalen Prozesse von Menschen replizieren können. Barney jedenfalls behauptete das.

Barney war eine Legende. Wie er zu dem Namen kam, weiß ich nicht, jedenfalls hatte er keine Ähnlichkeit mit Barney Geröllheimer. Barney hatte mit niemand Ähnlichkeit und manche behaupteten sogar, er wäre keineswegs das Produkt einer polygenen Paarung, aber so weit möchte ich nicht gehen. Barney war einer der größten Visionäre hier am Ostkreuz. Er hatte eine Vorliebe für geblümte Rhetorik. Wer sich mit ihm abgab, musste Zeit mitbringen, aber es lohnte sich. Sein Unterhaltungswert war enorm, das mussten selbst die größten Skeptiker, für die er nur ein weiterer Verrückter war, der den Mond anheult, zugeben. Man kann die Computerbranche in zwei Typen von Menschen einteilen. So begann einer seiner mit sokratischen Gesten untermalten Vorträge, gepflegt oder ungepflegt. Die gepflegten haben es gerne ordentlich. Sie tragen gebügelte Anzüge und arbeiten an Oberflächenphänomenen also langweilig. Die ungepflegten haben eine innige metaphysisch, konnotierte, nachgerade, symbiotische Beziehung zu ihrem Gegenstand. Rastlose Gemüter, verrückt nach Puzzles. Sie ziehen Vergleiche zwischen ausgemacht unvergleichbarem, sehen Beziehungen die andere nicht erkennen können und haben eine Vorliebe für ausgeklügelte Spiele. Barney sagt, er habe im Keller seines Elternhauses seine Firma gegründet, nachdem er ein Jahr mit Grateful Dead auf Tournee war. Unter uns gesagt, er ist der Band von Stadt zu Stadt nachgereist. Seine Firma hieß Purple Rain. Purple Rain, tolles Album, aber mieser Film. Wegen des Namens kriegte er Ärger mit den Warnerbrüdern und so nannte er sich fortan "Rat Tail Productions". Kommerzielles Kernstück seiner Firma war eine Art Versandhandel. Angeblich verbotener Videos, Dokumente von geheimen Operationen, vorzugsweise von Ufosichtungen und Autopsien an Außerirdischen. Er will sie nachts mit seiner Satellitenschüssel empfangen haben, aber wenn sie mich fragen, ich hielt das von vornherein für dubiosen Müll. Zwar bin ich einer der glaubt, aber ich glaube nicht jeden Scheiß. Barney glaubte fest daran. In seinen Redeschwall pflegte er Kalauer einzustreuen, wir kannten sie bald auswendig. So wie diesen, "habt ihr schon mal eine fliegende Untertasse geflogen, danach kommt euch Sex trivial vor". Den zweiten teil des Satzes grölten wir dann immer im Chor. Ja so war er, unser Barney.

Irgendwann ist er dann darauf gekommen, dass seine so genannten Dokumentarvideos, aus angeblich authentischer Quelle, Fälschungen waren, untergeschoben von einer Infiltrationseinheit. Was weiß ich welchen Geheimdienstes das war, schlimm für ihn. Er fuhr zu seiner Oma, um Distanz zu gewinnen, ging auf die zugefrorene Ostsee hinaus um über alles nachzudenken. Man hat ihn danach nie mehr gesehen. Verschwunden, verschollen, untergetaucht, niemand weiß etwas. Manche glauben, er habe seinen Tod nur inszeniert, aber wissen sie wie schwierig es ist, den eigenen Tod zu fälschen? Das hat bisher, mal abgesehen von Jesus, das ist ein Sonderfall, nur einer geschafft. Elvis!

Oh Telefon, entschuldigen Sie, ich muss da mal rangehen, ist wichtig. Hallo? Jaja ich weiß schon. Wenn sie mir ihren Namen sagten, müssten Sie mich erschießen. Das klingt wie eine alte Anmache von mir. Wollen Sie mich wieder zu einer verdammten Ufojagd verleiten? Danke, besser als Sie erwartet oder besser als Sie gehofft hatten.

Da gibt es eine Stelle die sie die gelbe Basis nennen, unter der ehemaligen Nordkurve, wo sie das ganze Zeug lagern. Ja alle Ufo-Geheimdienstakten seit Roswell.

Nein, hundert Meter vor der Straßensperre hatten die mich schon. Und Sie hat tatsächlich das Auto zu Schrott gedacht? Sind Sie sicher? Klar psychokinetische Manipulation. Das gibt`s, so ein Poltergeist-Ding, wie Carrie auf den Schulball, aber Vorsicht, die Braut ist reine Energie.

Jede Woche eine Wunderheilung, sonntags können`s auch mal zwei werden. Ja Gleis vier, gleich neben dem alten Wasserturm. Nein, das reicht. Ich glaube nicht, dass sie schon reif für meine Gedanken sind. Sie müssen schon meiner Brotkrümelspur folgen. Dann beeilen Sie sich. Sie haben maximal zwei Stunden bevor die eintreffen. Danach ist es so als wäre nie etwas passiert, und Vorsicht, die Soldaten Satans können sich dort frei bewegen. Pass auf und lerne. Das ist aber mein Spruch. Ja, ich bin auch sicher, dass wir dieses Gespräch niemals geführt haben. Ciao.

So da bin ich wieder. Wie ich eben hörte soll es wieder gesichtet worden sein, das Ding, das wir unter uns "Ostkreuz-Bigfoot" nennen. Die Analogien, die man zur Hilfe nehmen müsste um es zu beschreiben, sind allesamt zu schwach für das was Bigfoot ist. Es ist unbeschreiblich. Ich habe es einmal gesehen im halbdunkel unter dem Ringbahnviadukt. Kennen Sie das, wenn der Kaugummi vor Schreck aufhört sich breitkauen zu lassen? So war das und obwohl von der äußeren Form her eher vage ein waberndes Etwas, so eine art Yeti von Baskerville. Da versagen, wie gesagt, alle Analogien, war es von einer unglaublichen physischen Präsenz. Es schien sogar eine eigene Atmosphärenhülle zu haben. Eine khakifarbene Aura, die klebrig aussah und stank, wie hundert umgestürzte Chemieklos. Das war nicht nur irgendetwas schreckliches, nein, das war noch mehr. Das war etwas, das nicht das recht hatte den gleichen Planeten wie ich zu bewohnen. Es war nicht ersichtlich warum es da war, was es wollte, was seine Intentionen und Motive waren. Es tappte herum, war einfach nur da und manchmal nicht und wer es erblickte, erstarrte zur Salzsäule.

Tommy, der kleine Rotzlöffel von Gleis zwei, ist Bigfoot wohl mal zu nahe gekommen. Tommy fiel in ein wochenlanges Koma, danach psychiatrische Behandlung. Aber wer immer das gemacht hat, er hat es falsch gemacht, denn seitdem redet Tommy in Zungen. Einer von den Ringbahngenies, der sich in Kryptolinguistik oder Archäolinguistik auskennt, hat Tommys Kauderwelsch schließlich als eine Spielart des Aramäischen, eine art pidgin-aramäisch identifiziert.

Was hat denn das nun wieder zu bedeuten? Ich sage immer, Gott schuf Himmel und Erde und gab damit an wie zehn nackte Neger. Doch er verlor kein Sterbenswörtchen von seinen Nebenprojekten. Ich muss weiter darüber nachdenken, aber nicht jetzt und hier. Das ist ein Drei-Gauloises-Problem, mindestens. Ich sage ja nicht das alles hier paranormal ist. Das Ostkreuz ist ein ganz gewöhnlicher Bahnhof, keine Sorge. Aber wie ich das sehe scheint das Ostkreuz daneben eine art Hotspot des paranormalen zu sein, wodurch selbst den alltäglichsten Dingen und Begebenheiten ein paranormales Bouquet anhaftet, wenn Sie wissen was ich meine. Nein, beunruhigen Sie sich nicht, das hier wird nicht der Fluch der Mumie, es gibt keine Kratzspuren am Sargdeckel. Ich werfe ihnen ein Seil zu. Sie dürfen sich jetzt nicht damit aufhängen. Butch und Sundance reiten wieder, Pinky und Brain greifen nach der Weltherrschaft.

Noch verhält sich mein Toaster unauffällig, aber wer weiß. Denn welche teuflischen Schläferchips Sie dort reingebaut haben. Ich verlasse Sie jetzt. Danke für ihre Zeit. Einen schönen Tag noch und denken Sie dran, die Lüge ist irgendwo da draußen.

Sonja Hoffmann - Nix mit wie immer

 

Sonja Hoffmann
Nix mit wie immer

 

Ich wuchs in einem winzigen Nest in der Mitte von Deutschland auf, dessen wirtschaftlicher Knotenpunkt "Tante Bernies" war, eine, retrospektiv betrachtet, heruntergekommene Gastwirtschaft mit schlechtem Essen und noch schlechterem Ambiente, doch während meiner Kindheit war diese drittklassige Kaschemme ein Eldorado der Heiterkeit. Kaum dass die Temperatur die 15-Grad-Marke überschritten hatte, erwuchs in uns Kindern das unstillbare Verlangen nach Eiscreme und blieb der Blick in die heimische Tiefkühltruhe erfolglos, so gab es nur einen Ort, an dem wir sicher bekommen konnten, wonach wir uns so sehr sehnten. Es gab kein Kind im Ort, was in den wärmeren Monaten des Jahres nicht mindestens einmal in der Woche über die speckige Kante der großen, leicht mit Flugrost überzogenen Haushaltsgefriertruhe gebeugt stand und aus dem eher bescheidenen Sortiment seine Wahl traf. Die sorgfältigen Überlegungen führten immer wieder zu langen Zeiten in denen die Truhe all ihre mühsam erarbeitete Kälte an die Umgebung abgab und gab es unter den dicken Eisschichten am Geräterand und den von Gefrierbrand zerfressenen Lebensmitteln immer noch die eine oder andere vergessene Eistüte zu entdecken. Nie werde ich die neidvollen Blicke der anderen Kinder vergessen, wenn man es geschafft hatte, ein Schokoladeneis aus dem eisigen Kasten hervorzuzaubern und seine klebrigen Groschen nicht für ein fades Wassereis hinlegen musste. Das waren Gefühle wahrer Größe. Lange Zeit vergessen blieb jedoch eine Erfahrung, die im Nachhinein mein ganzes Leben verändern sollte und für den Moment des Erlebens mit derart negativen Emotionen belastet war, dass mein kindliches Gemüt gar nicht anderes handeln konnte, als alles ganz hinten in meinem Unterbewusstsein zu vergraben.

Es war ein warmer Frühlingstag und nachdem ich mit einem Messer 30 Pfennige aus meinem Sparschwein gefummelt hatte, eilte ich mit meinen Freunden zu Tante Bernie. Mit einer schlafwandlerischen Zielstrebigkeit peilten wir die Gefriertruhe am Ende des muffigen Gastraums an und zogen mit vereinten Kräften den Deckel nach oben. Zu den Zeiten, zu denen wir Tante Bernie aufsuchten gab es eigentlich nie Gäste und so blieben wir bei unserer angestrengten Wahl meist unter uns. Nicht so an diesem Tag. Plötzlich öffnete sich die Tür und für einen kurzen Moment erhellte die Sonne den dunklen Raum, dessen schmutzige Fenster kaum Tageslicht hereinließen.

Mit wackeligen Schritten durchquerte ein Mann den Saal, vor dem unsere Eltern uns immer warnten. Er würde trinken hieß es und auch wenn uns nicht klar war, warum man nach dem Genuss von zu viel Bier seine Frau verprügeln müsse, so wurde uns immer wieder gesagt, dass er es getan hätte und wir uns von ihm fernhalten sollen. Ich hatte meine Eltern bis dahin nie betrunken erlebt und konnte mir nicht vorstellen, dass Menschen nach dem Genuss von Alkohol Dinge tun würden, an die sie sich später nicht mehr erinnern können, aber man munkelte, dass es bei diesem Mann wohl häufiger so gewesen sei.

