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Kultur- und Nachbarschaftszentrum

Buch 2010

 Zu diesem Buch

 

Ein jeder von uns kennt das: Im Leben gibt es Augenblicke, die, noch während sie geschehen, bereits jenes Pathos haben, mit dem wir uns dann künftig an sie erinnern werden. Da geschieht etwas und noch während wir es erleben, wird uns klar: Dies ist ein bedeutender Augenblick, das darf nicht vergessen werden und das werde ich nicht vergessen.

Literaten nennen das die Evidenz des Augenblicks. Und in unserer Hemisphäre sind wir darin eingeübt, sie in mythologische Bilder zu kleiden: als Heilung, als Vision, als Naturspektakel, als Epiphanie. Dabei können es kleine, völlig alltägliche Dinge sein, die das bewirken. In Peter Handkes "Stunde der wahren Empfindung" erblickt der Held in seiner großen Verzweiflung plötzlich drei Dinge zu seinen Füßen: ein Kastanienblatt, eine Scherbe eines Taschenspiegels und eine Kinderzopfspange. Schon lange hatten sie so unbeachtet dagelegen, doch jetzt, mit einem Mal, bedeuteten sie etwas, wurden zu Wunderdingen, die mit der Wundern gebotenen undeutlichen Klarheit verkündeten: He, Mann, wer sagt denn, dass die Welt schon entdeckt ist? Also, worauf wartest du?

Und in seinem Buch "Paare Passanten" erinnert uns Botho Strauß an etwas, was wir alle schon erlebt haben: wie in der formlosen Masse der auf dem Gehsteig an uns Vorüberziehenden ein einzelnes Gesicht aufscheint, das uns schon von weitem in seinen Bann zieht, das uns etwas verheißen will, worauf wir gewartet haben, ein Gesicht, dessen Nachbild in uns weiter zittert, auch wenn es schon längst vorübergezogen ist. Der so Erschütterte wüsste nicht zu sagen, was gerade geschehen ist. Aber sein Gang wird mit einem mal kräftiger, sein Mut froher, seine Gedanken werden klarer, und sei es dies auch nur für eine Zeit lang.

Die Arbeit des Erzählens, des Schreibens besteht nun darin, die Wucht des Augenblicks, das Erschauern, dieses plötzliche Innewerden geschickt in ein erzählerisches Kontinuum einzuweben und möglichst unverdünnt an den Leser weiter zu geben. Das vorliegende Buch bringt einige bemerkenswerte Versuche, beides zu vereinen: eine Geschichte zu erzählen und den Kairos beim Schopfe zu packen.

Augenblicke sind wie Fotografien. Eine Fotografie ist angehaltene Zeit und sie sagt uns — seltsam — vor allem dies: dass die Zeit vergeht und wir ihr nicht entrinnen können. "Verweile doch, du bist so schön", sagt Faust und ist dabei, sich um Kopf und Kragen zu reden. Und doch: Die Augenblicke sind es, die unserem Erinnern eine Struktur, eine Richtung geben.

Dies ist nun die achte Anthologie, die die Texte eines Literaturwettbewerbs, den das Rudi-Nachbarschaftszentrum seit 2002 alljährlich ausruft, versammelt. Mit den sehr unterschiedlichen, sich aber dennoch in gewisser Weise immer wieder überschneidenden Themenstellungen bieten sie, wenn man zurück blickt, ein vielschichtiges Bild des Lebens und Treibens an einem ganz konkreten Ort in Berlin mit dem Ostkreuz als Epizentrum großstädtischen Bebens. Und wir alle sind gespannt, wohin uns das noch führen wird.

 

Rainer Fischer Berlin, im Oktober 2010

Buch 2010

 Zu diesem Buch

 

Ein jeder von uns kennt das: Im Leben gibt es Augenblicke, die, noch während sie geschehen, bereits jenes Pathos haben, mit dem wir uns dann künftig an sie erinnern werden. Da geschieht etwas und noch während wir es erleben, wird uns klar: Dies ist ein bedeutender Augenblick, das darf nicht vergessen werden und das werde ich nicht vergessen.

Literaten nennen das die Evidenz des Augenblicks. Und in unserer Hemisphäre sind wir darin eingeübt, sie in mythologische Bilder zu kleiden: als Heilung, als Vision, als Naturspektakel, als Epiphanie. Dabei können es kleine, völlig alltägliche Dinge sein, die das bewirken. In Peter Handkes "Stunde der wahren Empfindung" erblickt der Held in seiner großen Verzweiflung plötzlich drei Dinge zu seinen Füßen: ein Kastanienblatt, eine Scherbe eines Taschenspiegels und eine Kinderzopfspange. Schon lange hatten sie so unbeachtet dagelegen, doch jetzt, mit einem Mal, bedeuteten sie etwas, wurden zu Wunderdingen, die mit der Wundern gebotenen undeutlichen Klarheit verkündeten: He, Mann, wer sagt denn, dass die Welt schon entdeckt ist? Also, worauf wartest du?

Und in seinem Buch "Paare Passanten" erinnert uns Botho Strauß an etwas, was wir alle schon erlebt haben: wie in der formlosen Masse der auf dem Gehsteig an uns Vorüberziehenden ein einzelnes Gesicht aufscheint, das uns schon von weitem in seinen Bann zieht, das uns etwas verheißen will, worauf wir gewartet haben, ein Gesicht, dessen Nachbild in uns weiter zittert, auch wenn es schon längst vorübergezogen ist. Der so Erschütterte wüsste nicht zu sagen, was gerade geschehen ist. Aber sein Gang wird mit einem mal kräftiger, sein Mut froher, seine Gedanken werden klarer, und sei es dies auch nur für eine Zeit lang.

Die Arbeit des Erzählens, des Schreibens besteht nun darin, die Wucht des Augenblicks, das Erschauern, dieses plötzliche Innewerden geschickt in ein erzählerisches Kontinuum einzuweben und möglichst unverdünnt an den Leser weiter zu geben. Das vorliegende Buch bringt einige bemerkenswerte Versuche, beides zu vereinen: eine Geschichte zu erzählen und den Kairos beim Schopfe zu packen.

Augenblicke sind wie Fotografien. Eine Fotografie ist angehaltene Zeit und sie sagt uns — seltsam — vor allem dies: dass die Zeit vergeht und wir ihr nicht entrinnen können. "Verweile doch, du bist so schön", sagt Faust und ist dabei, sich um Kopf und Kragen zu reden. Und doch: Die Augenblicke sind es, die unserem Erinnern eine Struktur, eine Richtung geben.

Dies ist nun die achte Anthologie, die die Texte eines Literaturwettbewerbs, den das Rudi-Nachbarschaftszentrum seit 2002 alljährlich ausruft, versammelt. Mit den sehr unterschiedlichen, sich aber dennoch in gewisser Weise immer wieder überschneidenden Themenstellungen bieten sie, wenn man zurück blickt, ein vielschichtiges Bild des Lebens und Treibens an einem ganz konkreten Ort in Berlin mit dem Ostkreuz als Epizentrum großstädtischen Bebens. Und wir alle sind gespannt, wohin uns das noch führen wird.

 

Rainer Fischer Berlin, im Oktober 2010

Katharina Triebe - Der mit der Bahn fährt

Katharina Triebe
Der mit der Bahn fährt

 

Der Tag hatte gleich unglücklich begonnen – mit einem Ehekrach, wenn man so will. Uschi, Dr. Brösikes Frau, benötigte unbedingt das gemeinsame Auto und so hatte der Gatte keine andere Wahl gehabt, als die Dienstreise nach Berlin mit dem Flugzeug von München aus anzutreten. Normalerweise fuhr Uschi mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, aber diesmal mussten verschiedene Wege mit der Schwiegermutter erledigt werden, die nicht mehr gut zu Fuß war. Alle Einwände von Brösike blieben fruchtlos und zu guter Letzt war Uschi Türen knallend gegangen, den Autoschlüssel in der Hand und ohne Frühstück für ihren Mann zuzubereiten.