Er schaute kurz zu uns herüber, bevor er sich an den schmuddeligen Tresen setzte und ich den Satz vernahm, der mein Leben so gravierend verändern sollte. "Wie immer?" fragte Tante Bernie. Kein "Hallo, was darf es sein?", kein "Was kann ich Ihnen oder dir denn bringen?". Nein, alles, was er gefragt werden musste, war ein "Wie immer?". Er nickte nur und so schob sich die dicke Tante Bernie mit ihrer graugelockten Dauerwelle und ihrer geblümten Kittelschürze, deren Knöpfe Mühe hatten, die Stoffbahnen über ihrem gigantischen Busen zusammenzuhalten, an den Zapfhahn, zapfte ein Bier und füllte eine klare Flüssigkeit in ein winziges Glas. Sie stellte ihm das Bier und den das kleine Glas vor ihn hin und es dauerte keinen Wimpernschlag lang, da war das kleine Glas geleert und das Bier halbiert. Nach einer kurzen Zeit hob ich meinen Kopf erneut aus der eisigen Vielfaltenarmut und sah, dass er nun auch das Bier getrunken hatte. Tante Bernie wackelte zu ihm herüber und fragte mit ihrer tiefen und immer etwas zu genervt klingenden Stimme "Nochmal das Gleiche?". "Wie immer". Mehr sagte er nicht. Wahrscheinlich starrte ich ihn eine Ewigkeit lang an und in meinem Gehirn begannen alle Synapsen auf Hochtouren zu arbeiten. In meinem kindlichen Leben war eigentlich jeder Tag wie der vorherige. Es gab unzählige "Wie immers". Ich stand jeden Morgen zur gleichen Zeit auf, putzte mir wie immer meine Zähne, wusch mich, zog mich in der immer gleichen Reihenfolge an. Aß täglich das gleiche zum Frühstück. Ich liebte meine "Wie immers". Ich hatte allerdings nicht ein einziges meiner Rituale mit dem Ausspruch: "Ich mache das wie immer" benannt, nein, es war einfach so, weil es gut war und sich richtig anfühlte. Aber mir wurde schmerzlich klar, dass eine geliebte, oft wiederholte Verhaltensweise scheinbar in dem Moment, in dem man selbst oder auch ein anderer sie mit dem Label "Wie immer" versieht, eindeutig als etwas Schlechtes identifiziert wird, mit dem man sich oder andere schädigte.

Durch das "Wie immer" wurde der zum Ritual gewordene Kneipenbesuch als schwerer Alkoholismus entlarvt, der unweigerlich mit familiärer Gewalt und persönlichem Niedergang einherging. Es waren nur Sekunden der Erkenntnis und dennoch war es für mich fast so bedeutend wie die Entdeckung, dass es keinen Weihnachtsmann gibt.

Erst der schrille Aufschrei aus der Tiefkühltruhe riss mich aus meinem Schock-Zustand und mir wurde schmerzlich bewusst, dass ich heute nicht diejenige sein würde, die mit großen Augen um ein Schokoladeneis beneidet werden würde.

 

Es vergingen viele Jahre, in denen ich, wie alle anderen Menschen auch, meine eigenen kleinen und großen Rituale und Bräuche entwickelte, pflegte und wieder ablegte, aber ich hütete mich stets davor, eine meiner Vorlieben mit einem "Wie immer" als etwas Böses, Zerstörerisches zu demaskieren. Gleichzeitig hatte ich das große Glück, dass mir nie durch eine andere Person eines meiner Rituale durch ein "Wie immer?" genommen wurde. Das ist schließlich die Krux an der Sache: der Mann bei Tante Bernie sah die destruktive Kraft seines "Wie immers" wahrscheinlich selbst nicht. Vielleicht sah er sie auch, konnte aber dennoch nicht von seinem Laster lassen. Mir wurde damals an der schmutzigen Truhe allerdings klar, dass ich, wann immer jemand eine meine Handlungen mit einem "Wie immer" kommentieren würde, ich sofort mit dem aufhören würde, was ich bislang gerne tat.

Scheinbar schaffte ich es ganz gut durch meine Jugend und mein frühes Erwachsenenalter, ohne Rituale und Vorlieben zu entwickeln, die in meinen oder den Augen anderer böse, schlecht oder falsch gewesen wären. Ich rauchte nicht, ich schwänzte nur unregelmäßig die Schule, ich trank nur gelegentlich zu viel. Ich hielt meine Wohnung stets in Ordnung und wechselte meine Frisur mindestens einmal im Jahr. Ich schaffte es, die Schule und mein Studium zu beenden, ohne auch nur ein einziges Mal die niederschmetternde Diagnose "Wie immer" auf eine meiner Verhaltensweisen zu bekommen.

Ich lernte einen großartigen Mann kennen und zog mit ihm in die große weite Welt hinaus. Stets war ich bestrebt, niemals die Worte "wie immer" über meine Lippen kommen zu lassen, auch wenn wir etwas zu einem bestimmten Zeitpunkt auf die exakt gleiche Weise taten. Wir taten etliches "wie immer", aber nie wagte ich, auf die Frage, was wir am Sonntagmorgen machen wollten zu antworten "machen wir’s wie immer".

 

Die Arbeit brachte uns letztlich nach Berlin und wir fanden eine Traumwohnung am Ostkreuz. Hier gestaltete sich nun unser neuer Lebensmittelpunkt. Als Kinder brauchten wir ja nur das Eis und so spielte sich unser aller Leben um die Kneipe von Tante Bernie ab. Später war es nicht das Eis, um das sich unser Lebensmittelpunkt gestaltete, sondern das Ostkreuz. Die Bahnen brachten uns in alle Richtungen der Stadt und die Cafés, Imbisse, Bäckereien und die kleinen Läden versorgten uns mit dem, wonach es einem mal gelüstet. Nicht erst seit Bourdieu wissen wir, dass die Menschen zu einer gewissen Habitualisierung ihres Verhaltens neigen, und so taten wir vieles am Ostkreuz stets auf die gleiche Weise. Meinem bisherigen Glaubenssatz folgend begegnete ich den fragenden Augen meines Freundes an der Theke unseres Lieblingsimbisses niemals mit den Worten "Wie immer". Es war klar, dass ich eigentlich immer das gleiche bestellte, aber wenn es den Stempel des "Wie immers" je bekommen sollte, wäre meine Lieblingsspeise für immer verloren. Mein Freund fand meine Aversion gegen die zwei Worte stets befremdlich und war der festen Überzeugung, dass sich nichts verändern würde, wenn man etwas, was man ständig auf die gleiche Weise tat, damit spezifizierte, dass man sagte, man täte es wie immer. Dennoch ging eine lange Zeit ins Land, bis ich zulassen konnte, dass die Absprache vor der Bestellung in unserem Lieblingsdöner mit Hilfe eines "Wie immers" erfolgte. Es kam jedoch der Tag, an dem ich mich traute. Wir standen vor der Theke, wie wir es stets zu tun pflegten und mein Freund fragte mich plötzlich die magische Frage. An diesem Samstag im Frühling lautete seine Frage nicht "Willst du mich heiraten", nein, sie war viel bedeutsamer. "Wie immer?" waren die Worte, die über seine Lippen kamen. Mutig und dennoch angespannt antwortete ich "wie immer". Und wie immer schmeckte mir mein Essen vorzüglich, mir wurde nicht schlecht, ich bekam keine Lebensmittelvergiftung und auch meinem Freund ging es nach dem Mahl prächtig. Es schien trotz der Worte, die mich Zeit meines Lebens wie ein Fluch begleiteten, nichts Schlimmes zu passieren.

Eines schönen Tages jedoch verspürten wir nach einem Bummel durch den Kiez das Bedürfnis, uns am Ostkreuz noch mit einer fettigen, türkischen Köstlichkeit den Tag zu versüßen und steuerten zielsicher unseren Lieblingsimbiss an. Oder vielmehr den Ort, an dem er sich bislang befand. Die Tür war fest verschlossen, die Fenster von innen mit Zeitungen verklebt. Zwischen den Werbeangeboten örtlicher Diskounter und dem Wetterbericht der letzten Woche hing ein Schild, auf dem zu lesen war: "Liebe Kunden, leider müssen wir unser Restaurant aus persönlichen Gründen schließen. Vielen Dank für Ihre Treue".

Geknickt gingen wir zu einem anderen Imbiss, fanden das Essen aber schlecht und traten mit einem flauen Gefühl im Magen den Heimweg an. Aberglaube war zwar immer mein ständiger Begleiter, dennoch weigerte ich mich zu glauben, dass die Schließung des Lokals mit dem "Wie immer" vor einigen Wochen zusammenhängen könnte. Ein dummer Zufall, mehr nicht.

 

Jeden Sonntag gehen wir spazieren. Schon vor dem Frühstück. Um das Ostkreuz herum gibt es so viele wunderschöne Strecken, auf denen man die eine oder andere Stunde in der frühmorgendlichen Sonne verbringen kann. Aber auch bei Regen laufen wir unsere Tour. Nur wenn wir nicht in Berlin sind, lassen wir unser liebgewonnenes Ritual ausfallen. Zu unserem Brauch gehört immer auch, ein Baguette an einem Stand am Ostkreuz zu kaufen, das wir uns später bei einem ausgedehnten Frühstück schmecken lassen.

Sicher, eigentlich sollte man derartige Back-Ketten aus ethischen Gründen nicht unterstützen und sicherlich gibt es auch gesünderes Brot als das aus dem Glaskasten mit dem dicken Croissant als Markenzeichen, aber da der Vollkornbäcker am Sonntag nicht offen hat und man hin und wieder auch wenig christlich handeln darf, holen wir uns an jedem Sonntag, egal, ob es regnet, schneit oder die Sonne scheint, ein dunkles Mehrkorn-Baguette. Erstaunlicherweise trafen wir nun an jedem Sonntag auf eine junge Frau, die in dem Glaskasten ein wenig Geld neben der Schule oder dem Studium dazuzuverdienen schien. Sie war immer gut gelaunt und schien uns schon nach kurzer Zeit wiederzuerkennen. Wahrscheinlich hätten wir bald schon gar keine Bestellung mehr aufgeben müssen, denn es war ja ohnehin klar, was wir wollten: ein dunkles Mehrkornbaguette. Nichtsdestotrotz beeilten wir uns bei jedem Besuch aufs neue, unsere Bestellung konkret anzugeben, damit sich die Worte "wie immer" gar nicht erst ihren Weg durch die Atmosphäre bahnen konnten.

Ich weiß es noch, als wäre es gestern gewesen, aber da hat es in Wirklichkeit geregnet und deswegen war dieser traumatische Tag nicht gestern. Die Sonne schien schon am frühen Morgen von einem strahlend blauen Himmel und wir waren früh unterwegs. Auf dem Rückweg machten wir unseren üblichen Abstecher auf die kleine Insel zwischen den Gleisen und stellten uns in die Schlange. Schon bevor wir an der Reihe waren, hatte die junge Frau in dem roten Back-Outfit uns bemerkt und strahlte mit der Sonne um die Wette. Der letzte Kunde vor uns strebte langsamen Schrittes Richtung S-Bahn und noch bevor wir reagieren konnten fragte sie die Worte, die alles für immer verändern sollten: "Wie immer?" Mir stockte der Atem. Was sollten wir tun? Einfach davon laufen? Schnell ein Baguette bestellen, das wir eigentlich gar nicht wollten, nur um den Worten ihre zerstörerische Kraft zu nehmen? Doch noch bevor ich aus meinem Schockzustand erwachte, lächelte mein Freund und sagte die Worte, die alles besiegeln sollten: "Klar, wie immer". Das war’s, dachte ich. Alles wird sich verändern. Wir erhielten das Baguette und naja, wie immer, wünschte die junge Frau uns noch einen wunderschönen Tag. Wir hatten uns kaum einen Meter vom Tresen wegbewegt, da fragte ich mit zugeschnürter Kehle, wie er das denn nur tun konnte. "Naja, aber wenn es doch so ist. Benennen wir die Dinge doch beim Namen. Glaub mir, dein Aberglaube ist völlig übertrieben." Er hatte ja Recht, dachte ich. Wie albern, zu glauben, dass durch zwei kleine Worte die Welt verändert werden kann. Das Schicksal hört wohl kaum so genau hin.