Mit dem Flugzeug nach Berlin zu kommen, war kein Problem, aber am Flughafen Schönefeld stand kein einziges Taxi bereit. Die Taxifahrer streikten heute. Brösike war hilflos, denn mit öffentlichen Verkehrsmitteln, noch dazu in einer Großstadt wie Berlin, kannte er sich nicht aus. Sehnsüchtig dachte er an seinen schicken neuen Audi A4, in dem sich jetzt wahrscheinlich die Schwiegermama gemütlich durch München chauffieren ließ. Verärgert lief er der Menschenmenge hinterher und gelangte so schließlich zum S-Bahnhof Schönefeld. Dort schaute er sich suchend nach einem Fahrkartenschalter um – nichts. "Hier gibt’s nur Automaten", meinte eine vorbei eilende Frau zu ihm und zeigte auf einen solchen in der Nähe. Brösike begann sich durch das Menü zu klicken. Irgendein Dummkopf hatte das Display zerkratzt und nur mühsam konnte Brösike die Schrift entziffern. Was für einen Fahrschein benötigte er eigentlich? Kurzstrecke oder ABC? Nahm er gleich eine Tageskarte oder fuhren am Nachmittag vielleicht die Taxis wieder? Hinter ihm hatte sich eine murrende Menge gesammelt, die ungeduldig darauf wartete, ebenfalls einen Fahrschein zu lösen. "Mann, jeht denn dit hier nochmal voran?", rief einer von hinten. "Et jibt Leute, die müssen heute noch arbeiten. Helft doch dem Herrn auße Provinz mal!" "Na hören Sie mal, ich komme aus München, von wegen Provinz!" Dr. Brösike wollte eben noch weitere Erklärungen folgen lassen, da kam endlich der Fahrschein aus dem Automaten und die Wartenden drängten ihn beiseite. Fast hätte er vergessen, den Fahrschein zu entwerten, aber eine Frau, die wohl Mitleid mit ihm hatte, wies ihn im letzten Moment darauf hin. Die Bahn kam und Brösike stieg ein, holte seine Zeitung aus der Tasche und begann zu lesen. Von Station zu Station wurde es voller. Alle Sitzplätze waren belegt, da stieg noch eine dicke Frau ein. Mit drei gewaltigen Lidl-Tüten voller leerer Pfandflaschen drängte sie sich durch die Gänge und blieb schließlich schnaufend vor Dr. Brösikes Platz stehen. "Det tut mir leid, Sie sitzen uff 'nem Schwerbehindertenplatz und ick hab 'nen Hüftschaden!" Auffordernd sah sie ihn an. "Oder sind Se ooch schwerbehindert?" "Natürlich nicht!", knurrte Brösike, erhob sich und gesellte sich zu den Fahrgästen, die im Gang standen. Zeitung lesen war jetzt nicht mehr möglich, er faltete sie mühsam zusammen, stieß dabei zweimal gegen den Kopf eines älteren Herren und knüllte das gute Stück schließlich wütend in seine Aktentasche. Herrgott, war das voll. Und so stickig. "Sie gestatten?" Er beugte sich vor und öffnete ein Fenster. "Nee!", rief ein Fahrgast, "das zieht", und rums war das Fenster wieder zu. Brösike schaute sprachlos auf den Fahrgast, der ihm nun auch noch einen Vogel zeigte. So eine Unverschämtheit. An der nächsten Haltestelle stieg ein junger Mann mit Hund ein, stellte sich als Obdachloser namens Heinrich vor, der was dazu verdienen wollte, um nicht anderen zur Last zu fallen. "Möchte jemand den 'Straßenfeger' kaufen?" Keiner wollte, im Gegenteil, außer Brösike schien niemand von dem Mann mit Hund Notiz zu nehmen. Schöneweide. Ein junger Schlaks balancierte mit seinem Kaffeebecher durch den Gang und blieb direkt neben Brösike stehen. Er verströmte einen intensiven Käsegeruch, der wohl aus seinen Turnschuhen aufstieg. Brösike fühlte leichten Schwindel, wurde jedoch jäh wieder in die Wirklichkeit befördert durch einen Stoß in den Rücken. Ein Jugendlicher mit immenser Schulmappe quetschte sich an allen vorbei und verpasste jedem mit dem Tornister einen kräftigen Schubs. Leider erwischte es auch den langen Schlaks, aus dessen Pappbecher sich infolgedessen ein Schwupp Café au Lait auf Brösikes weißes Hemd ergoss. "Bingo!", rief der lange Kerl und hob grinsend den Daumen. Was für eine blöde Angewohnheit hier in Berlin vorherrschte, jeder zweite Fahrgast unter dreißig saugte entweder vor aller Augen an einem Kaffeebecher oder schüttete den Inhalt eines Thermobechers in sich hinein. Das war ja eine richtige Becherkultur hier. Konnten die nicht zu Hause frühstücken? Bei Brösikes wurde daheim gefrühstückt, wie sich das gehörte. Na gut, heute nicht, das war hoffentlich eine Ausnahme. An diesem Punkt wurden Brösikes Gedanken jäh unterbrochen — Musik erscholl. Vier muntere Musikanten rumänischer Herkunft hatten es irgendwie geschafft, in die volle S-Bahn zu gelangen und bemühten sich nun unverdrossen, den genervten Fahrgästen ein Stück rumänischer Volkskunst näher zu bringen. Einer blies Saxophon, der zweite Ziehharmonika, der dritte schwang die Rasseln und der vierte schob sich mit einer Sammeldose durchs Gedränge. "Eine kleine Spende?" Doch da fuhr die Bahn in Ostkreuz ein und Brösike taumelte hinaus.

Er schnappte nach Luft. Endlich war die Tortur vorbei! Doch Irrtum, es sollte noch schlimmer kommen. Wo fuhr die Bahn ins Zentrum ab? Einen Augenblick fühlte er sich verloren zwischen all den hastenden und schubsenden Menschen. "Sagen Sie mal, welche Bahn fährt zur Friedrichstraße?", fragte er einen jungen Mann. Keine Antwort. Mit glasigem Blick schaute der Kerl an ihm vorbei und wippte dabei mit dem Kopf. Ob der Drogen genommen hatte? Doch da entdeckte Brösike, dass dem jungen Mann Schnüre aus den Ohren hingen. Ach, das neumodische Zeugs, iPad genannt. Brösike seufzte. Kommunikation schien langsam auszusterben. Beim Blick auf seine Uhr erschrak er. Nur noch 25 Minuten, bis sein Workshop begann. Marketing und strategische Planung im Kontrastmittelbereich. Da er gleich zu Anfang eine Powerpointpräsentation halten sollte, musste er sich sputen. Zwei junge Mädchen im Backfischalter zeigten ihm, wo die S-Bahn Richtung Friedrichstraße abfuhr. Wie hypnotisiert starrten sie dabei auf seine Kaffeeflecke auf dem Hemd. Dr. Brösike errötete. Um die Reinigung sollte sich zu Hause gefälligst Schwiegermama kümmern … Ihr hatte er diesen ganzen Stress hier schließlich zu verdanken. Er eilte treppauf und treppab. Dieser Bahnhof Ostkreuz glich einem riesigen Bauplatz. Fuhr ein Zug heute noch auf Bahnsteig A ab, konnte er morgen schon auf Bahnsteig C losfahren. Der einzige ruhende Pol schien ein Wasserturm zu sein, der aus der Ferne grüßte.

Endlich hatte Brösike die richtige Bahn bestiegen und fuhr bis zur Friedrichstraße. Mit Gleichmut ertrug er die Wolke Restalkohol, die sein Sitznachbar verströmte. Als der aber schließlich einschlummerte und sein Kopf auf Brösikes Schulter sackte, stand er abrupt auf. Heute blieb ihm aber auch nichts erspart. Endlich fuhr der Zug am Bahnhof Friedrichstraße ein. Vor dem S-Bahngelände angekommen, klingelte sein Handy. Fräulein Cindy war dran, seine Sekretärin. Wo er bleibe, ob er heute nicht ins Büro käme? Was, wieso heute? Ach so, der Workshop in Berlin findet erst morgen statt? Brösike hatte sich im Tag geirrt!

Andrea Noeske - Kreuzwege

 

Andrea Noeske
Kreuzwege

 

Die Türen krachen zu, begleitet von blinkendem Rotlicht. Ächzend, wie der Atem einer altersschwachen Frau, erwacht der Motor der S-Bahn zum Leben. Ein Ruck geht durch die Wagons und nur langsam nimmt die Bahn Fahrt auf, bevor sie endlich ihren Rhythmus findet.

Das Rattern der Räder ist einlullend. Regentropfen sprenkeln die Scheibe, ziehen lange Streifen im Fahrtwind. Es regnet schon den ganzen Morgen. Der weiße Rauch der Industrieanlage hellt das Grau der Wolken auf, die zwischen Schornsteinen und Häuserschluchten festklemmen. Bäume, die ihre nackten Arme gen Himmel strecken, vervollständigen die Szenerie vor dem Fenster.

Ich spüre den Stillstand, obwohl ich in der fahrenden Bahn sitze. Es geht nicht voran. Man(n) hat mich ausgebremst. Orientierungslos überlasse ich mich der Bahn, die ihrem vorgegebenen Weg auf Schienen folgt und irgendwann, irgendwo ankommen wird.

"Guten Tag. Entschuldigen Sie bitte die Störung. Mein Name ist Stefan. Ich bin seit acht Jahren obdachlos. Ich verkaufe die neue Ausgabe des "Straßenfeger". Wenn Sie kein Interesse an der Zeitung haben …, ich freue mich auch über jede kleine Spende, etwas zu essen oder zu trinken."

Ich spüre den Lufthauch, als Stefan an mir vorbeiläuft. Versuche den plötzlichen Geruch menschlicher Ausdünstungen, die seit Tagen nicht mit Wasser und Seife in Berührung gekommen sind, auszublenden und schaue genauso beschämt zu Boden, wie die Leute, die mir gegenübersitzen. Nicht bereit, etwas zu geben. Schweigen. Sämtliche Gespräche um mich herum sind verstummt, solange Stefan in unserer Nähe ist. Dann verschwindet er in den Tiefen des Wagons. Nur seine Stimme ist aus weiter Ferne wieder zu hören. Erneut leiert er seinen Spruch herunter, seit nunmehr acht Jahren wahrscheinlich: "Guten Tag. Entschuldigen Sie bitte die Störung. Mein Name ist Stefan…"

"Mein Name ist Julia", setze ich seinen Monolog in Gedanken fort. "Ich bin Single … seit nunmehr einem Tag. Und ich frage Sie, ist es Liebe, sich per E-Mail aus dem Leben des anderen zu verabschieden?!"

Dieser Gedanke wühlt sich in meine Eingeweide, presst meinen Magen zusammen. Sein unwilliges Knurren erinnert mich daran, dass ich ihn schon viel zu lange vernachlässigt habe. Seit dieser verdammten E-Mail geht gar nichts mehr.

 

"Mama, ich hab dich lieb." Ein dünnes Stimmchen, genauso dünn wie die kleine Gestalt, die augenscheinlich neben ihrer Mutter auf der Bank sitzt und um Aufmerksamkeit, Zuwendung heischt. Vergeblich.

Schweigen, Rattern der Räder, das Trommeln des Regens an den Scheiben, wenn die Bahn ihr Tempo verlangsamt, um in den nächsten Bahnhof einzufahren. "Nächster Halt Rummelsburg."

Es schnürt mir die Kehle zu.

"Rede mit deinem Kind. Es kann doch nicht so schwer sein!"

Die Frau hört meinen stummen Schrei nicht.

Schweigen, Rattern der Räder, Quietschen der Bremsen als die Bahn im Bahnhof hält.

"Es ist Liebe, den anderen gehen zu lassen, wenn er einen neuen Weg einschlagen will, an der nächsten Kreuzung nicht mehr geradeaus an deiner Seite läuft. Liebe heißt … loslassen."