Beschwingt lebten wir durch die Woche und es näherte sich der Sonntag. Das schöne Wetter hatte sich leider verzogen und so stapften wir im gelben Friesennerz durch den Matsch. Nur noch einmal die Treppen rauf, die Treppen wieder runter und ja, ich war bereit, ein "Wie immer" zuzulassen. Doch schon von weitem sah, ich, dass heute ein junger Mann hinter dem Tresen stand. Vielleicht hatte unsere Lieblingsverkäuferin nur im hinteren Teil der kleinen Hütte etwas zu erledigen. Doch auch als wir an der Auslage standen, war sie nirgendwo zu erblicken. Mein Freund ratterte also die übliche Bestellung runter. "Die Mehrkorn-Baguettes sind heute aus." Nun war es klar, die "Wie-immer-Verschwörung" war in vollem Gange. Mein Aberglaube kannte kein Halten mehr und ich brauchte lange, um den Schmerz über den heutigen Verlust zu überwinden. Mit ungebrochenem Glauben an einen Zufall redete mein Freund auf mich ein. Vielleicht sei die bezaubernde Verkäuferin einfach nur krank oder im Urlaub und das Baguette, meine Güte, auch andere würden diese Sorte besonders mögen.

Aber nein, es gab seit diesem Tag keinen einzigen, an dem die junge Frau mit dem sonnigen Lächeln und den Worten "Wie immer?" ein dunkles Mehrkorn-Baguette in die lange rot-weiße Tüte rutschen ließ. "Wie immer" hatte uns voll erwischt und das Schicksal hatte ganz genau hingehört, als es darum ging, dass ich die in Kindertagen gewonnene Vorsicht verlor. Und so bewahrt mich das Komplott am Ostkreuz bis heute davor, die Dinge, die ich immer auf die gleiche Art und Weise tue, als selbstverständlich hinzunehmen und mich bei jedem Mal darüber zu freuen, dass es heute noch einmal ist wie immer.

Maryann Marks - Fouler Hauswart

 

Maryann Marks
Fouler Hauswart
Ein Verriss über ein häufiges Berliner Phänomen

 

Wer das Auto des 'Hauswartes' in der Nacht vom 17./18.04. angezündet hatte, wurde nie festgestellt. Jedenfalls war das Datum so einprägsam, weil zeitgleich die S-Bahnhof-Ostkreuz-Einweihung (16.04.2012) stattfand.

Es kann sich bei der Brandstiftung um ein geheimes Vorgehen zwischen befreundeten Mietparteien gehandelt haben; das ist anzunehmen; die Vorläufe sprechen für sich.

An Impertinenz unüberbietbar hatte das Hauswartspärchen, Marke Blockwart, bei den MieterInnen schon lange nichts mehr an Ansehen zu verlieren: ihr hingen vor Neugierde die Ohren bis über die Schultern runter, wenn sie die HausbewohnerInnen nur ansah; mit ihr zu reden endete fast zwangsläufig in der Preisgabe von Persönlichem.

Sein Arbeitseinsatz beschränkte sich auf cholerisches Schreien (am Telefon) und die 'Regierung' dieses Mikrokosmos mit größenwahnsinnigem Gehabe in Eigenregie.

Sie grüßte beflissentlich; ihr Gruß hallte meist unbeantwortet im Hausflur oder Hinterhof wieder, während die MieterInnen an ihr vorübergingen. Der Eindruck entstand, dass die Frau trotz Ablehnung unbeirrbar freundlich war aus der Angst heraus, dass die gemeinsame Machenschaft mit ihrem Mann, das Vorspielen adequater Arbeit, vielleicht doch an übergeordnete Stelle herangetragen und ihre bequeme Lebensweise durch die versiegende MieterInnen-›Spenden‹-Quelle vorbei sein könnte. Dickfellig saß das Rentnerpärchen die grußlose Ablehnung im Haus aus.

Hier wurde ein satter Nettolohn in der Arbeitsmanier einer geringfügigen Beschäftigung ausgefüllt: Schlüsselnachmachungen dauerten 4 Monate; die MieterInnen erzählten sich: "Ich habe es dem Hauswart gesagt. Natürlich passiert wieder nichts." ... Einer Mieterin wurde mehrfach Laminatlegung versprochen (bei den anderen MieterInnen war es bereits vorhanden); allein, es wurde nie gelegt. "Es kommt, es kommt", rief der 'Hauswart' ihr, für mehrere Mietparteien gut hörbar, im Treppenhaus zu. Schließlich legte die Mieterin das Laminat selbst. Der flüchtige Treppenhausputz mit kategorischer Missachtung von Ecken und Kanten wurde in knappen Stunden verrichtet; einem Mieter ward die Benutzung zweier Kellerräume zugesagt; die Auseinandersetzung über diese Zusicherung schallte durch den Hinterhof, bis der 'Hauswart' sie nach draußen verlegte.

Reparaturen wurden grundsätzlich nur nach Inanspruchnahme von Rechtsschutz (längerem Briefwechsel mit Hilfe des Mietervereins u. ä.) durchgeführt, d. h. bei einigen MieterInnen überhaupt nicht.

Das Öffnen fremder Briefkästen stellte für den 'Hauswart' ebenso wenig ein Problem dar wie penetrante persönliche Fragen, die ihn in seiner Funktion schon gar nichts angingen. Mitunter wurden offene (geöffnete???) Briefe im Kasten vorgefunden.

Hinter den schwarz getönten Scheiben seines Wagens, der vorm Haus stand, wurde gemunkelt, sitzt der alte Bock und Kontrollfreak und schaut, was abgeht.

Willkürlich wurde im Haus über Jahre (Jahrzehnte?) diktatorisch darüber geurteilt, wer mit Dienstleistungen bedacht würde und wer nicht, welche/r für wert erklärt wurde und welche/r nicht. Die Störungsmeldungen, Beschwerden und Problemschilderungen der MieterInnen bei der Haus- und Grundstücksverwaltung waren umsonst. Es interessierte die Zuständigen nicht, es wurde nicht darauf reagiert und nicht eingegriffen.

Diese befremdliche Handlungsweise und Befugnis war ein Extremzustand, der nur durch angenommene Vetternwirtschaft erklärbar war. Ein Vorgehen, dass plausibel schien: als ehemals Selbstständiger hatte der 'Hauswart' vermutlich keinen Anspruch auf Rente und würde in die Grundsicherung fallen, was durch diese Wirtschaftsform in Übereinkunft verhindert wurde.

Viele MieterInnen meinten, dass der bizarre 'Hauswart plus Frau' endlich abtreten solle. Man stellte sich vor, wie er – mit den Füßen voran- eines Tages hinausgetragen würde und die Frau ob ihres Lebenswerkes in gemeinsamer Teilhabe entsprechend geächtet würde. Bis zu dem Zeitpunkt würde die Mietergemeinschaft mindestens zu zahlen haben. U.U. würde die Goldgrube des lebenslangen Unterhalts, der monatlichen Zuwendungen vetternwirtschaftlich auf sie übergehen.

Kurz nach meinem Einzug musste ich zu dem Hauswartspärchen und sagte zu der Frau: "Das ist ein sehr schöner Kranz, den Sie hier draußen an der Tür hängen haben." — "Wenn er nur nicht mal abgefackelt wird" antwortete sie, und ich wunderte mich.

 

Einem Umzugshelfer war aufgefallen, dass es ein "No-you-don’t"-Haus war, weil überall an den Wänden Schilder angebracht waren, wie sich verhalten werden sollte. Nicht rauchen, Tür zumachen, Lüften etc. pp.

Am ersten Wochenende nach dem Umzug war klar, dass die Hauswartsfrau bei der Wohnungsbesichtigung gelogen hatte. "Unten und oben ist es ruhig", hatte sie gesagt und dann auf die Wohnung im Hinterhaus nebenan gedeutet. "Wie der Mieter dort drüben ist, weiß ich allerdings nicht." — Unten wohnte ein Techno-Freak, der auch nachts vor keiner Lautstärke zurückschreckte und oben ein junges Paar, dass die Angewohnheit hatte, sich nächtlings im Laufe eines Streites fast die Tür einzutreten. Als ich den 'Hauswart' darauf ansprach, wurde deutlich, dass beide Vorkommen bereits lange Zeit bekannt waren.

Im vergangenen Herbst erhielt der 'Hauswart', weil er sich nicht mehr bücken konnte, von den MieterInnen über die Hausverwaltung bezahlt, einen Elektro-Schneepflug, wie er für großräumige Flächen in der Landschaftsgärtnerei benutzt wird. Des Schneefegens per se unfähig, konnte dadurch seine Position für einen(?) weiteren Winter gesichert werden ohne dass seine Senilität für die Allgemeinheit allzu augenscheinlich wurde.

Im Frühjahr ward der 'Hauswart' noch beim Aufmachen und Feststellen der Türen gesichtet; trotz sichtlicher Greisenhaftigkeit stellte er seine Bemühung durch das Öffnen der Türen außerordentlich zu Beweis.

Zum Brüllen reichte es auch noch und zur kontrollierenden Ansprache der MieterInnen zwecks Respekteinflößung — vor allem der jungen Leute. Die `blickten´noch nicht, was hier ablief: dass jemand auf ihre Kosten mit durchgezogen wurde und seine Schäfchen mit schauriger Dreistigkeit im Trockenen hielt.

Nun: dieses Jahr kam einiges anders.

In den vergangenen Monaten waren einige MieterInnen in Abständen zusammengekommen, nicht nur bei einem gemeinsamen Grillfest im Interkulturellen Garten bei den Laskerhöfen.

Es hatte sich einiges zum Positiven entwickelt. Aus dem notorischen Technofreak mit latenter Gewaltbereitschaft war – nach Entzug und einem Anti-Gewaltstraining — ein sehr guter Sicherheitsmann geworden und seine Frau – ehemals als Suchtpersönlichkeit betreut - arbeitete engagiert als ausgebildete Haus- und Gebäudereinigerin.

Das junge Paar von oben, bei dem er ihr mit Regelmäßigkeit handgreiflich den Garaus machte und sie zu ihm mit Regelmäßigkeit zurückkehrte, war nach langer Mietschuldigkeit ausgezogen und von einer optimistischen Studentin ersetzt worden (nach Meinung des Hauswartes – der mit einschlägig im Kiez bekannten Männern mit Alkoholabhängigkeit auf der Straße anzutreffen war — "ganz was Feines").

Der partyfreudige Jurist im Hinterhaus, der alle 2, 3 Wochen nachts mehrfach bei voller Dröhnung das Fenster aufgerissen hatte (der 'Hauswart': "Das kann ich mir gar nicht vorstellen"), war, nach Verweis auf sein obligatorisches Prädikatsexamen als einzige Chance auf eine Karriere in spe, einsichtig genug, die Feten samt Lautstärke beachtlich einzuschränken.

In der Ostkreuz-Info-Box gab es die Meldung, dass die geplante Autobahn-Route entweder die Kynaststraße oder untererdig den Markgrafendamm entlang laufen und die Straße oben für Anlieger frei gelegt würde. Das stellte auch eine gute Aussichtsoption für die Zukunft dar. Einzig der Zustand der Hauswartstätigkeit lag gleichbleibend im Argen.

Bei den Treffen der MieterInnen stellte sich heraus, dass viele Mietparteien von der Selbstgerechtigkeit und Anmaßung dieses Pärchens betroffen und gekränkt und wütend waren.

Es gab Zeichen einer sich veränderten Dynamik:

"Fouler Hauswart" stand auf der Streusalzbox, die im Seitenflügel war; geschrieben mit Permanentmarker.

Wandmalereien wurden im Hausflur gesichtet, bevor das Pärchen wieder für den Sommer ganztätig in seine Laube entschwand. Mit heimlicher Schadenfreude wurden die Bemühungen der Hauswartsfrau registriert, die – den Lappen in der Hand — stundenlang die Malereien von der Wand abrubbelte. Für sie war es immer wichtig gewesen, bei Sichtbarkeit irgendetwas zwischen den Fingern zu bewegen und/oder listig auf ihre Geschäftigkeit hinzuweisen — "ach ja, ich sehe gerade noch eine Schliere vom Fensterputzen...". Jetzt TAT sie etwas.

Am 08.04. lag ein Zettel im Briefkasten, dass in der Nacht von 17. auf den 18. Rache geübt werden würde. "Wartet es ab", sagte das Geschreibsel. Ich war gespannt. Nicht, dass ich die Leute hätte warnen wollen. Nicht, dass sie mir tatsächlich leid getan hätten. Ich hatte den Wink der Justitia bemerkt. Mitunter muss die Gerechtigkeit selbst ausgeübt werden.

Als ich am Morgen des 18.04. den verkohlten Wagen am Markgrafendamm stehen sah, fühlte ich nicht das Verwerfliche der Tat, sondern eine tiefe Befriedigung. Hier war eine Art kollektive Rechenschaft abgelegt worden; der unter diesen besonderen Umständen mögliche 'Aufstand der Anständigen', eine Bürgerwehr hatte stattgefunden. Autonom war durchgeführt worden, was sonst nicht geschehen wäre.

Oder war es doch lediglich ein Problem der technischen Mechanik gewesen?

Nachtrag: Lt Beratung beim Berliner Mieterverein haben MieterInnen das Recht auf eine 5%-Mietminderung der Gesamtmiete, wenn die Arbeit des Hauswartes nicht üblich verrichtet wird. Die Tatsachen müssen dokumentiert sein. Ein Anspruch auf Austausch des Hauswartes liegt im Ermessen des Vermieters; Anregungen hierfür können von der Mietergemeinschaft kommen.

In unserem Fall wurde der Hauswart seit mehreren Monaten nicht mehr gesichtet und war zum Schluss derart hinfällig, dass von einer jetzigen Bettlägrigkeit auszugehen ist. Die Frau, eine ehemalige Fabrikarbeiterin, hat nicht die Handlungskompetenz, die ihr Mann zumindest theoretisch gehabt hätte um die Aufgaben sachgemäß zu erledigen. Mittlerweile macht sie den Treppenhausputz allein (jede 2. Woche nur "trocken"). Und sie ist rege mit Kehrblech und Besen in der Hand unterwegs, wenn sie meint, es ist für die Zurschaustellung ihres Amtes nötig.

Carena Scheunemann - Verhängnis

 

Carena Scheunemann
Verhängnis

 

Er hatte sich die Karte rechtzeitig gesichert. Bruce Springsteen, "The Boss", sollte ein letztes Mal im Olympiastadion spielen — es rocken. Er hatte es sich zu Eigen gemacht, noch einmal alle, oder wenigstens so viele wie möglich, Großen der Musikgeschichte live erleben zu wollen. Noch einmal nicht Irdisches auf der Bühne stehen zu sehen und geschichtsprägende Titel zum Besten zu geben, was die Menge in einen tobenden Hexenkessel verwandeln würde. Er war erst etwas über dreißig und hatte daher die wilde Zeit verpasst. Nun musste er wenigstens am Lebensende sagenumwobener Künstler teilhaben. Bei Guns'n'Roses, zum Beispiel, war er damals laut Aussagen seiner Eltern noch zu jung für einen Konzertbesuch gewesen. Als er endlich 16 und somit alt genug war, hatten sie sich schon aufgelöst. Einfach so. Die Wiedervereinigung mit anschliessendem Comebackversuch interessierte ihn nicht mehr. Das war nicht mehr die Band, die er so liebte, nicht das Gleiche. Das war kläglich. Er war aber schon mehrmals bei den Stones gewesen, als sie wieder einmal ein Abschlusskonzert gaben. Und noch eines. Und noch eines. Seine Eltern befanden diese Konzerte als weitaus sicherer, so dass er schon Anfang der Neunziger dabei sein durfte. Sein bisheriges Highlight waren dann aber doch ACDC. Es war im Jahr 2010, im Juni. Oder sogar erst im Juli? Die beiden Monate klangen so ähnlich, dass er sie oft nicht mehr in seinen Erinnerungen unterscheiden konnte. Es war jedenfalls ein denkwürdiger Tag, an welchem er die alten Männer auf der Bühne hat rocken sehen dürfen. Es war unbeschreiblich, wie viel Energie sie noch gehabt haben. Er kannte das sonst nur von den Leuten, die dafür Pillen schlucken mussten.

Heute sollte nun der Tag der Tage sein. Er hatte sich das Datum schon seit einer gefühlten Ewigkeit im Kalender markiert: 30. Mai 2012. Er war ganz aufgeregt und hatte sich auch schon weit im Voraus den wertvollen Urlaubstag bestätigen lassen. Seine Kollegen in der Werkstatt beneideten ihn förmlich. Er hatte jedoch auch einen gehörigen Teil dazu beigetragen. War er doch wie ein eitler Gockel, die Karte wedelnd in der Hand, entlang der Werkbänke geschritten und hatte sie jedem unter die Nase gerieben.

 

Seinen Wecker hatte er viel früher als sonst gestellt, damit er auch rein gar nichts verpassen würde. Autsch, vor Aufregung hatte er sich den Fuß an der winzigen Kommode in seinem winzigen Zimmer gestoßen. Vor Schreck heulte er auf, biss sich aber sogleich auf die Zunge und hoffte, die anderen nicht geweckt zu haben. Er sprach ein Stoßgebet zum Himmel, dass seine Mitbewohner einen tiefen Schlaf hatten. Manche halfen heimlich nach, das wusste er. Wiederum andere bekamen jedoch Schlafmittel sogar offiziell per Amtsweg verschrieben.

Er machte sich ein rudimentäres Frühstück. Er war so in Gedanken versunken, dass er nicht einmal merkte, dass einer seiner Joghurts fehlte, obwohl er seinen Namen groß und deutlich auf den Deckel und auf den Becher geschrieben hatte. Er war in seiner eigenen Welt.

 

Das Konzert sollte erst 19.30 Uhr beginnen. Er hatte sich vorgenommen, bereits gegen 16.00 Uhr da zu sein, so dass er einen halbwegs annehmbaren Stehplatz ergattern würde. Da er eh einmal vom Osten durch die gesamte Stadt hin zum Westen musste, brach er bereits kurz vor Mittag auf. Den Tag würde er schon irgendwie nutzen. Er war sich sicher, dass er ihn schon rumbringen würde, kam er doch seit Jahren nur noch selten unter Menschen. Er stieg in die S-Bahn und fuhr zuerst einmal bis Ostkreuz, wo er gezwungen war, umzusteigen. Früher konnte man durchfahren, jetzt wurde aber vier Jahre lang gebaut. Vier Jahre! Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen! Quasi eine Ewigkeit! Und wofür? Um aus dem einst seelenvollen noch einen weiteren seelenlosen Bahnhof zu machen.

Er erinnerte sich nur zu gut, wie das altersschwache Bahnkreuz tagtäglich den Menschenmassen trotzte, wie der versteckte obere Bahnsteig der S9, die nur in eine Richtung verkehrte, allmählich zuwucherte, wie das Stückchen Erde, welches den Bahnhof umzingelte, mehr und mehr zur Müllhalde verkam, wie sich die provisorischen Lampengestelle leicht windschief ins Gesamtbild einfügten, wie die unzähligen Plakate, die einen Wandflickenteppich am Ausgang Sonntagsstraße bildeten, den Bogendurchgang zu stützen schienen, wie selten er den anderen Ausgang nahm, dessen Häuschen an die alten Haltestellen im Osten erinnerte, und wie die kleinen Verkaufsstände auf den Bahnsteigen mehr an Favellahütten als an geschmacksanregende und appetitstiftende Verkaufseinrichtungen erinnerten. Er musste schmunzeln, als er an die metallischen Verpackungen der Caprisonne dachte, die, mit einem handschriftlich geschriebenen Preisschild beklebt und seit Jahren an der gleichen Stelle im Schaufenster stehend, leicht angestaubt waren und doch in der Sonne glitzerten.

 

Man hatte den Eindruck, dass Ostkreuz ein provisorischer, ein verwilderter Bahnhof war – wenn nicht sogar ein vergessener Bahnhof. Und doch einer durch und durch mit Charakter, wie man ihn nur noch selten fand – mit Ecken und Kanten aber beständig und vorhersehbar. Ein Charakter, der für etwas stand. Oder wie der Berliner lautmalerisch zu sagen pflegt: "Weeßte, dit is eene Marke für sich, wa!" So etwas fand man immer seltener in Berlin. Bald jedoch ist auch hier die Transformation vollbracht und Ostkreuz würde schlussendlich das gleiche Schicksal wie einst den Lehrter Bahnhof ereilen. Da mussten nämlich schmuckvolle rote Backsteine, kleine kunstvolle Türmchen, schmiedeeiserne Gestelle, unzählige handgroße Glasfenster, deren Halterungen leicht vom Rost angenagt waren, aber doch jedem Wetter standhielten, und der ganz eigene Schick, der den Stil zu Beginn des 19. Jahrhunderts prägte, grauem Beton weichen. Auf Wiedersehen, gehaltvolle Geschichte! Hallo, Moderne!

Just in diesem Moment fiel ihm auch wieder ein, wie absurd es ausgesehen hatte, als neben dem Lehrter Bahnhof, oder um ihn korrekt zu benennen, neben dem Lehrter Stadtbahnhof, das riesige Monstrum Hauptbahnhof hochgezogen wurde. Das kleine aber feine Bahnhofsgebäude trotze bis zum Schluss dem Gang der Zeit und erinnerte an eine einzelne Seepocke auf der Haut eines Buckelwals. Aber auch dann war es irgendwann so weit. Der unaufhaltsame Marsch des so genannten Fortschritts schluckte das wehrlose Überbleibsel vergangener Tage. Die Bahnhofspocke war unweigerlich Geschichte. Für immer verschwunden. Bei diesem Gedanken wischte er sich verstohlen eine Träne aus dem Auge. Zugegebenermaßen hatte er seine melancholisch-depressiven Phasen. Heute war es wohl besonders schlimm, da ihm auch noch die Nervosität zu schaffen machte, war er doch zusätzlich aufgewühlt.

Nein, nein, nein! Das darf nicht sein! Heute war doch ein besonderer Tag! Und nicht etwa einer solchen Tage, einer dieser speziellen Tage! Er schlich die Sonntagsstraße entlang und blickte auf seinen ehemals so geliebten Bahnhof Ostkreuz. Es war nicht mehr sein Bahnhof, es war nur noch irgendein Bahnhof, dem war er sich jetzt ganz sicher. Das riesige Stahl-Glas-Beton-Dach der Nord-Süd-Trasse stach monströs hervor. Es sah fast so aus, als würde es die beiden schwächelnden Bahnsteige unter ihm zerquetschen wollen. Er schüttelte den Kopf bei der Vorstellung und bemerkte, wie seine Hände zitterten. Eine ihm nur allzu gut bekannte Unruhe ergriff ihn und Gedankenfetzen rasten durch seinen Kopf. Das durfte doch nicht wahr sein! Er hatte seine Medikamente vergessen! Nicht nur, dass er sie sich nicht eingesteckt hatte, dämmerte ihm, nein, auch heute Morgen hatte er sie nicht genommen. 'Wieso, wieso, wieso nur?' fragte er sich zornig. Er hatte doch an alles gedacht, alles geplant, sich alles ausgemalt. Die Gedankenfetzen verwandelten sich in Blitze und sein Schädel dröhnte. Seine Paranoia kroch langsam aber sicher aus ihrem Synapsenversteck. Sein Betreuer hatte ihm beim Gehen noch gefragt, ob er nichts vergessen hätte. Er war aber so in Träumereien versunken gewesen, dass er nur beiläufig genickt und "Jaja" gemurmelt hatte.