Er hat mir eine E-Mail geschrieben. Kein Anruf, kein abschließendes Gespräch, nur ein paar Worte. Worte, die alles verändern, mich zu dem machen, was ich jetzt bin. Allein.

"He, lass das…" Das darauf folgende Lachen passt nicht hierher, passt nicht zu dem Regen, dem Weltuntergang da draußen.

Ungeachtet meines stillen Widerspruchs, stürzt diese Explosion an Farben in unser Abteil. Karminrotes Haar, vom vergangenen Sommer oder der Sonnenbank gebräunte Haut, ein gallegrüner Trenchcoat, so grün, dass es in den Augen schmerzt. An der Seite des Farbklecks ein junger Mann. Seine Hand ruht auf dem Trenchcoat, schützend über der Hüfte der jungen Frau. Sein Lachen klingt echt und unbeschwert.

Ich spüre, wie ich die Fassung verliere. Greife nach einem Strohhalm, Ablenkung, Ablenkung von diesem Anblick, von den stechenden Gedanken. Vergeblich. Der Strohhalm bricht. Die Dämme vor meinen Augen auch. Es ist nicht eine Träne, die den Weg über meine Wange findet, nein, es ist ein Wasserfall aus Tränen, ein Tsunami, der der Erdanziehung folgt und auf meinen Mantel schwappt. Meine Nase läuft. Quietschend fällt die Tür in meiner Kehle zu, schließt den Schluchzer ein und bewahrt mich davor, auch noch die Aufmerksamkeit der Fahrgäste in meinem Rücken auf mich zu ziehen.

Die Frau mit dem Kind reicht mir ein Papiertaschentuch. Eine Geste, ein neu dargebotener Strohhalm, nach dem ich dankbar greife.

Rattern der Räder. "Nächste Station – Ostkreuz – Übergang zu den S-Bahnlinien …"

"Nein, kein Übergang, Notausgang für mich", unterbreche ich die melodische Stimme in Gedanken. "Ostkreuz, wo alt auf neu trifft. Ich habe die Wahl, wohin wird meine Reise gehen? Nach Norden, Süden oder Westen? Nicht mehr zurück."

Das junge Paar ist verstummt. Betreten oder einfach nur neugierig werde ich von ihnen gemustert. Sie sind noch im Anfangsstadium, ich bereits, mal wieder, im Endstadium der Liebe. Aber das können sie nicht wissen, vielleicht ahnen sie es und werden es ganz schnell wieder verdrängen. Für solche Gedanken haben sie keinen Platz.

Kollektives Schweigen, Rattern der Räder, das leise Trommeln des Regens an den Scheiben, als die Bahn ihr Tempo wieder verlangsamt, um in den nächsten Bahnhof einzufahren, Ostkreuz.

Ich schaffe es, taumle irgendwie zur Tür. Das Liebespaar nimmt meinen Platz am Fenster ein.

Stefan steht plötzlich an meiner Seite. Der "Straßenfeger" klemmt unter seinem Arm. In seinem Coffee-to-go-Becher glitzern ein paar Centstücke, bronzefarben, eine bescheidene Ausbeute.

Ich blicke ihm ins Gesicht und staune, staune über das Lächeln, das er mir schenkt.

Die Türen der S-Bahn reißen zischend auseinander. Stefan hat mir die Tür geöffnet. Kalte Luft strömt mir entgegen. Es hat aufgehört zu regnen. Ein Sonnenstrahl findet zögernd seinen Weg. Genauso zögernd setze ich meinen Fuß auf den Bahnsteig. Die Wolkendecke über mir reißt auf. Ein ungewöhnlich blau strahlendes Stück Herbsthimmel. Ich straffe meine Schultern, ziehe zur Demonstration neu gewonnenen Selbstvertrauens die Nase hoch und laufe los. Geradeaus, vorbei an Altem und Vergangenem des Drehkreuzes. Wer weiß, vielleicht steht ja schon am nächsten Gleis jemand, der wieder ein Stück des Weges gemeinsam mit mir gehen will … aus Liebe.

Michael Guske - Ansage beachten!

 

Michael Guske
Ansage beachten!

 

Oh, verdammt, ich hasse diese Abfolge von Geräuschen. Erst dieser tiefe Summton, dann das Knallen beim Schließen der Türen und schließlich das Hochfahren der Elektromotoren. Fluchend überwinde ich die letzten Stufen zum Bahnsteig und sehe die S-Bahn in Richtung Norden davonfahren. Zu spät!

Obwohl es völlig sinnlos ist, überlege ich, wann ich die wenigen Sekunden, die mir zum Erreichen des Zuges gefehlt haben, hätte einsparen können. Aber ich habe alles richtig gemacht. Ich bin am Alex in den ersten Wagen eingestiegen, habe die ganze Fahrt bis zum Ostkreuz an der Tür ausgeharrt und bin sofort nach dem Öffnen derselben aus dem Wagen gesprungen und mit langen Sätzen zur Treppe, die zum oberen Bahnsteig führt, gerannt. Dass oben schon die Bahn stand, beschleunigte noch meinen Schritt. Aber es nützte alles nichts – die Bahn fuhr mir vor der Nase weg.

Mein Blick richtet sich auf den Fahrtrichtungsanzeiger. Kann ja eigentlich nicht lange dauern, bis der nächste Zug kommt. Doch wie zum Hohn war dort nur das zu lesen: "Bitte Ansage beachten!" Das ist so ein Moment, wo aus braven Menschen Amokläufer werden können! Ich war, wie so oft, eh schon knapp in der Zeit oder anders ausgedrückt, die Chance, noch pünktlich zu meiner Verabredung mit Julia zu kommen, war auch gering, wenn ich die letzte Bahn noch erwischt hätte. Zu blöd. Endlich hatte ich es geschafft, sie in mein vietnamesisches Lieblingsrestaurant einzuladen, Treffpunkt in, nun ja, in knapp 10 Minuten am S-Bahnhof Schönhauser Allee. Das kann ich jetzt vergessen. Und alles schien so perfekt. Heute hatte ich mich getraut, sie in der Kantine anzusprechen. Die Gelegenheit war günstig. Wir saßen am gleichen Tisch und ich sah, wie sie etwas missmutig in ihrem Essen herumstocherte. Es sollte wohl irgendwas Asiatisches sein, doch nach dem Aussehen dessen, was auf dem Teller lag, und ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war es wohl eher ein großes Missverständnis des Kochs. Ich bin jetzt noch stolz auf meinem Einfall, Julia einiges über die Unterschiede und die Vielfältigkeit der asiatischen Küche zu erzählen. Von einer europäischen Küche redet ja auch keiner. Jeder dieser unzähligen Fernsehköche würde sich in seine Kochmütze übergeben, wenn man das berüchtigte englische Frühstück im gleichen Atemzug mit italienischen Cannelloni nennen würde. So war es nur folgerichtig, ihr gegenüber mein Lieblingsrestaurant zu erwähnen – eine vietnamesische Gaststätte mit zauberhafter Küche, dezenter Inneneinrichtung ohne gelb-rote Lampions und ohne geschnitzte Drachen in den Stuhllehnen und dem besten Tee, den man in dieser Stadt bekommen kann. Und dann fasste ich mir ein Herz und fragte sie, ob ich sie dahin einladen darf. Ich war aufgeregt wie ein Teenager, der sein erstes Date klarmachen will. Aber es funktionierte. Sie sagte zu, für heute, für gleich – in fünf Minuten. Und ich sitze hier auf diesem verdammten Bahnsteig fest – es ist zum Heulen! Ihre Handynummer habe ich natürlich nicht, das war erst für heute Abend geplant. Ich überlege krampfhaft. Wie lange würde wohl eine Frau auf einen Typen warten, den sie bisher nur vom Sehen kennt, von einigen Guten-Tag- und Tschüs-Phrasen im Fahrstuhl und einem Vortrag über die Vorzüge der vietnamesischen Küche mal abgesehen?

Zehn Minuten? Fünfzehn Minuten oder gar dreißig? Nein, eine halbe Stunde wartet kein Mensch bei der ersten Verabredung. Maximal zwanzig Minuten, dann ist sie weg.

In diesem Moment unterbricht ein Knacken im Lautsprecher meine Gedanken. "Sehr geehrte Fahrgäste. Auf Grund von…", schallt es über den Bahnsteig. Der Rest geht leider im Getöse des unten vorbeifahrenden ICE unter. Nachdem der Zug durch ist, bleibt leider auch der Lautsprecher stumm. Die sehr geehrten Fahrgäste schauen sich fragend an. Ich setze mich resigniert auf einen freien Platz und ergebe mich meinem Schicksal.

Mein Blick schweift über das Ostkreuz, das zu meinen Füßen liegt. Es gibt wohl kaum einen Bahnhof, an dem ich so oft ein-, aus- oder umgestiegen bin. Ich kann nicht unbedingt behaupten, dass ich diesen Bahnhof in mein Herz geschlossen habe. Treppen rauf, Treppen runter und wenn man Pech hat, steht man doch wieder auf dem falschen Bahnsteig. Ortsfremden musste diese Ansammlung von übereinandergestapelten Abfahrgelegenheiten wie eine grandiose Fehlleistung der Verkehrsplaner vorgekommen sein. Eine erkennbare Logik hinter der Anordnung der einzelnen Bahnsteige gab es anscheinend nicht. Der Zug nach Schönefeld aus Richtung Alex hielt hier nicht, kam er allerdings aus Schönefeld und fuhr zurück in Richtung Zentrum, dann schon. Nach Norden konnte man vom Ringbahnsteig fahren, aber auch manchmal vom Bahnsteig A, dann aber nur bis Karow, jedenfalls zeitweise. Zeitweise hieß der Ringbahnsteig auch anders, da es nach dem Mauerbau keinen Ring mehr gab. Inzwischen ist der Ring wieder rund, die Nordkurve weg und das Ostkreuz der Spitzenreiter aller S-Bahnhöfe in allen Wertungen – die meisten Züge, die meisten Fahrgäste und wahrscheinlich auch die meisten Treppenstufen.