 

ACDC. Buchstabe A an erster Stelle, Buchstabe C an Dritter, D an Vierter und noch einmal die dritte Stelle. Eins, drei, vier, drei. In der Summe ergab das elf. Eine Primzahl! Er wusste es! Er hatte schon damals ein ungutes Gefühl gehabt, vielleicht einer Verschwörung auf der Spur gewesen zu sein. Hätte er doch nur auf sein Bauchgefühl gehört. Er blickte noch weiter zurück und ihm überkam die Erkenntnis, dass "Stones" in der Summe 92 ergab. Dreimal die Drei und eine Zwei. Wieder nur Primzahlen! Langsam machte alles Sinn! Seine Schritte wurden schneller. Er schnaufte vor Aufregung und Wut über seine eigene Dummheit. Er ignorierte die Penner im kleinen Park gleich neben den Müttern, oder zu heutigen Zeiten auch vermehrt Väter in Elternzeit, die ein wachsames Auge auf ihre spielenden Kinder hatten, er ignorierte die Cocktailbars mit durchgehenden Happy Hours, so dass es eher Happy Days waren, die multinationalen Imbissbuden und die Spätis, wie sie liebevoll betitelt werden und nur zu oft eine glückselig nächtliche Rettung für Partygänger sind – eine Taubenschlag der Moderne, bei dem in der Dunkelheit das Leben in all seinen Absurditäten zu pulsieren beginnt. Das alles nahm er überhaupt nicht wahr. "Das darf nicht sein!" sprach er immer und immer wieder. Zwischenzeitlich unterbrach er sich nur selbst, um "Ich hätte es wissen müssen!" zu murmeln.

Nun rannte er schon förmlich. Schnell durch den Wandflickenteppich-Durchgang, der früher mal ein funktionierendes Gleis getragen hatte, jetzt aber nur noch von Sandbergen gesäumt war. Die Frage, ob dieser Wall wohl stehen bleiben würde, stellte er sich nicht. Rauf auf die provisorische Metalltreppe, die bereits zum Bersten gefüllt war, obwohl es gerade einmal früher Nachmittag war. Wieso nur konnten Menschenströme nie gleichmäßig und einheitlich fließen? Ordnungsgemäß wie der Autoverkehr? Dafür flossen hier nur zu viele Pendler von links nach rechts, von oben nach unten, von dem einen Bahnsteig zum Ausgang oder zum anderen Gleis gegenüber oder aber von dem einen Bahnsteig über die Treppe zum oberen Bahnsteig. Bei solchen metallenen Stufen hatte er sonst immer Angst, zu schnell zu sein, da man sonst leicht ausrutschen könnte. Heute ignorierte er diese Angst. Er rempelte sogar unzählige Leute an. "Ey, passen Sie doch auf!" wurde ihm des Öfteren hinterhergerufen, aber auch "Arschloch!" und "Spast!" ergossen sich wütend über ihn. Es scherte ihn jedoch nicht im Geringsten, hatte er doch als Einziger das Ausmaß der Verschwörung erkannt. Wie konnte er nur so blind gewesen sein, so selten dämlich, geißelte er sich selbst. Angewidert wichen ihm die entgegenkommenden Personen aus. Er hingegen sah dies als Zeichen, er hätte die Macht, ein Meer zu teilen – ein Menschenmeer!

 

B-R-U-C-E. Das ergab 49. Sieben mal sieben. Wieder nur Primzahlen! Ihm war nun klar, dass er alles in seiner Macht stehende tun musste, das Konzert zu verhindern. Alles nur Menschenmögliche. Hatten die Verschwörungstheoretiker doch recht gehabt. B-O-S-S. Zwei plus 15 plus 19 plus 19 mach insgesamt 55. "Oh mein Gott!", brabbelte er "Lass es noch nicht zu spät sein!" Die Quersumme der beiden Primzahlen ergab 10. Eins und Null. Wie beim Computer. Strom an, Strom aus. Würde etwa sonst der Strom des Systems ausgeschaltet werden? Würde ein Zusammenbruch bevor stehen? Die Apokalypse? Eins. Null. Die Zeit rann ihm durch die Finger. Er hatte das Gefühl, eine zerbrochene Sanduhr in den Händen zu halten. Die Scherben in seinem Kopf hingegen schillerten in allen Farben. Ihr Klingen verhallte erst friedlich, nur um dann mit voller Wucht wieder aufzublitzen. Seine Augäpfel schmerzten, als würde jemand von innen seine Daumen dagegen drücken. "49, 55, 49, 55", wimmerte er im Singsang, "Sieben, sieben, fünf, fünf". Sein Innerstes zog sich zusammen, er verkrampfte und kauerte an der Bahnsteigkante. "Die Verschwörung muss aufgehalten werden!" brüllte er. Dieser Aufruf steigerte sich in einen herzzerreißenden Schrei, kurz bevor er sich vor den einfahrenden Zug in Richtung Olympiastadion warf.

 

Der Zugverkehr sollte aufgrund eines "Personenschadens im Bereich Ostkreuz" für mehrere Stunden unterbrochen werden. Später sollten die Zeitungen unerwartet sachlich über den Vorfall berichtet haben. Die Polizei schloss Fremdverschulden sehr schnell aus. Dennoch wurden alle Personen innerhalb des Programms "Betreutes Wohnen", einschließlich des Sozialpädagogen, eingehend befragt. Auch hier konnte keinerlei Vergehen festgestellt werden. Ein resozialisierter Kollege soll sogar in seinem Nachruf über ihn gesagt haben, dass, er an Verschwörungstagen, wie er sie selbst nannte, nicht mehr Herr seiner Sinne gewesen sein soll, was ihm dann leider auch zum Verhängnis wurde.

Manuela Schulz - Treffpunkt Ostkreuz

 

Manuela Schulz
Treffpunkt Ostkreuz

 

Ein Nachmittag Ende Dezember. Es war schon fast dunkel. Der kalte Atem des Winters verdichtete den aufziehenden Dunst zu Nebelschwaden, die ihrerseits zu feinem Nieselregen kondensierten. Die junge Frau stand auf dem Bahnsteig. Mit ihrem grauen Wintermantel, der schon bessere Tage gesehen hatte, und dem tief ins Gesicht gezogen grauen Hut verschmolz sie fast mit dem Pfeiler, an den sie sich gepresst hatte. Niemand schien sie zu bemerken. Passanten hetzten an ihr vorbei. Alle hatten es eilig den nächsten Zug zu erreichen, der sie nach Hause brachte ins Warme, ins Helle.

Die junge Frau wollte nicht nach Hause, ganz im Gegenteil. Ihren kleinen Koffer hatte sie unauffällig hinter sich geschoben. Je weniger von ihm zu sehen war, desto besser.

"Nur ein Gepäckstück, Louise", hatte Hermann gesagt. "Eine Tasche oder einen kleinen Koffer. Auf keinen Fall mehr." Hermann hatte gut reden. Wie sollte sie in nur einer Tasche ein ganzes Leben unterbringen, oder das, was davon noch übrig war? Was war es wert mitgenommen zu werden? Bilder von früher? Ihre Lieblingsbücher? Ihre Noten? Die Entscheidung war ihr schwer gefallen. Was ihr wirklich am Herzen lag, konnte man nicht in einen Koffer packen. Ihre Freunde, ihre Wohnung, ihren Flügel und vor allem ihre Großmutter.

Bei dem Gedanken an Omi füllten sich Louises Augen mit Tränen. Hastig versuchte sie diese wegzublinzeln. Sie hatte sich bis zuletzt gegen Hermanns Pläne gewehrt Deutschland zu verlassen. Ihre Großmutter hatte jedoch darauf bestanden, dass sie gingen.

"Louischen!" hatte sie im Herbst gesagt, als Hermann, wie so oft, zum Abendessen da war. "Es wird Zeit. Geht, solange ihr noch könnt."

"Und was wird aus dir?" entgegnete Louise. Sie hatten diese Diskussion bestimmt schon ein Dutzend Mal geführt. "Ich gehe nur, wenn du mitkommst. Wer soll sich um dich kümmern?"

"Kindchen, ich bin zwar alt, aber weder krank noch senil. Ich kann mich gut um mich selber kümmern. Ich bin in Berlin geboren und will hier auch irgendwann einmal sterben. Einen so alten Baum wie mich pflanzt man nicht mehr um. Wer soll denn Dienstags mit Frau Blumenstein und Frau Kohlhoff Canasta spielen? Die beiden brauchen mich doch. Was soll mir schon passieren? Verhungern lassen sie mich bestimmt nicht."

Louise gab sich geschlagen. Was sich ihre Großmutter in den Kopf gesetzt hatte, konnte man ihr selten wieder ausreden.

Nun stand sie hier am Ostkreuz und wartete auf Hermann, der mit dem Zug aus Erkner kommen wollte. Vor lauter Aufregung war sie viel zu früh eingetroffen. Zehn Minuten noch! Eine Ewigkeit, wenn man das Gefühl hat, dass jeder einen beobachtet.

Ihr Blick fiel auf das Revers ihres Mantels. Omi hatte zwar gesagt es wäre überhaupt nichts zu sehen. Aber für Louise stachen die Löcher, die der schwarze Faden, mit dem sie den gelben Stern auf das Revers genäht hatte, förmlich ins Auge. Sie hatte solange auf dem grauen Stoff herumgerieben, bis er anfing sich aufzurauen. Omi hatte ihr die kleine Bürste aus der Hand genommen. "Man sieht nichts", hatte sie ihr versichert.

Die falschen Papiere, die Hermann besorgt hatte, waren nun seit dem endgültigen Ausreiseverbot ihre letzte Hoffnung. Ein dünner Strohalm auf dem Weg ins Ungewisse. Am Ende des Weges winkten die Freiheit und ein Leben ohne Bedrohungen und Drangsalierungen. Hermann und sie könnten heiraten und endlich Kinder haben. Wenn alles gut ging, würden sie morgen um diese Zeit schon in der Schweiz sein. Wenn alles gut ging.

Louise blickte sich um. Bestimmt fiel es auf, wenn sie hier so lange mit einem Koffer stand, ohne einzusteigen. Jemand würde misstrauisch werden und am Ende sogar die Polizei rufen. Sie atmete tief ein und aus. Jetzt durfte sie nicht die Nerven verlieren. Sie durfte sich nicht von der aufsteigenden Panik überwältigen lassen!

Die Zeiger der Bahnhofsuhr schlichen vier Uhr entgegen. Louise versuchte vergeblich im Nebelgrau des Gleisbetts die Lichter eines einfahrenden Zuges auszumachen. Es war nichts zu sehen. Plötzlich schallte eine Stimme über den Bahnhof. "Achtung, Achtung! Der Zug aus Erkner auf Bahnsteig E hat voraussichtlich 10 Minuten Verspätung."

Louises Magen krampfte sich zusammen. Ihr Herz raste. Sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten.