Auf den freien Platz neben mich setzt sich ein junger Mann – Typ Student. Er trägt Kopfhörer in der Größe von Ohrenschützern, wie sie Straßenbauarbeiter tragen, wenn sie mit Presslufthämmern Asphalt aufbrechen. Der Sound ist so laut, dass er sich wahrscheinlich nur noch mit eingeschränktem Hörvermögen ertragen lässt. Die Schallwellen, die mein Ohr erreichen, lassen mein Gehirn in meinem internen Musikarchiv suchen. Hört sich nach Brit-Pop an. Blur? Nein, eher wie die frühen Oasis. Ja, Oasis. Der Song "Magic Pie" hämmert meinem Nachbarn gerade ins Hirn. Cooler Song, war 'ne gute Platte. Muss man laut hören, aber nicht unbedingt mittels dieser akustischen Direkteinspritzung.

An mir läuft ein älterer Mann vorbei. Er murmelt leise vor sich hin. Trotz der Sommerwärme trägt er einen alten Mantel. Aus seiner abgegriffenen Aktentasche, die er an sich gepresst hat, schauen einige Exemplare einer Obdachlosenzeitung heraus. Auch er schaut sich fragend um und scheint wohl zu überlegen, ob es sich lohnt, auf den nächsten Zug zu warten oder wieder zurückzufahren. Die Zeitung hier auf dem Bahnsteig zu verkaufen erscheint wenig sinnvoll, da die Menschen sowieso schon wegen der Zugunterbrechung leicht angefressen sind.

Ich blicke wieder zur Anzeige. Immer noch nichts Neues. In diesem Moment müsste ich eigentlich fünf Bahnstationen von hier entfernt sein. Ab jetzt läuft die Soundsoviel-Minuten-zu-spät-Zeit. Ich beschließe, daran zu glauben, dass Julia mindestens fünfzehn Minuten warten wird. Vielleicht bekommt sie ja mit, dass keine Züge mehr ankommen. Vielleicht aber auch nicht.

Ich bin zu unruhig, um weiterhin sitzen zu bleiben und verlasse meinen Platz und die Beschallung durch den Studenten. Innerhalb der nächsten fünf Meter bekomme ich noch mit, dass der Musikstil gewechselt hat – könnte die aktuelle Scheibe von U2 sein – aber das Geräusch einer einfahrenden S-Bahn lenkt meine Aufmerksamkeit ab. Doch das freudige Gefühl, welches mich eben ergriffen hat, verlässt mich gleich wieder. Die Bahn kommt nicht aus der erwarteten Richtung.

In diesem Moment ertönt wieder das Knacken aus dem Lautsprecher und dann folgt etwas, das entfernt an eine Frauenstimme erinnert. Alle Fahrgäste heben die Köpfe in Erwartung, eine weiterhelfende Information zu bekommen. Nur mein Musik liebender Sitznachbar hat sich völlig von der Außenwelt abgekoppelt. Er schaut ins Leere und lauscht in seine unförmigen Halbschalen.

Doch trotz höchster Konzentration meines Gehörs dringen nur Bruchstücke der Ansage zu mir durch, allerdings reichen diese aus, um mir meinen Super-GAU klar zu machen: "Zugverkehr unterbrochen". Die Stimme hätte auch sagen können, dass Hertha BSC in die Kreisklasse versetzt wurde und im Olympiastadion nur noch Volksmusikveranstaltungen fürs Fernsehen aufgezeichnet werden, an denen jeder Berliner mindestens einmal im Jahr teilnehmen muss. Es hätte mich nicht tiefer treffen können. Statt in Julias hübsches Gesicht schaue ich jetzt auf diese monströsen Baugruben im und am Bahnhof Ostkreuz.

Es sieht hier aus wie auf einer Stalinschen Großbaustelle des Kommunismus. Überall wird gebuddelt, geschweißt, Beton verewigt – erstaunlich, dass hier überhaupt noch was fährt. Trotz meines technischen Verständnisses kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie es hier in einigen Jahren aussehen soll. Straßen, Brücken, Bahnsteige – alles neu. Dazu noch eine Untertunnelung für eine Stadtautobahn von fragwürdigem Zweck. Bald wird nichts mehr an das alte Ostkreuz erinnern, Vergangenheitsbewältigung durch Abriss als Zeichen des technischen Fortschritts. Mosaiksteine werden durch Betonplatten ersetzt, alte Brücken, deren Stahlkonstruktionen an den Ausleger eines Tagebaubaggers erinnern und für alle Ewigkeit gemacht schienen, durch freitragende Bauwerke, das Personal durch elektronische Stellwerke und Selbstabfertigung.

Dabei war hier noch vor kurzer Zeit, noch zwanzig Jahre nach dem Mauerfall, die DDR konserviert wie vielleicht an keinem anderen Ort der Stadt. Das Ostkreuz war grau und abweisend, ein Platz, den man am liebsten so schnell wie möglich wieder verlassen wollte. Alles schien irgendwie provisorisch, vielfach geflickt statt saniert, aber doch hat es irgendwie funktioniert. Aus den verdreckten, ehemals sandfarbenen Ziegelmauern hat jahrzehntelang die durchdringende Feuchtigkeit die Salze ausgewaschen und zu kleinen Stalaktiten geformt. Der Wildwuchs am Ende der unteren Bahnsteige hat ein undurchdringliches Dickicht gebildet. Das Bahnhofsklo wurde gemieden wie ein Haus mit Pestkranken im Mittelalter. Aber doch hat man sich mit diesem Bahnhof arrangiert. Nun ja, das ist jetzt vorbei. Ein neuer Bahnhof entsteht, wie er eben im Katalog der Bahnhofsarchitekten enthalten ist – hell, modern, unpersönlich.

Aber das ist mir im Moment egal. Wie ein Tiger im Käfig laufe ich über den Bahnsteig und schaue alle drei Sekunden zur Uhr und dann zur Anzeige, zur Uhr, zur Anzeige. Im Gegensatz zur Uhr ändert sich auf der Anzeige nichts. Vor der Treppe, an der ich gerade vorbeigehen will, steht eine junge Frau mit einem Kinderwagen und schaut mich fragend an. Sie sieht müde aus, gestresst und genervt. Vielleicht lässt sie das Kleine nicht zur Ruhe kommen, vielleicht ist kein Vater da, der hilft und auch mal nachts aufsteht. Ich packe den Kinderwagen kurz über den Rädern und hebe ihn hoch. Das Mädchen fasst den Griff und gemeinsam tragen wir, ich mit krummem Rücken, sie mit hochgestreckten Armen, den Wagen die Treppe runter. Ich weiß nicht, ob später noch Aufzüge eingebaut werden oder ob sie eingespart wurden von Menschen, die nicht wissen, wie es ist, wenn man allein mit einem Kinderwagen unterwegs ist.

Unten angekommen setze ich ab, strecke meinen Rücken durch und bekomme einen kurzen dankbaren Blick aus müden Augen geschenkt. Ich nicke ihr kurz zu und eile die Treppe wieder hoch.

Oben hat sich der Bahnsteig inzwischen gefüllt. An der Treppe stehen mehrere Bauarbeiter, die ihr Feierabendbier gleich hier trinken. Einige Jugendliche mit gegelten Haaren und klobigen Goldketten um den Hals stehen im Kreis zusammen, rauchen und spucken auf den Boden. Gleich daneben stehen zwei stark geschminkte Mädchen, die aufgeregt in ihre Handys plappern. Wieder verfluche ich meine Unfähigkeit, Julia ein Zeichen geben zu können. Die Uhr sagt mir, dass ich jetzt schon zehn Minuten zu spät bin.

Aus der Gegenrichtung kommt die nächste Bahn und entlässt die Menschen auf den Bahnsteig. Eilig streben sie den Treppen zu. Auch der neu erbaute Bahnhof wird wohl niemanden veranlassen, hier länger als nötig zu verweilen. Einsteigen, aussteigen, umsteigen – das Ostkreuz wird wohl immer nur eine Durchgangsfunktion haben.

Wieder steht eine Frau mit einem Kinderwagen an der Treppe und einer der Bauarbeiter stellt seine Bierflasche hin, umfasst den Wagen mit seinen Armen und trägt ihn allein die Treppe hinab. Die Frau lächelt erfreut.

Der alte Mann mit seiner Aktentasche kommt mir entgegen. Er hat doch versucht, seine Zeitung unter den wartenden Menschen zu verkaufen, aber der Erfolg hielt sich wohl in Grenzen. Nach geübtem Blick auf die Bauarbeiter und die rauchenden Jugendlichen kommt er zu dem Schluss, dass er dort erst gar nicht zu fragen braucht. Bei mir scheint er anderer Meinung zu sein, denn er bietet mir ein Exemplar an und rattert mit routinierter Stimme das Inhaltsverzeichnis der aktuellen Ausgabe herunter. Ich bin jetzt eigentlich nicht in der Stimmung, überhaupt irgendeine Zeitung zu lesen, aber nachdem ich einige Münzen gefunden habe, kaufe ich ihm eine Ausgabe ab.

Einer Mutter geholfen, den Kinderwagen die Treppe herunter zu tragen, und einem Obdachlosen eine Zeitung abgekauft. Was muss ich denn noch machen, damit mir das Schicksal gnädig ist und endlich eine S-Bahn schickt. Meine Unruhe wächst.

Dann knackt es wieder und scheppernd klingt der frauenstimmenähnliche Ton: "Nächste Bahn Richtung Schönhauser Allee fährt jetzt ein." Knack. Aus.

Ich kann es kaum fassen. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass ich es noch schaffe, wenn Julia beschlossen hat, zwanzig Minuten zu warten. Jetzt aber schnell rein in die Bahn. Es wird geschubst, geschoben, gedrängelt. Macht nichts, nur weg hier.

Das Signal über der Tür ertönt, die Türen schließen mit einem trockenen Knall, die Elektromotoren fahren hoch. Oh, ich liebe diese Geräusche.

Ute Schoch - Mich gibt’s mehrfach

 

Ute Schoch
Mich gibt’s mehrfach

 

Anfang Juli kam ich mal wieder in meine (eigentlich komme ich aus dem Rheinland) geliebte Stadt Berlin, um meine Kinder zu besuchen.

An einem wunderschönen Samstag wollte ich zum Müggelsee mit dem Schiff. Los ging’s am Ostkreuz zum Pankow-Park, von dort aufs Schiff. Dort war gleich die erste eigenartige Begegnung. Zwei Frauen in meinem Alter sprachen mich an und meinten: "Sie habe ich doch auch schon mal gesehen, ich kenne Sie!"

Etwas überrascht erklärte ich, dass ich im Rheinland sesshaft sei und ich sie überhaupt nicht einzuordnen wisse.

Darauf die Frage, ob ich etwas mit Fernsehen oder Film zu tun habe. Mein Erstaunen wurde immer größer — sah ich danach aus, 67 Jahre, zwar gepflegt, aber mit sichtbarem Alter und recht durchschnittlich, fast schon ein wenig Graue Maus? Wurde ich hier verar… oder was? Nach Verneinung entwickelte sich noch ein nettes Gespräch und das war’s dann.

Leicht amüsiert genoss ich nun die schöne Fahrt mit dem Schiff zum Müggelsee.

Auf der Rückfahrt, nach einem dreistündigen Aufenthalt dort, ging’s wieder aufs Schiff. Und hier das Unglaubliche: Schon wieder wurde ich angesprochen, wieder zwei Damen, mein Jahrgang, vielleicht etwas älter, gepflegt, nett. Wir kamen ins Gespräch, und ich schwärmte von Berlin, der Stadt, die ich so liebe. Nach meinem Monolog über die vielen netten jungen Menschen, das noch zu Erforschende, die Offenheit und Freundlichkeit der Bewohner und, und, und auf einmal: "Ich glaube, ich hab Sie schon mal gesehen, Sie kommen mir sehr bekannt vor". Mir verschlug es fast die Sprache. Kurz, meine schon eben geschilderte Erklärung, ich komme aus dem Rheinland usw. usw. Auch hier wieder die Frage, ob evtl. Film oder Fernsehen? Jetzt war ich aber richtig "platt". Nach Verneinung ergab sich dann ein nettes Gespräch, bei dem mir noch einige Ausflugstipps gegeben wurden.

Sehr nachdenklich und hocherfreut kam ich schließlich am Nachmittag wieder am Ostkreuz an. Dort gehört es bei mir zum Programm, an der Ecke Sonntagstraße ein Bier zu trinken und dem regen Treiben dort zuzusehen. Nachdem ich mich wieder auf den Weg Richtung Knorrpromenade machte, die Straßenseite wechselte, kommt mir eine Dame, etwa Mitte vierzig, entgegen mit der Bemerkung: "Sie sind eine Verwandte von mir." Spätestens jetzt war mein Erstaunen grenzenlos. Wieder mein: "Ich komme aus dem Rheinland", pi pa po.

"Ja , ich habe Verwandte in Bonn — wissen Sie ich bin Jüdin."

Ich war baff.

Meine Antwort: "Jetzt bin ich aber froh, endlich mal eine Jüdin kennenzulernen. Wissen Sie, ich habe mich schon oft gefragt, wieso ich noch nie Kontakt zu Juden hatte. Ich interessiere mich sehr für das Schicksal. Haben Sie Lust mit mir etwas trinken zu gehen?"

Leider war es der Dame aber so peinlich, was sie mir sagte und machte sich verschämt weiter.

Das war ein sehr nachdenklicher Tag für mich, der am Ostkreuz begann und auch dort mit vielen Fragezeichen, aber glücklich zu Ende ging.

Weiße Fleck

 

Manuela Schulz
Der weiße Fleck

 

Eigentlich kenne ich Ostkreuz gar nicht. Ich bin mir noch nicht mal sicher, ob ich dort überhaupt schon mal ausgestiegen bin. Durchgefahren – ja sicher, aber da hatte ich bestimmt gerade meine Nase tief in ein Buch gesteckt und achtete nicht auf die vorbeiziehende Gegend. Der Bahnhof liegt in jenem Teil von Berlin, der für mich lange Zeit nur ein weißer Fleck auf der Landkarte war. Ostberlin war für mich bis zum 29. Lebensjahr Terra incognita. Keine nahen Verwandte oder Freunde, die man besuchen wollte. Und einfach mal so in den "Osten" zu fahren, auf die Idee sind meine Eltern gar nicht gekommen. Dazu war die knappe freie Zeit an den Wochenenden viel zu kostbar. Kein Grund also sich dem nervigen Einreiseprocedere zu unterziehen.

Ein einziges Mal fuhr ich mit meiner Mutter "rüber". Das war im Winter 1963/64. Das erste Passierscheinabkommen ermöglichte erstmals einen Besuch im anderen Teil der Stadt. Wir waren mit der Schwester meiner Mutter irgendwo in Prenzlauer Berg verabredet, eine gemeinsame Bekannte wohnte dort und hatte sich angeboten, ihre Wohnung als Treffpunkt zur Verfügung zu stellen. Die beiden Schwestern hatten sich seit dem Mauerbau nicht mehr gesehen. Für mich war dieser Ausflug sehr abenteuerlich und befremdlich. Ich war gerade dreieinhalb Jahre alt und konnte mit Ost und West, Mauer und dem ganzen Kram nichts anfangen. In meiner Erinnerung sind auch nur zwei Dinge hängen geblieben: Erstens, die seltsame Atmosphäre vor dem Haus unserer Bekannten. Es war kalt und dunkel. Die Gaslaternen in der Straße verbreiteten nur fahles Licht, das die Dunkelheit kaum durchdringen konnte. Mein Gehirn hat diese Szenerie nicht als Bild abgespeichert, sondern als das Gefühl, das ich damals hatte. Ich hatte keine Ahnung, was ich da sollte.

Die Bekannte meiner Mutter hatte einen Sohn, er war etwas jünger als ich. Da wir zur Schlafenszeit in der Wohnung eintrafen, wurde der kleine Junge gerade ins Bett gebracht. Die Mutter verpackte ihn in einem einteiligen, bunt gemusterten Schlafanzug, der praktischerweise einen Hosenboden zum Abknöpfen hatte. Wenn er nachts mal musste, brauchte er nicht komplett aus dem Anzug geschält zu werden. Ich hatte vorher so etwas noch nie gesehen und war total fasziniert.

Warum, um alles in der Welt, merkt man sich solch nebensächlichen Kleinigkeiten? An die Begegnung mit meiner Tante kann ich mich leider überhaupt nicht erinnern.

 

Bis zum nächsten Besuch in Ostberlin vergingen dann viele Jahre. Kurz vor dem Schulabschluss besuchten wir im Rahmen unseres Evolutionskurses in Biologie das Naturkundemuseum in der Invalidenstraße. Wieder kein Grund den Bahnhof Ostkreuz zu entdecken. Wir trafen uns alle am Bahnhof Friedrichstraße. Die Einreise verlief umkompliziert und kurze Zeit später standen wir staunend vor den Überresten diverser Dinosaurier. Am meisten beeindruckte uns natürlich der riesige Brachiosaurus. Weltweit das größte, im Museum zu besichtigende, Dinosaurierskelett. Der von unserem Lehrer so angepriesene Urvogel Archeopteryx wirkte dagegen ziemlich unscheinbar. Ein paar platt gedrückte Knochen auf einer Steintafel. Unser Biologielehrer lief dann jedoch zur Hochform auf. Zwei Stunden lang dozierte er über die antiken Tierchen, ließ sich über die Unterschiede zwischen Vogelbecken und Reptilienbecken aus und blieb gefühlte zwei Stunden vor jedem Exponat stehen. Binnen kürzester Zeit machte sich Langeweile breit. Was dem Einen sein Steckenpferd ist, muss den Anderen bekanntlich nicht in gleichem Maße faszinieren.

Der Nachmittag stand dann zum Glück zur freien Verfügung. Wir schlenderten in einer kleinen Gruppe zum Alexanderplatz und machten uns dran, unsere 25 DM Zwangsumtausch zu verjubeln. Das war gar nicht so leicht. Normalerweise bereitet es Teenager gar keine Probleme, ihr Taschengeld unter die Leute zu bringen. Woran sind Kids in dem Alter interessiert? Musik und Klamotten, und für diese Dinge war Ost-Berlin nicht gerade als Einkaufsparadies bekannt. Am späten Nachmittag wurde es Zeit, sich auf den Heimweg zu machen. Zurück am Bahnhof Friedrichstraße lockte uns eine Konditorei mit Kaffee und Kuchen, also nichts wie rein, wir fanden auch gleich einen freien Platz. Die Auswahl auf der Speisekarte war groß, da wir noch reichlich Geld übrig hatten suchten wir uns das Teuerste aus, was auf der Karte zu finden war — Mokka und Nusstorte. Die Bedienung kam, um die Bestellung aufzunehmen. Sie hörte sich geduldig unsere Wünsche an und antwortete mit einem lapidaren "Ham wa nich". Nun gut, wir ließen uns dann zu normalem Kaffee und gedecktem Apfelkuchen überreden. Aber mit Schlagsahne. Das letzte Geld konnten wir dann noch in ein paar Kugeln Eis umsetzen.

Insgesamt war es ein schöner Ausflug — wenn man von den Vogelbecken absieht.

 

Wieder vergingen die Jahre. Dann kam der Tag, der für so viele alles verändert hat. Langsam tasteten sich meine Familie und ich nach dem 9. November 1989 in diese unbekannten Gefilde vor.