Sie versuchte ihren Koffer noch weiter hinter den Pfeiler zu schieben. Der Bahnsteig füllte sich. Vielleicht war das ein Vorteil. So fiel sie weniger auf. Immer mehr Menschen strömten von der Treppe auf den Bahnsteig, unter ihnen zwei Polizisten. Hoffentlich gingen sie nicht in ihre Richtung. Louise vergrub ihre Hände in den Manteltaschen. Dabei stieß sie auf den kleinen Kiesel, den Hermann vor zwei Jahren Sommer am Grunewaldsee gefunden hatte. Er war schwarz und herzförmig. Hermann hatte ihn auf ihre Handfläche gelegt und zärtlich ihre Finger um den Stein geschlossen. "Ich lege mein Herz in deine Hand", hatte er geflüstert und sie das erste Mal geküsst. Seine Lippen schmeckten nach Erdbeeren, Sonne und Glück. Seitdem war der Stein ihr ständiger Begleiter und Talisman.

Louise hatte das Gefühl beobachtet zu werden. Sie drehte den Kopf ein Stück zur Seite und sah die kleine, rundliche Frau, die in ihre Richtung sah. Erschrocken zog Louise die Luft ein. Das war Frau Herzog, ihre ehemalige Klavierlehrerin von der Musikschule. Frau Herzog stand da, starrte sie unverhohlen an, ohne eine Regung zu zeigen. Ob sie sich an sie erinnerte? Bestimmt. Louise war Klassenbeste gewesen. Frau Herzog hatte ihr eine große Zukunft prophezeit. Bis die neuen Gesetze in Kraft traten und man alle jüdischen Studenten der Schule verwiesen hatte. Frau Herzog durchbohrte die junge Frau weiterhin mit einem ausdruckslosen Blick. Louise dreht sich schnell wieder um. Ganz gewiss hatte ihre alte Lehrerin bemerkt, dass sie keinen Judenstern trug.

Die Polizisten hatten das Ende der Treppe erreicht und bewegten sich langsam auf Louise zu. Sie biss sich auf die Lippen. Sollte sie schnell den Bahnsteig verlassen? Oder doch besser stehen bleiben? Die Polizisten kamen näher. Louise sah, wie sie miteinander sprachen. Der eine wies dabei mit der Hand in ihre Richtung. Louise stockte der Atem. Sie war bestimmt nicht gemeint. Oder doch? Gleich kam der Zug und Hermann, dann konnte sie weg von hier. Louise drehte sich um und erstarrte.

Frau Herzog hatte sich in Bewegung gesetzt und bahnte sich an ihr vorbei einen Weg durch die wartende Menschenmenge. Sie steuerte geradewegs auf die Polizisten zu. Das ist das Ende, schoss Louise durch den Kopf. Sie wird mich verraten.

Frau Herzog hatte die Polizisten fast erreicht. Louise griff nach ihrem Koffer. Sie könnte sich auf der anderen Seite des Pfeilers verstecken. Doch das würde ihr nur für einen Moment Sicherheit geben. Sie konnte nirgendwo hin. Sie musste auf Hermann warten.

Frau Herzog sprach die Polizisten an. Wild gestikulierend zeigte sie immer wieder zum entgegengesetzten Ende des Bahnsteigs. Die Polizisten nickten verständnisvoll. Der eine legte ihr eine Hand auf die Schulter als wolle er sie beruhigen. Frau Herzog schüttelte den Kopf und packte beide Polizisten bei den Uniformärmeln. Sie zog die Männer mit sich zurück in Richtung Treppe.

Im Gehen drehte sich Frau Herzog nochmals um und sah in Louises Richtung. Ihre alte Lehrerin lächelte und nickte ihr zu.

Aus der Ferne zerschnitten die Lichter des einfahrenden Zuges aus Erkner den Nebel im Gleisbett auf Bahnsteig E.

Hans Joachim Kleinschmidt - Abenteuerreise Ostkreuz

 

Hans Joachim Kleinschmidt
Abenteuerreise Ostkreuz

 

Wenn einer eine Reise tut, kann er was erzählen! Heidi und Hajo befinden sich auf der Rückreise von Hannover nach Berlin-Ostbahnhof. Der von uns benutzte Zug hatte bereits in Hannover über fünfzig Minuten Verspätung, die er auch bis Berlin nicht wieder einholen konnte. Wir kamen mit siebenundfünfzig Minuten Verspätung am Ostbahnhof an und meldeten diese sofort im Service-Center. Aber man belehrte uns bundesbahnfachmännisch, dass ein Regress erst ab sechzig Minuten wirksam wird. Das bedeutet für den Fahrgast, dass seine verlorene Zeit sein eigenes Problem bleibt. Also bekamen wir "nischt".

Ein Lichtblick war für uns die funktionstüchtige Rolltreppe zu den S-Bahngleisen. Die uns erteilte Information lautete: Benutzung der S-Bahn bis Ostkreuz, dann weiter mit der Ringbahn in die gewünschte Richtung. Da wirft sich für uns die naive Frage auf, warum wurde denn die bequeme S-Bahntrasse von Stadtbahn über Ostkreuz nach Treptow schon zu Beginn der unendlichen Umbauzeit des Bahnhofs Ostkreuz eliminiert? Das ist eine offensichtliche Verschwörung der Bauherren gegen die geplagten Reisenden.

Am Ostkreuz angekommen, wuselt sich Heidi, die noch etwas besser zu Fuß ist, zur Treppe durch, um zur Ringbahn zu gelangen. Ich ziehe schnaufend meinen geräderten Koffer, nein, gerädert fühle ich mich selbst, mein mit Rollen ausgestattetes Gepäck ebenfalls bis zur Treppe. Dieses improvisierte Prunkstück betrachte ich als weitere Verschwörung der Konstrukteure gegen die Benutzer. Die Stufen sind im Höhenabstand nicht entsprechend der Norm. Dadurch haben Körperbehinderte besonders große Probleme beim Hinauf- und Hinuntersteigen. Mit der rechten Hand den Handlauf nutzend, schleppten wir uns und unser Gepäck die Stiegen zu den Ringbahngleisen hinauf. Ein eisiger Wind begleitete unser Fortkommen. Die passende S-Bahn brachte uns geschafft aber glücklich endlich nach Hause.

Mein Fazit als gelernter ehemaliger Eisenbahner: Solch ein Chaos habe ich in der gesamten Dienstzeit bei der Deutschen Reichsbahn nicht erlebt. Dabei haben wir Eisenbahner über auftretende Mängel gelästert und kritisiert. Wir nannten dann den riesigen Betrieb despektierlich Forma Not und Elend oder, nach dem Namen unseres höchsten Chefs: "Kramers Fuhrbetrieb". Die Privatisierung der Bahn halte ich für die größte Verschwörung zum Nachteil der armen Reisenden, wovon schlechthin nicht nur das Ostkreuz betroffen ist.

Miryam Kirschner - Die Verschwörung des Fiaskos zu Genua

 

Miryam Kirschner
Die Verschwörung des Fiaskos zu Genua

 

Sie hatte entschieden, dass mit dem Sprung in die Freiheit am Ostkreuz niemanden geholfen sei. Nachdem sie 12 mal tief ein- und ausatmete fand sie in der Menschenmenge endlich den Ausgang zur Sonntagstraße.

Endlich erschöpft zu Hause angekommen schmeißt sie sich zu Hause auf die Couch und schaltet den Fernseher ein.

Eine Dokumentation erlangt Ihre volle Aufmerksamkeit. Plötzlich ist sie wieder hellwach. Was sich da vor ihren Augen ausbreitet ist im wahrsten Sinne der reinste Wahnsinn.

Ein kleines unschuldiges Baby erkundet im voll verkabelten Zustand seine Welt, lacht und krabbelt umher, die Eltern immer stolz in Szene gesetzt.

Der wissenschaftliche Vorstand der Fakultät "Human Factor" erklärt die Funktionen der Kabel, die dem Baby teilweise den Weg weisen. Teilweise zieht das kleine so unbeirrt umhertrollende Wesen die Kabel nach sich.

"Dieses Baby" fängt er an zu erklären, "das noch nichts von seiner Welt versteht, verhilft uns, auf verspielte Art und Weise dank seiner Erkundungen einen Computer zu kreieren, an dem die erfolgreichsten Wissenschaftler aus Genua mitarbeiten dürfen – die erste künstliche Intelligenz wird uns noch dieses Jahrzehnt überraschen."

Mit Genua konnte sie bisher nicht viel in Verbindung bringen, außer daß es sich um eine Stadt im Nordwesten Italiens handelt und sie dieses Stück von Schiller "Die Verschwörung des Fiescos zu Genua" gelesen hatte, in dem sie die zerissene Julia spielen durfte.

"Das Baby ist zweiundzwanzig Stunden pro Tag angeschlossen und ein Gerät, dem EEG ähnlich, zeichnet die Gefühle, Gedanken und Verhaltensweisen dieses süßen kleinen Menschen auf – eine bahnbrechende neuartige Methode, die der Entwicklung des zukünftigen Baby-Computers dient – ein Baby-Computer, der uns den Weg in eine neue Zukunft weisen wird ... Endlich werden wir verstehen können, warum sich der Mensch in welcher Situation wie verhält. Forscher der Psychologie – die undurchsichtigste Wissenschaft von allen - die Behavioristen sowie Psychoanalytiker werden sich endlich ihre Irrtümer eingestehen und sich nicht mehr streiten müssen."

Plötzlich hört sie Kirchenglocken im Dorf. 'Sind das die Kreationisten?!' flüstert sie und erschreckt sich über ihre eigenen Worte. Glücklicherweise sind es "nur" die Glocken aus dem Fernseher. Der Moderator grinst als würde er die Dachgiebel einer längst verlorenen Zeit im Hintergrund schmücken.

Aber was ist jetzt los? Der Sender springt um. Der Fernseher zeigt ein anderes Programm an, und das, obwohl sie noch nicht mal die Fernbedienung berührt hat. Es scheint sich auch um eine Dokumentation zu handeln - Thema Kinderarbeit. Dem Bericht zufolge wird 70 % der Kakao-Ernte von der Elfenbeinküste nach Deutschland importiert und an Ferrero geliefert — von Kindern für Kinder. Die Dokumentation ist zu Ende. In der Werbepause erscheint ein Schokoriegel, der mit seinem Milchglas flirtet — Kinderschokolade.

Sie muss aufs Klo und stellt noch schnell um auf die Dokumentation mit dem Baby. Auch hier ist gerade Werbepause. Ein Kind spielt mit einem dieser Figürchen aus der Kinderschokolade, die ganz einfach da sind, ohne Bastelanleitung, eines der 33 Serienfiguren mit Antenne auf dem Kopf. Oh nein, hier ist die Werbung schon vorangeschritten. Seufzend geht sie auf die Toilette.

Als sie wiederkommt läuft ein Bericht über Mädchenbeschneidungen.

Die andere Doku war doch noch nicht zu Ende. Ist der Fernseher wieder umgesprungen? Wo ist die Fernbedienung? Oh, sie hat sie auf dem Klo vergessen. Sie hat sie auf dem Spülknopf abgelegt, und nun ist sie zwischen der Heizung und der Wand gerutscht. Es dauert eine Weile, bis sie die Fernbedienung befreit hat.

Sie zappt weiter. RTL wirbt für eine Liebesgeschichte. 'Das ist doch bestimmt die Wiederholung einer solchen Komödie, die mich nur langweilen täte', denkt sie.

Auf einmal tut sich auf dem Bildschirm Big Brother auf. Big Brother, die 888. Staffel. Mittlerweile hat jeder der Bewohner dieses Hauses ein Geheimnis, wovon nur Big Brother eingeweiht ist. Jeder der Kandidaten, der wie auch immer auf das Geheimnis eines Mitbewohners kommt, kann von den Fernsehzuschauern nicht nominiert werden, das heißt nicht rauskatapultiert werden. Am Ende entscheidet also Big Brother?

Wie auch immer.

Sie möchte den Fernseher durch vier teilen. Glücklicherweise hat sie so einen Fernseher, bei dem sie vier Bilder gleichzeitig aufrufen und sehen kann.

Sie eruiert, auf welchen Sendern die Dokumentationen laufen und findet endlich den Bericht über das Baby.

Aber wo ist das Baby geblieben, dieses leibhaftige Geschöpf, wo ist es hin?! Auf einmal überfällt sie eine Angst, die wohl nur Mütter für ihre kleinen Sprösslinge spüren können, dieses Gefühl, leibhaftig mit einem Baby in Verbindung zu stehen, gesetzt den Fall, es wurde auf natürliche Art und Weise zur Welt gebracht.

Da! Endlich, da krabbelt es! Rechtzeitig kann sie noch beobachten, wie sich das Baby mit einer schlauen Mine von einem Kabel entheddert.

Hat es sich jetzt befreit, oder wird es ihm nur vorgegaukelt?

Das passiert also in Genua – was sich die Italiener alles so ausdenken, aber sie möchte erst gar nicht wissen, wie es woanders ausschaut.

Warum wurde gerade dieses Baby für die Experimente ausgewählt, und wie viel Geld wurde wohl dem über beide Ohren grinsenden Elternpaar angeboten, das ihrem Baby nun seine ganze Zukunft sichern kann: vom Elite-Kindergarten angefangen über die Elite-Uni. Einen Elite-Partner. Eine Elite-Beerdigung in einem Elite-Sarg auf einem Elite-Friedhof – was sonst?! Nicht ganz uneigennützig auch eine Elite-Alterspension für die lieben Eltern, die sich so sehr ihr ganzes Leben für Ihr Elite-Baby eingesetzt haben.

Ist dieses Baby womöglich eine gentechnische Kreatur von Chromosomen aus Heidi Klums Erbmaterial und dem entscheidenden konservierten y-Chromosom des DNS-Strangs von Albert Einstein? – Sozusagen eine perfekte Mischung?

Oder hat etwa doch ein Baby-Casting stattgefunden, und alles ist viel humaner als wir es uns denken.

Vielleicht hat sogar beides stattgefunden... Ein Baby-Casting zwischen Auserkorenen... Sie ist nämlich nicht so naiv zu glauben, daß alle Auswahlverfahren über eine einzige Agentur laufen, auch hier gibt es einen Wettbewerb und hohe Konkurrenz – verschiedene Firmen, die jede für sich eine Kartei zusammenstellen von Elite-Schönheiten und Elite-Intelligenzen... hochgezüchtete edle Menschen, die sich alle selbst übertreffen... auch eine Form von natürlicher Auslese, denn sind alle Menschen hochgezüchtet, bleibt eben immer noch ein Rest Sozialisation, die erklärt, warum ein Mensch so wird wie er ist.

Nachdem die Dokumentation endlich Ihren Schluß gefunden hat, wird der Film "Sie sind ein schöner Mann" angekündigt.

Nach dem Tod der Frau, die beim Kurzschluss der Melkmaschine das Zeitliche segnet, muß Ersatz her — weniger fürs schöne Gefühl als fürs schmutzige Geschirr. Wie sich schließlich ein trister Bauernhof in Frankreich durch den Einfluß einer Rumänin verwandelt, wird sagenhaft mit einer ordentlichen Portion Humor erzählt. Also doch noch ein Happy End.

Endlich müde, aber zufrieden fallen ihr die Augen zu.

Michael Guske - Die Geister vom Bahnsteig F

 

Michael Guske
Die Geister vom Bahnsteig F

 

Beinahe wäre der alte Mann eingenickt, doch sein Unterbewusstsein lässt ihn wieder hochschrecken. Er weiß, dass er den Halt im Bahnhof Ostkreuz nicht verschlafen darf. Dort muss er raus, und seine Freunde hatten ihm gesagt, dass er nur wenige Minuten Zeit zum Umsteigen in die Ringbahn hat. Er darf diesen Zug nicht verpassen, denn der ist der letzte vor der Betriebspause. Ansonsten müsste er fast drei Stunden warten, bevor ihn die erste Bahn in den Norden Berlins bringt, wo er in einer preiswerten Pension für die Dauer seines Besuches in Berlin wohnt.

Berlin! Über 40 Jahre ist es jetzt her, seit er die Stadt verlassen hat. Sein Militärdienst war zu Ende und er ging zurück nach Kanada. Er hatte in Westberlin viele deutsche Freunde zurück gelassen. Sie hatten sich geschrieben, miteinander telefoniert und später übers Internet mit Email und Skype miteinander kommuniziert. Doch erst jetzt hatte er es geschafft, wieder in die Stadt seiner Jugend zurückzukehren. Ein Transatlantikflug ist teuer, das Geld bei ihm war immer knapp. Aber jetzt hatte er sich seinen Traum erfüllt. Viel ist passiert in den letzten zwanzig Jahren. Die Mauer ist gefallen, Berlin ist wieder eine vereinte Stadt. Seine Freunde schrieben ihm voller Begeisterungen von den Veränderungen, die hier passierten, von dem Leben, dass in die einstmals pulsierende und dann zerissene Metropole wieder eingekehrt ist, von der Stadt, die aus ihrem Schlaf erwacht ist und nun keinen Schlaf mehr findet. Für den Flug gingen fast seine gesamten Ersparnisse drauf, doch was sein wird, wenn er wieder zu Hause ist, schert ihm im Moment wenig. Zu sehr ist er fasziniert von dem, was er jeden Tag erlebt. Er schläft wenig in diesen Tagen, doch so spät wie dieses Mal war er bisher noch nicht unterwegs.

Kurz vor der Einfahrt in den Bahnhof verlangsamt sich die Fahrt, dann bleibt der Zug stehen. Unruhig schaut er auf seine Uhr. 'Das wird knapp', denkt er und holt aus seiner Jackentasche den Zettel mit den eilig hingekritzelten Abfahrzeiten hervor. 'Verdammt knapp.'

Dann blickt er wieder angestrengt auf die Uhr, als könne er allein durch die Kraft seiner Gedanken die Zeiger zwingen, sich langsamer zu bewegen.

Doch dann, nach einer quälend langen Zeit, setzt sich die Bahn wieder in Bewegung. Er steht schon an der Tür und drückt den Knopf zum Öffnen, bevor der Bahnhof überhaupt erreicht ist. Endlich kommt der Zug zum Halten und mit einem leisen Zischen öffnet sich die Tür. Er orientiert sich kurz, dann steigt er aus und läuft eilig zur Treppe, die auf den neuen Ringbahnsteig führt. Ein kurzer Blick nach oben zeigt ihm, dass die Ringbahn Richtung Norden schon eingefahren ist. Einige Fahrgäste, wesentlich jünger als er, laufen an ihm vorbei, nehmen mehrere Stufen auf einmal und haben nach kurzer Zeit den oberen Bahnsteig erreicht. Er ist jetzt allein auf der Treppe. Inständig hofft er, dass der Zug auf ihn warten wird. Der Fahrer muss doch Verständnis dafür haben, dass er noch mit muss, dass er sich ein Taxi nicht leisten kann. Er hofft darauf, dass jemand ruft: "Halt, warten Sie, da ist noch jemand auf der Treppe, ein alter Mann, der kann nicht so schnell laufen".

Die Treppe erscheint ihm noch länger als sonst, die Stufen nehmen kein Ende. Er merkt, wie sein Herz rast, doch noch schneller kann er nicht. Bevor er oben ankommt, hört er das Abklingeln und kurz darauf verlässt der Zug den Bahnhof. Zu spät. Langsam nimmt er die letzten Stufen. Er zieht sich am Geländer hoch und atmet schwer. Der Bahnsteig ist hell erleuchtet, aber menschenleer. Die Anzeige wechselt von "Ring 41" auf "Kein Zugverkehr".

Bevor er überlegen kann, was er jetzt machen soll, muss sein Herz zur Ruhe kommen. Er spürt die Stiche in seiner Brust und sieht sich nach einem Sitzplatz um. Eine Bank, besser gesagt, vier metallene aneinander geschweißte Einzelsitze, unmittelbar in seiner Nähe, im Lichtschatten eines noch nicht eingerichteten Kioskes, sind sein Ziel.

Erleichtert lässt er sich nieder. Der Atem geht immer noch stoßweise, die Stiche sind schmerzhaft, doch sein Herz scheint sich zu beruhigen. Der Herzschlag wird langsam und immer langsamer und plötzlich fallen ihm die Augen zu.

Er kommt wieder zu sich. Er muss geschlafen haben, wie lange, weiß er nicht. Seine Hände sind kalt, aber er friert nicht. Plötzlich hat er das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Er sieht sich um. Einige Meter entfernt, im Lichtschein der Bahnhofsbeleuchtung, befindet sich eine weitere Bank, vier Sitze, zusammengeschweißt, in der Mitte eine Ablage fürs Gepäck. Auf dieser Bank sitzt ein Mann.

 

Anton ist der Erste, wie immer. Und wie immer sitzt seine Eisenbahneruniform akkurat, die rote Mütze auf seinen Kopf leuchtet wie Klatschmohn auf einer Sommerwiese, die Abfertigungskelle hat er fest in der Hand. 37 Jahre hat er auf dem Bahnsteig F die Züge abgefertigt, erst die Ringbahnen, dann, nach dem Mauerbau, den Oranienburger, dessen Holzabteile immer ein wenig nach Fisch rochen, den Grünauer, der grün bezogene gepolsterte Sitze hatte, den KWer und natürlich die Pendelzüge zur Greifswalder. Er kannte jeden Fahrplan auswendig, jeden Fahrer mit Namen, jede Niete an den alten Säulen, die das Bahnsteigdach trugen. Die S-Bahn war sein Leben, bis zu jenem Tag, als die Uniform seinen schwachen Körper nicht mehr aufrecht halten konnte. Er brach zusammen in dem kleinen Häuschen, das dem Bahnsteigpersonal ein bisschen Schutz bot bei Wind und Kälte. Als der Fahrer des Aussetzzuges nach Baumschulenweg ihn fand, verwundert, dass er nicht abgefertigt wurde, war es schon zu spät. Anton war tot, wenige Wochen vor der Pensionierung. Doch Anton konnte selbst als Toter nicht von seinem Bahnsteig lassen. Jede Nacht kommt er her, um nach dem Rechten zu sehen, die Uniform gebügelt, die Mütze strahlend rot. Auch die Kelle hat er bei, man weiß ja nie.

"Na, Anton, du oller Schaffner, was guckst du so missmutig?" Veilchen legt Anton zur Begrüßung die Hand auf die Schulter und setzt sich neben ihn. Veilchen heißt eigentlich richtig Gisela, aber jeder sagt Veilchen zu ihr. Sie hat Blumen verkauft, unten auf dem Bahnsteig E, nach Ostbahnhof in die eine, nach Erkner in die andere Richtung. Eines Tages stieß sie aus Versehen einen kleinen Wassereimer um, in dem schon etwas verwelkte Nelken standen. Sie rutschte aus, fand keinen Halt und stürzte auf ein Stück Styropor. Pech für sie, dass in dem Styropor lange Drähte aufrecht steckten, mit denen sie eigentlich die Köpfchen der Nelken abstützen wollte, um sie frisch und kräftig aussehen zu lassen. Einige der Drahtenden bohrten sich direkt durch die Brust in ihr Herz.

"Ich weiß nicht, ich weiß nicht", sagt Anton, "ich kann mich einfach nicht an diesen Anblick gewöhnen". Anton deutet mit der Hand unbestimmt über den Bahnsteig. "Wie sieht das denn aus? Das soll unser Ostkreuz sein? Das kann auch genauso gut der Hauptbahnhof von Paderborn sein oder ein deutsches Entwicklungshilfeprojekt für Kambodscha."

"Gibt’s in Kambodscha überhaupt eine Bahn?" Veilchen schaut nachdenklich.