 

Der erste Ausflug mit Mann und Sohn zum Alexanderplatz im Dezember 1989 und es war bitterkalt. Wir liefen vom Brandenburger Tor die Linden entlang. Neugierig schauten wir uns um, einfach so über die Grenze zu gehen, ohne Wartezeit, ohne besondere Kontrollen. Es war fantastisch. Wir konnten es noch gar nicht richtig fassen. In der Vergangenheit hatte man uns viel zu oft an den Grenzübergängen grundlos ewig warten lassen, die Kofferräume durchsucht und bohrende Fragen gestellt. Wir genossen es sehr, spontan und ohne Umstände durch Ost-Berlin zu bummeln. Wir kamen ziemlich durchgefroren zur Markthalle am Alex, eine gute Gelegenheit zum Aufwärmen. Unser Sohn sah sich die Auslagen an und vermeldete, dass er Hunger hätte und auf der Stelle etwas zu Essen bräuchte, da er sonst dem Hungertod erliegen würde. Wir erstanden für 50 Pfennige West ein Paket Kekse. Glücklich machte er sich über seine Beute her. Er kann sich heute noch daran erinnern. Er war damals viereinhalb Jahre alt, es ist schon erstaunlich, Kleinigkeiten bleiben am längsten im Gedächtnis.

 

Schrittweise wurde auch wieder der S-Bahnbetrieb in West-Berlin aufgenommen. Plötzlich war das S-Bahnnetz für uns West-Berliner mehr als doppelt so groß. Was waren das für exotische Stationen, die jetzt erreichbar waren: "Springpfuhl", "Fangschleuse" und "Rummelsburg". Wir wohnten zu dieser Zeit in Spandau und bei unserer Erkundung dieser "neuen" Stadt waren wir meistens mit dem Auto unterwegs. Wieder nix mit Ostkreuz.

 

Im Herbst 1997 hatte ich mir in den Kopf gesetzt, meinem Sohn einen ganz besonderen Adventskalender zu basteln. Er sollte mit Miniaturen von Star-Trek-Raumschiffen bestückt werden. Die gab es gerade in allen Spielzeugläden zu kaufen, drei Stück in einer Packung. Ich hatte schon den größten Teil zusammen, ein Päckchen fehlte noch. Das erwies sich dann als eine größere Hürde. Es war zum Verzweifeln, kein Geschäft hatte es. Heute wäre es kein Problem, im Internet wird man ja immer fündig. Aber damals! Wir fingen an, mit Hilfe der Gelben Seiten alle Spielzeugläden im Großraum Berlin ausfindig zu machen. Unsere Suche führte uns bis in die neu entstandenen Einkaufszentren in Eiche, Weißensee und Hellersdorf. Und was soll ich sagen – es klappte! Ganz kurz vor dem 1. Dezember – ich hatte schon alle Hoffnung aufgegeben — ergatterte ich dann in Helle-Mitte das letzte noch fehlende Päckchen. Es hing ganz hinten im letzten von zehn Verkaufsdisplays. Soviel zum Thema "Ham wa nich". Mein Sohn hat sich sehr gefreut. Er steht inzwischen nicht mehr auf Star Trek, aber er hat mir die kleinen Raumschiffe vermacht. Ich hüte diesen Schatz wie meinen Augapfel. Er wird mich immer an diese Zeit erinnern.

 

Der weiße Fleck auf der Landkarte hat inzwischen die Gestalt eines sehr löcherigen Käses angenommen. Es gibt zwar immer noch Ecken in Berlin, in denen ich noch nie gewesen bin, aber die werden von Jahr zu Jahr weniger. Dementsprechend gibt es natürlich auch S-Bahnstationen, die ich höchstens vom Durchfahren kenne. Aber das gilt für ganz Berlin, bis Lichterfelde-Süd bin ich zum Beispiel auch noch nicht gekommen.

 

Ich muss unbedingt nächstes Mal Ostkreuz aussteigen.

Malvina Petrat - Nachbarschaftliche Mutmaßungen

 

Malvina Petrat
Nachbarschaftliche Mutmaßungen
Gryphiusstraße 2007

 

In einem der oberen Stockwerke zerknitterter Enddreißiger,
schlecht gelaunt und auf Hinterhöfe urinierend.
Im Vorderhaus in der Mitte passionierte Raucherin Anfang 50
mit vollem Kühlschrank und Wut im Bauch,
schulterlanges Haar auf verlebter Haut.
Revolutionsschmiede im zweiten Stock und verdreckte Klos im vierten.

Geputzte Fenster links unter mir und zerleierte Tapes nebenan.
Erfüllte Leben und leere, laute Stimmen zwischen leisen.
Kindergeschrei gegenüber und Techno aus dem Autoradio.
Grillen fressende Laubfrösche im Wohnzimmer unter mir
und mediterrane Kochkünste im Erdgeschoss.
Sex mit geschlossenen Augen zwischen Rotweinflecken auf dem Küchenboden.

Flackernde Bildschirme und besetzte Telefonleitungen.
Nachtschwärmer und Tagträumer, Entdecker und Verlierer.
Geschichtensammler und andere Handwerker,
Toastbrotverzehrer und Weinliebhaber wachend oder schlafend,
leben oder leben lassen.
Linkshänder und Schlafwandler in bunten Hoffnungen,
zwischen täglicher Müllabfuhr und Geruch nach frischen Brötchen.

Jan Mike Singer - Berlin tut Paule jut

 

Jan Mike Singer
Berlin tut Paule jut

 

Paul Müller saß zusammengekauert im letzten Wagen der S-Bahn nach Westkreuz. Er versuchte etwas zu dösen, aber es gelang ihm nicht. Zu viele Gedanken gingen in seinem Kopf herum. Der ältliche Mann befand sich auf seinem Weg zur Arbeit ganz allein im Abteil. Müde sah er aus, fertig und auch etwas vernachlässigt. Die alte graue Stoffhose faserte an einigen Stellen aus, die blaue Trainingsjacke war ausgeleiert und der Wollmantel hätte mal wieder eine Reinigung vertragen können: also alles bester Berliner Schick! Seine Augen jedoch blickten selbstbewusst umher. "Kein einziges Mal die Bahn verpasst und dit in vierzig Jahren, länger als Honecker anner Macht", dachte er voll Stolz.

Es war fünf Uhr morgens. Der Zug hatte gerade den S-Bahnhof Treptower Park verlassen und bewegte sich langsam zuckelnd Richtung Ostkreuz. Kalt und regnerisch war’s. Kein einladender Eindruck.

"Wat hat Gerda immer jesagt? Mensch, Paule, hat se jesagt, Du gehörst doch schon zum lebendigen Inventar der Bahn. Musst uffpassen, dat se dich nicht eenmal da behalten. Jetzt sagt se jar nischt mehr. Schade. Die Alte is doch schon fünf Jahre tot. De Wohnung is seitdem nur noch kalt und viel zu groß. Ohne ihr…"

Weiße-Flotte-Schiffe lagen verlassen an der Anlegestelle vor Anker. Einige Eisschollen trieben auf der Spree umher. Am dunklen Horizont blinkten schwach die Umrisse des Riesenrads vom Vergnügungspark Plänterwald hervor.

"Mensch, hätt' ick nie gedacht, dass mir die Olle so fehlen würde. Früher hat se mich fuchsteufelswild gemacht, wenn se unbedingt zu Hause bleiben wollte. Kultur im Heim nannte se dat. Heute vermisse ich sowat. Wie jerne würd’ ick heute mit ihr auf’m Sofa sitzen. Dann könnt ick sogar den Mist in der Röhre ertragen. Andererseits, keen Fernsehen ist ooch nicht so schlimm. So kommste wenigstens früh ins Bett. In die Kneipe um de Ecke jeh ick ooch nicht mehr. Bei vier richtjen Mark für 'ne Molle kann ick mir das nur noch selten leisten. Da musst de ja zu Hause bleiben. Bist der Glotze schutzlos ausgeliefert. Die einzige Selbstverteidigung ist jar nicht erst Anschalten. So wie jestern wieder. Bin ick heute also wieder pünktlich in Baumschulenweg eingestiegen. Werd' rechtzeitig an der Warschauer Straße sein. Vierzig Jahre immer dieselben fünf Stationen: Baumschulenweg, Plänterwald, Treptower, Ostkreuz und dann die Warschauer. Bis 1992 zu NARVA und als se dit Glühlampenwerk jeschlossen haben, zum Imbiss in der Modersohnstraße. Alte Kollegen und Kumpels treffen. Dat jing aber nicht lange jut, irgendwie hatte man sich nischt mehr so richtig wat zu sagen. So ohne produktive Arbeit und so. Einen janzen Arbeitstag nur vorm jepflegten Jelben zu schweigen, war mir uff Dauer echt zu langweilig.

Fand dann ooch wat anderes schnell. Jetzt verkoof ick den Kurier – die Zeitung von hier. Besser als nischt. Reich wirst de davon zwar nich, aber immerhin… So stell ick mich uff die große Brücke von der Warschauer Straße und bring die Zeitung an den Mann. Oder Frau. Wer eben so die Zeitung liest. Intellektuelle sind det nich. Eher Leute wie Gerda und ick. Is aber interessant da! Die janzen jungen Leute kommen von ihrem Beatklub und Diskothek nach Haus, wenn ick anfang' zu arbeiten. Hätt‘ ick nie jedacht, dass et solche komischen Vögel jibt. Tätowierungen und Metallringe aus der Haut und so. Zu jern hätt' ich Gerda davon erzählt, die würde 'nen Ooge machen… Jeht aber jetz nich mehr."

Der Zug passierte den Bahnhof Ostkreuz. Dunkel war’s und kein Mensch weit und breit zu sehen.

"Na, hier is es wie vor vierzig Jahren. Hat sich nich viel jeändert. Trotz Wende und Demoktratismus. Ick meen, den Osten will ick nicht wiederhaben, aber den Westen brauch ick nicht jeschenkt. Hab allet, wat ick brauch. Von 'ner Ollen mal abgesehen. Und 'nem bisschen mehr Jeld."