"Keine Ahnung, ist doch egal, aber das hat doch hier alles nichts mehr mit dem alten Ostkreuz zu tun. Das hat doch keine Geschichte, das atmet doch nicht!"

"Anton, du alter Pufferküsser, was schimpfst du schon wieder?" Aus dem halbdunklen Hintergrund taucht Fritz auf, in seiner verblichenen Wehrmachtsuniform, das Käppi schief auf dem Kopf. Fritz hatte in den letzten Apriltagen des Weltkrieges den Wasserturm und die angrenzenden Schrebergärten für seinen Führer gegen Bolschewismus und Zwangskollektivierung verteidigt. Das klappte aber nicht, denn ein russischer Scharfschütze hatte Fritz ein sauberes Loch mitten in die Stirn geschossen. Für Fritz war der Krieg und auch alles Andere damit zu Ende, die Schrebergärten wurden von der Roten Armee erobert. Fritz setzt sich hin, rückt das Käppi zurecht, holt ein leicht graustichiges Taschentuch aus der Hosentasche und poliert damit die Nahkampfspange, die er über der linken Brust trägt.

"Du kannst die Uhr nicht zurück drehen, glaub’ mir, ich weiß das. Der alte Bahnsteig ist weg, futsch, abgerissen, p-u-l-v-e-r-i-s-i-e-r-t." Das letzte Wort dehnt er besonders lang und betont jeden Buchstaben einzeln. Fritz liebt diese bildhafte Sprache, 12 Jahre Wochenschau haben ihre Spuren hinterlassen. "Ist doch so, oder, Richard, was sagst du?" Fritz schaut den Neuankömmling, der in diesem Moment auf sie zukommt, lauernd an. Er kann Richard nicht besonders gut leiden. Richard ist ein ganz und gar unmilitärischer Mensch. In seinem Leben hatte er irgendwas mit Musik zu tun, ist dann aber völlig abgestürzt. Vor einigen Jahren ist er am Heiligabend, nachdem er seine Mutter im Altersheim besucht hat, noch durch einige Eckkneipen gezogen, die es damals noch am Bahnhof gab. Völlig betrunken, ist er dann auf dem Bahnsteig eingeschlafen und in der bitterkalten Nacht erfroren.

Richard zieht die schmalen Schultern hoch und nickt. "Ja, klar, ist alles neu hier. Was war, ist vorbei. Finde Dich damit ab, Anton, jetzt beginnt eine andere Zeit." Richard ist nicht besonders engagiert. Seit Wochen reden sie jede Nacht über dieses Thema. Anton kommt davon nicht los, aber ihm ist es egal. Er hat das Ostkreuz noch nie besonders gemocht, es hat ihm sogar manchmal Angst gemacht. Dunkel, kalt, verfallen, in Stahl und Stein gehauene preußische Eisenbahnkultur. Nee, das war nicht sein Ding. Es kann nur besser werden.

Ein bunter Rucksack fällt vor ihre Füße, mit einem leuchtend gelben Smiley drauf. Ein junges Mädchen taucht leise wie ein Schatten auf und hockt sich wortlos auf die Gepäckablage in der Mitte der Bank. Maria ist noch nicht lange dabei, erst seit dem letzten Sommer. Sie hatte sich vor eine S-Bahn geworfen. Warum, wissen die Anderen nicht so genau. Maria spricht wenig, sie wissen nur, dass sie aus Bosnien kommt und großen Kummer hatte. "Kummer", mehr hatte sie nicht gesagt, als sie sie nach dem "Warum?" fragten. Sie fragten nicht mehr und haben sich inzwischen daran gewöhnt, dass Maria jede Nacht bei ihnen sitzt und nichts sagt. Manchmal lächelt sie ein wenig, aber meistens sieht sie sehr traurig aus. Maria nickt kurz in die Runde, holt Tabak und Papier aus ihrer Jackentasche und dreht sich eine Zigarette.

"Ja, klar, weiß ich doch", Anton fühlt sich missverstanden. "Natürlich ist das alles jetzt weg. Aber so", seine Hand beschrieb einen Halbkreis, "aber so geht das doch auch nicht. Man kann uns doch nicht so einen seelenlosen Kasten hinsetzen. Ob Bahnhof, Einkaufscenter, Hotel oder Flughafen, das sieht doch heute alles gleich aus! Als wenn eine riesige Betonfabrik die Einzelteile ausspuckt und die dann immer nur ein bisschen anders zusammengesetzt werden." Anton rückt sich die Krawatte zurecht und überprüft mit geübter Handbewegung den korrekten Sitz seiner Dienstmütze.

"Und, was willst du dagegen machen?" Fritz ist fertig mit der Politur seines Ordens, steckt das sorgfältig zusammengefaltete Taschentuch ein und schaut interessiert zu Anton herüber.

"Ja, Anton was willst du machen?" hakt Veilchen nach. "Wir sind nur gottverdammte Zombies, die aus irgendwelchen Gründen immer noch hier abhängen, obwohl wir eigentlich schon lange friedlich in der Erde liegen sollten."

"Wir müssen ein Zeichen setzen gegen diese zunehmende Verschandelung, diese kultivierte Leblosigkeit." Anton ist aufgesprungen und schaut die anderen an.

"Diese was?" Fritz blickt irritiert zu Anton auf.

"Er meint diese in Beton gegossene Langeweile, die dann der Öffentlichkeit als große Nummer verkauft wird. Dafür bekommt der Architekt soviel Schotter, dass es dann leider für ein komplettes Bahnsteigdach nicht mehr reicht." Richard sprich leise und schaut dabei auf einen Plakat, dass jemand auf die blinde Scheibe des Kiosks geklebt hat. 'Lebe jeden Tag. Klangschalenmeditation mit Meister Lari Shang.' ist dort zu lesen, dazu das Foto eines gütig dreinblickenden kahlköpfigen Mannes, der wie ein Klon vom Dalai Lama aussieht.

"Genau, Richard hat’s erfasst. Wir müssen zeigen, dass wir uns so das neue Ostkreuz nicht vorgestellt haben."

"Na ja, so schlecht ist das ja bis jetzt auch nicht." Veilchen sieht sich in der Halle um. "Es gibt ein Dach und Wände an den Seiten. Denk dran, Anton, früher hat es immer gezogen wie Hechtsuppe. Man konnte sich ja den Tod holen auf diesem Bahnsteig … äh … uups … Entschuldigung … Anton." Veilchen bricht ab, doch Anton scheint nichts gemerkt zu haben.

"Also, Anton, was schlägst Du denn vor? Sollen wir uns auf die Gleise legen? An die Signale ketten? Ein riesiges Transparent aufspannen: Wir wollen unser altes Ostkreuz wieder haben? Das ist doch alles Quark. Den meisten Leuten ist das doch völlig Wurscht, wie es in ihrer Stadt aussieht. Hauptsache, zu Hause liegt die Häkeldecke ordentlich über dem Fernseher." Richard winkt müde ab und überlegt dabei, was eine Klangschalenmeditation ist.

"Naja, so richtig weiß ich das auch nicht", sagt Anton, leicht resigniert, "du hast Recht, es interessiert doch sowieso keinen".

"Farbe." Maria wirft die Kippe auf den Boden und ignoriert Antons erzürnten Blick. "Hier fehlt Farbe." Alle sind überrascht. So viele Wörter hat Maria bisher noch nie hintereinander gesprochen. "Alles grau hier, nicht gut für die Menschen."

"Sie hat Recht", sagt Veilchen und wirft Maria ein Lächeln zu. "Sie hat völlig Recht. Es gibt hier keine Farbe und keine Blumen. Kein Mensch will auch nur eine Sekunde länger als unbedingt nötig bleiben. Es gibt nichts, woran das Auge sich erfreuen kann. Das sollten wir ändern. Was meinst Du, Anton?"

Anton überlegt noch ein wenig, dann nickt er. "Ja, ich denke auch, dass das eine gute Idee ist. Wir besorgen uns Farbe und machen den Bahnsteig lebendig. Macht Ihr mit?"

Maria und Veilchen nicken.

"Und wie sollen wir das machen? Das mit der Farbe besorgen und so weiter?" Fritz hat inzwischen wieder sein Taschentuch herausgeholt und poliert erneut seine Nahkampfspange.

"Sind wir Geister oder was?" fragt Veilchen herausfordernd. "Lass dir was einfallen, egal was, aber komme morgen ja nicht ohne Farbe."

Fritz schaut zwar noch etwas zweifelnd, nickt dann aber auch.

"Und du, Richard?" Richard denkt immer noch über das Wesen einer Klangschalenmeditation nach und nickt abwesend.

"Gut, dann machen wir das so. Wir treffen uns morgen zur üblichen Zeit, mit Farbe, Pinsel und Rolle. Wie Ihr das Zeug besorgt, ist eure Sache. Und bitte kein Feldgrau, Fritz!"

Anton winkt ihnen zu, dreht sich um und verschwindet. Die anderen folgen ihm.

 

Die ganze Zeit hatte ihnen der alte Mann zugehört, so, wie er es schon seit einigen Wochen machte, seit jener Nacht, als sein herz auf diesem Bahnsteig seinen letzten Schlag getan hat. Auch er steht auf und geht in Dunkelheit.

Ilse Treue - Automatisches Scheiben einer Verschwörungs-Verweigerin

 

Ilse Treue
Automatisches Schreiben einer Verschwörungs-Verweigerin

 

Als ich das Thema des diesjährigen Ostkreuz-Schreibwettbewerbs las, dachte ich, was haben sie sich nur einfallen lassen? "Ostkreuz-Verschwörung", das hat für mich so etwas wie Sensation oder gar Katastrophe. Nein, dazu wollte ich nichts schreiben. An acht von neun Schreibwettbewerben nahm ich teil. Danach schwor ich mir: Jetzt ist Schluss. Doch das Ostkreuz lässt mich nicht in Ruhe. Es liegt mir am Herzen. Muss man aber an das Ostkreuz in fiktiven Geschichten denken? Kann man sich nicht einfach nur freuen über das, was da entsteht? Die gewaltigen logistischen, technischen und menschlichen Leistungen bei laufendem Verkehr sind beeindruckend. Die neue Ringbahnhalle begeistert mich. Wie imposant das verglaste Gebäude aussieht! Ob ich von der Warschauer Brücke aus zum Ostkreuz schaue oder von der Halbinsel Stralau kommend oder ob ich den bequemen Aufzug am Eingang Markgrafendamm betrete, immer ergreift mich ein erhebendes Gefühl.

Meine Gedanken wandern um Jahrzehnte zurück. Unsere Kinder stiegen mit ihren kleinen Beinen tapfer die vielen Stufen auf und ab. Wir Eltern fuhren täglich vom Ostkreuz zur Arbeit. Treppensteigen war selbstverständlich. In dem Gewirr der Bahnsteige A bis F kannten wir uns gut aus. Das Ostkreuz war Teil unseres Lebens.

Im letzten Winter fror ich auf dem zugigen, ungeschützten Ringbahnsteig erbärmlich und wurde wiederholt regennass, als ich wochenlang täglich von Ostkreuz nach Pankow fahren musste. Warte ich dagegen heute in der komfortablen, großzügig angelegten, verglasten Halle, fühle ich mich gut aufgehoben. Was tut es, wenn die Kioske nicht pünktlich öffnen? Dass wir auf die Rolltreppen noch lange warten müssen, schmerzt natürlich, kann aber die Freude über den Fortschritt der Bauarbeiten nicht schmälern. Zu gerne würde ich den gesamten Bahnhof in seiner neuen Gestaltung noch erleben. Vielleicht ist mir das vergönnt.

Ob Liedermacher eines Tages das Ostkreuz besingen werden?

Mein automatisches Schreiben beende ich in der Hoffnung, dass mir das Verweigern des Verschwörungsthemas verziehen wird.