Die S-Bahn fuhr schließlich auf dem verwaisten Bahnsteig des S-Bahnhofs Warschauer Straße ein. Paul Müller nahm seine Zeitungsbündel und suchte sich eine windgeschützte Ecke. Auf der Brücke war noch reichlich Leben angesagt. Vergnügungssüchtiges Partyvolk zog in Dutzenden von Friedrichshain nach Kreuzberg und zurück. Paul mittendrin. Etwas unruhig war er. Kein klassisches Kurierpublikum hier. Aber das wird schon. Hoffte er.

Eine auch nach internationalen Maßstäben elegant gekleidete Frau näherte sich plötzlich Paul. Sie war etwas jünger als er und hübsch. Sehr hübsch. Einen Kurier wollte die sicher nicht haben. Ihr Burberry-Schal und der dunkle René-Lezard-Mantel passten eher in die mittlerweile langweilige Mitte Berlins als nach Friedrichshain. Sie strahlte eine Klasse aus, die man um diese Zeit hier nicht erwartete.

"Excuse me, can I ask you something?", wandte sie sich an Paul.

"Nee, ick versteh jar nüscht", war Pauls klare, unmissverständliche Antwort.

Die Frau versuchte es nochmal: "Entschuldigen Sie, darf ich Sie etwas fragen?"

"Warum eijentlich nich? Versuchen kost' ja doch nix."

Die aparte Frau war einige Sekunden lang irritiert. Dann setzte sie wieder an:

"Mein Name ist Paula Gertie Tates. Ich komme aus New York. Ich bin auf der Suche. Locations für einen Berlin-Film. Ich wollte fragen, ob Sie helfen können."

Kurze Pause. Paul räusperte sich.

"Liebe Frau Teetz. Ick weeß nich, ob ick helfen kann, aber nur los. Wat suchen Se denn?"

Nach einer weiteren Pause der Unsicherheit begann Paula wieder:

"Ich suche typische Berliner, you know. Ich dachte vielleicht, dass sie als Adviser und Extra arbeiten könnten."

Paule verstand nur Bahnhof. Und das in der Warschauer Straße.

"Wat heißt hier denn extra? Wieviel springt denn da für mich raus, so finanziell?"

"Sind Hundert Euro pro Tag o.k. for you?" fragte Mrs. Tates vorsichtig. "Und this then for ein Monat?"

"Is o.k.", war Paules beinah sprachlose Antwort.

"Well, o.k. then", konstatierte Paula. "Nice to meet you", sagte sie und gab Paul Müller ihre Visitenkarte. Angestrengt kramte sie ihre letzten Brocken Deutsch zusammen.

"Please, rufen sie mich tomorrow – morgen - an, o.k.?"

Zum Abschied drückte sie ihm noch einen Hundert-Euro-Schein in die Hand.

"Für some costs. Tschüs. See you tomorrow. Bis morgen."

Paul starrte ungläubig auf das Geld und die Visitenkarte. Er nickte nur. Seinen Stapel Zeitungen auf der windigen Brücke allein zurücklassend, wankte er zum Bahnsteig zurück. Er rang nach Atem. Ihm war schwindlig. Die S-Bahn fuhr laut ein. Mit dem Wort "Paula" fiel Müller in den Wagen und wartete ungeduldig auf die Abfahrt. Hundert Euro wollten ausgegeben werden. Das so schnell wie möglich.

Die Bahn fuhr übrigens nach »Nicht einsteigen«. Aber das nur by the way.

Boel Holm - Mama ist auf dem Ring

 

Boel Holm
Mama ist auf dem Ring

 

Mama ist auf dem Ring. Das ist das Signal, was jeden Sonntag bei Papa alles beendet. Wenn Mama auf dem Ring ist, muss er die Spielsachen und den Schlafanzug in seinen Rucksack packen, ein letztes Mal aufs Klo gehen. Er hat eine halbe Stunde.

Jeden zweiten Sonntag nimmt Mama den Ring zum Ostkreuz. Sie steigt nicht aus. Er soll auf dem Bahnsteig warten und dann ganz vorne einsteigen. Und jeden zweiten Freitag nimmt Papa den Ring zum Westkreuz und steigt nicht aus.

Bevor sie festgestellt haben, dass dieses das Einfachste war, haben sie sich oft gestritten. Papa hat ihn zu spät abgeholt, zu früh zurück gebracht, zu früh abgeholt, zu spät zurück gebracht. Mama war nie zufrieden. Papa war böse und seine Wut hing wie eine dunkle Wolke über dem Spielplatz, über dem Eisessen und den Zeichentrickfilmen.

Jetzt textet Mama, wenn sie vom Westkreuz losfährt. Dann wissen sie, dass sie eine halbe Stunde haben. Jetzt müssen Mama und Papa nie reden und können sich auch nicht streiten. Das haben sie sich gut ausgedacht.

 

Sie haben nicht immer gestritten. Es gab eine Zeit, bevor Papa in der Nacht ausgezogen ist, bevor statt Papa der Sven in Mamas Bett geschnarcht hat und bevor Jennifer auf der Welt war.

Sven holt nie die Jenni ab. Sie wird zur Omi gebracht oder zu einer von Mamas Freundinnen. Dann macht Mama sich hübsch und manchmal hat sie schon eine Flasche Wein geöffnet bevor Papa auf dem Ring ist. Er mag nicht, wie sie aus dem Mund riecht, wenn sie seine Wange küsst, bevor Papas Hand ihn findet und ihn in den ersten Wagen zieht und Papa und er endlich allein sind.

Der Rucksack ist gepackt und er hält Papas Hand. Er hat keine Angst, dass er sich verläuft oder auf dem löchrigem Bürgersteig stolpert. Er mag es einfach, Papas Hand zu halten.

Sie laufen an der Wurstbude vorbei. Da wo sie jeden zweiten Freitag Wurst kaufen. Man muss den ersten Biss vorsichtig beißen, sonst trifft ein heißer Spritzer in den Gaumen, und man muss mit offenem, erstauntem Mund den ganzen Weg nach Hause keuchen. Wie ein Hund. Sein Mund öffnet sich keuchend nur von dem Gedanken und Papa schaut ihm besorgt zu.

Es wäre alles einfacher, wenn sie sich vertragen könnten. Sven ist ja nicht mehr da, also gibt es wieder Platz für Papa. Aber klar, sie können sich ja nicht vertragen, wenn sie nicht miteinander reden. Mama redet manchmal über Papa. Nennt ihn Arsch. "Du hast natürlich nicht die Zähne geputzt bei dem Arsch." Manchmal hält er sich die Ohren zu und schreit, dass Papa nicht Arsch heißt. Manchmal lacht sie und manchmal packt sie ihn hart am Arm und sagt er soll in sein Zimmer gehen und da bleiben.

Papa redet nie von Mama, außer wenn er sagt, dass sie auf dem Ring ist.

 

Im Fernsehen gab es Bilder von einem Mädchen, was verschwunden war. Ihre Eltern saßen zusammen auf einer Couch und weinten und sagten: "Wenn irgendjemand unser kleines Mädchen gesehen hat..." Wenn er plötzlich weg wäre, würden sie dann zusammen weinen?

Jetzt geht es ja nicht. Er kann nicht Papas Hand einfach so loslassen und auf dem Bahnsteig verschwinden. Er könnte sagen, er muss Pipi machen, und da er ein ganz erwachsener Junge ist, kann er dass selbst erledigen. Aber er war gerade auf Klo und Mama kommt in sechs Minuten, so meint Papa sicher, dass er warten kann bis er zu Hause ist.

" Was passiert, wenn man vor den Zug fällt?", fragt er Papa.

" Man stirbt."

" Immer?"

" Also, wenn du Glück hast, brichst du vielleicht einen Arm oder Bein, aber mit so einem Glück soll man nicht rechnen. Warum fragst du?"

" Nur so."

 

Sollte er vor den Zug fallen und sich ein Bein brechen, müssen sie miteinander reden. Sie könnten zusammen in dem Krankenwagen fahren und ihn mit ängstlichen Augen ansehen. Vielleicht nimmt Papa dann Mama in den Arm und dann könnte er die Wohnung in der Sonntagstraße verlassen. Und nach Hause kommen.

Selbst muss er vielleicht mit Krücken laufen. Oder sogar im Rollstuhl sitzen. Manche werden sicher sagen, dass es voll doof war, alle wissen doch, dass man aufpassen muss, wenn der Zug kommt. Aber damit kann er leben. Es wird es schon wert sein. Je mehr er daran denkt, desto besser findet er seinen Plan.

 

Jetzt kommt der Zug. Papas Hand liegt leicht auf seinem Rucksack.

 

Es passiert so schnell. Ein paar schnelle Schritte und ein Sprung in die Luft. Papas Hand, die seinen Rucksack greift und eine Stimme, die schreit und fragt, was er vorhat. Seine Füße sind zurück auf dem Bahnsteig. Mamas wütende Hand reißt ihn in den Wagen hinein und ihre wütende Stimme schreit:

"Willst du, dass das Kind sich umbringt, Mistkerl?"

Und er sieht, wie Papa zusammenschrumpft hinter den Türen als sie schließen. Mama schimpft den ganzen Weg. Sie dreht sich entsetzt zu fremden Leuten.

"Mensch, man kann ja dem Arsch nicht vertrauen. Er darf den Kleinen nie mehr nehmen!"

 

O.k., dumm gelaufen. Nächstes Mal wird er das mit dem Verschwinden versuchen.

Barbara Lemko - Prost Neujahr!

 

Barbara Lemko
Prost Neujahr!
Mit Goijko Mitic im Schneesturm

 

Meine Geschichte vom Ostkreuz passierte im Winter. Es war die kälteste und schneereichste Silvesternacht, die ich je erlebte. Meine Tochter war damals noch klein, und Gott sei Dank! bei Mama. Das Handy war noch nicht erfunden.

"Es kann spät werden, ich habe eine Lifesendung!", hatte ich noch so salopp gesagt und nicht gewusst, dass es so spät werden würde.

Die Lifesendung war eine Stundensendung mit Kindern beim Berliner Rundfunk der DDR und mit einem Stargast, der damals ein riesengroßer DEFA-Filmstar war. Alle Kinder liebten ihn, schwärmten von ihm, er war der Held, der Gute, der Tapfere, der edle Indianer, der die Weißen besiegt. Goijko Mitic war das, der schöne und gut gebaute Jugoslawe, den auch die Erwachsenen liebten. In der Vorbereitung hatte ich ihn schon in seiner Wohnung am damaligen Leninplatz, dem heutigen Platz der Vereinten Nationen, besucht. Das heißt, es war wohl auch die Wohnung seiner damaligen Lebensgefährtin Renate Blume, der schönen, schwarzhaarigen Schauspielerin, die auch eine DDR-Filmindianerin war. Sie kochte uns Kaffee und spielte mit meiner Tochter Anja.

"Zdravo, Goijko Mitic!"

"Dobar dan!"

Goijko erzählte. Und wie schön er war! Er erzählte von seiner Großmutter, die in den Bergen von Jugoslawien so naturverbunden wie eine Indianerin lebte, die alle Kräuter kannte und Heilpflanzen, die sich mit Luna, dem Mond, unterhielt, die mit Wurzeln, die sie im Wald auflas, die Suppen würzte. Und er erzählte, dass er einen echten Indianerfilm in den USA drehen würde, einen von den heutigen Indianern. Ich staunte. Ich war eine DDR-Frau und durfte, obwohl ich Journalistin war, nie hinter die Mauer. Ich war kein Reisekader. Aber Goijko war Jugoslawe, für ihn war die Welt groß und er hatte sich für die DDR entschieden und die tolle Möglichkeit, gute Indianerfilme machen zu können.

Bei der Sendung zu Silvester erzählte er das alles.

Ich erinnerte mich an meine Großmutter, Anna Lemko von den Karpaten, die genauso wie Goijkos Großmutter mit der Natur verbunden war, die Heilkräuter sammelte und Wurzeln. Ich sagte das Goijko und wir lachten, dass uns die Tränen in die Augen kamen.

Die Kinder fragten Goijko aus. Was sie alles wissen wollten!

"Hast du Kinder?"

"Wollen sie Indianer sein?"

"Wo reitest du in Berlin?"

"Kannst du keine Weißen leiden?"

Zum Schluss der Sendung brachte uns Goijko ein Lied bei, das er von seiner Großmutter kannte. Wir sangen und freuten uns. Ende der Sendung. Tschüss.

 

Als wir aus dem Studio kamen, war es schon dunkel. Die Kinder wurden mit dem Bus nach Hause gebracht.

Goijko und ich gingen in die Kantine, die große Rundfunkkantine, die übrigens rund um die Uhr geöffnet hatte und so auch Silvester. Wir schwatzten und hörten die Kantinenleute über unsere Sendung reden.

"Toll! Gut! Eine schöne Stimmung war das bei euch im Studio."

War es auch. Als wir zum Ausgang gingen, der kleinen Pforte an der Goijko seinen Passierschein abgeben musste und dafür seinen Pass zurück bekam, schneite es. Nein, nicht liebliche Schneeflöckchen fielen vom Himmel, es stürmte, der Schnee fiel wie eisige Sturzbäche über uns her, Schneewehen wanderten in aller Eile auf dem Funkhausgelände umher und versperrten uns den Weg. Schneeberge türmten sich auf dem Parkplatz.

"Du kommst mit mir", hatte Goijko schon in der Kantine gesagt, als wir noch nichts von dem Unwetter wussten. Ich hatte das Angebot, mit dem Kinderbus mitzufahren, ausgeschlagen.

Im Schneesturm lief ich hinter Goijko her. Sein Auto unter dem Schnee noch immer feuerrot.

"To je vrlo nezgodno, der verdammte Schlüssel! Ich habe ihn nicht. Ich habe ihn im Auto gelassen."

Es war spät. Es gab wie gesagt noch kein Handy und Taxen waren bei diesem Wetter und zu Silvester und in dieser Gegend und in der DDR ohnehin nicht zu bekommen. Es schneite noch immer. Es stürmte.

Goijko blieb cool. Seine Oma hat ihn gut erzogen. Und meine mich auch. Ich blieb auch cool.

"Fahren wir mit der Straßenbahn!"

"Hmm!"

"Ist auch besser bei dem Wetter."

"Hmm."

Wir gingen langsam durch den Schneesturm bis zur Straßenbahn, der 13. Wir warteten. Es schneite noch immer. Viel dichter waren jetzt die Schneeflocken, aber der Sturm hatte nachgelassen. Keiner außer uns war da. Aber es kam auch keine Straßenbahn. Wir warteten. Eine halbe Stunde. Nichts. Wir tauschten Pilzrezepte unserer Großmütter aus. Wir schwatzten.

Schließlich liefen wir, uns bei den Händen haltend, in Richtung Ostkreuz. Der Wind blies uns vorwärts.

Die Rummelsburger Landstraße zog sich endlos dahin. Und sie war triste. Die Riesentürme des Kraftwerks Klingenberg begleiteten uns auf dem Weg bis wir an den Drahtzäunen der Gefängnishäuser vorbeikamen, den Wachposten der Armee. Immer behieten wir den dicken, dunklen Turm im Auge. Eingehüllt vom Schnee wie ein Weihnachtsbaum vom Engelshaar, der Wasserturm vom Ostkreuz. Jetzt sprachen wir schon nicht mehr. Wir liefen.

Endlich! Der Wasserturm wie ein riesengroßer Baumstamm direkt vor uns. Ostkreuz!

"Fahren wir bis zur Schönhauser Allee!" sagte Goijko.

"Und du? Wie kommst du denn nach Hause?", fragte ich jetzt sehr vertraut.

"Geht schon", sagte Goijko. Wir lachten. Alles schien nun doch noch ein gutes Ende zu nehmen.

Am Bahnsteig keine S-Bahn. Es waren auch keine Leute da. Keine Lautsprecheransage, keine Anzeige. Nichts. Es wird kalt. Unsere Laune war getrübt. Wir schauten schweigend in die Richtung, aus der die S-Bahn kommen sollte. Sie kam nicht. Wir schauten auf die Uhr. Es ging auf Mitternacht. Es war Silvester. Silvester am Ostkreuz!

Schließlich, als wir schon alle Hoffnung aufgegeben hatten, kam die Bahn. Wir fuhren zusammen bis zur Schönhauser Allee. Küsschen! Tschüsschen!

"Sretnu novu godinu!"

"Gesundes Neues Jahr!"

"Do skoro!"

"War schön."

Über zwanzig Jahre sind seitdem vergangen. Ich hatte Goijko vergessen. Und er mich offensichtlich auch. Aber den dicken Wasserturm, den alten Baum und den Hinterausgang zu den Bahnsteigen vom Ostkreuz gibt es noch immer. Und als ich neulich im Fernsehen ein Interview mit Goijko Mitic sah, fiel mir die Geschichte wieder ein.

Do videnja, Goiko Mitic! Wäre schön, dich zu treffen!

Sonja Hoffmann - Eine Woche am Ostkreuz

Sonja Hoffmann
Eine Woche am Ostkreuz
Eine Geschichte von Schreihälsen, Bomben und herrenlosen Schuhen

 

Irgendein Montag im Juni, 8.00 Uhr:

"Jasmin! Jasmin!" Wir drehen uns um, aber es ist niemand hinter uns. Vielleicht verwechselt der Typ mit den wirren grauen Haaren und dem zerknitterten Trenchcoat mich mit einer Frau namens Jasmin. Er wackelt an uns vorbei, würdigt uns nicht eines Blickes und ich bin mir nicht mal sicher, ob er uns überhaupt wahrgenommen hat. Kaum ist er an uns vorüber gezogen, schreit er erneut mit einer schrillen Stimme nach Jasmin und quetscht sich vorbei an einem jungen Mann, der wild gestikulierend an uns vorbeischießt. Auch er ist allein, was ihn nicht davon abhält, mit einem zickig-ironischen Ton vor sich hin zu zetern: "Ja, genau, ich weiß, ich bin ein Lügner und DU machst immer alles richtig… ja, ja, toll…ach? Ist das so, ja? Ach, dann leg doch auf…" Er greift erst in seine Tasche und zieht dann genervt den Headset-Knopf aus seinem Ohr. Er scheint telefoniert zu haben – ganz im Gegensatz zu dem alten Herren, der sprach mit sich selbst. Nicht immer ist es so eindeutig wie in dieser Situation, aber am Ostkreuz befassen sich nur noch Touristen aus der Kleinstadt mit der Frage, ob der sprechende Einzelgänger per Headset telefoniert oder nicht.

 

Irgendein Dienstag im April, 15.30 Uhr:

Wir haben frei und nutzen den Tag, um auf dem Markt am Maybachufer einzukaufen. Von dort aus ist es über das Paul-Linke-Ufer nur ein Katzensprung bis zum Markgrafendamm, wo wir leben. Während wir die Einkäufe im Kühlschrank verstauen, hören wir von draußen undefinierbare Megaphon-Durchsagen. Schon wieder eine Demo? Kann schon sein, denn normalerweise bekommt man von derartigen Aktionen meistens erst etwas mit, wenn man die Abendschau im RBB ansieht. Wir denken uns nichts dabei und genießen den freien Tag mit einem Buch auf dem Sofa. Die Durchsagen hören jedoch nicht auf und so öffnen wir das Fenster und versuchen, die Botschaften zu entschlüsseln: irgendwas ist gesperrt… hm, naja, wie dem auch sei. Kurze Zeit später klingelt es dann an der Tür und zwei uniformierte Schränke bauen sich vor mir auf und weisen mich darauf hin, dass wir die Wohnung verlassen müssen, weil am Ostkreuz eine Bombe zu entschärfen sei. Na toll, also wird das Buch zusammengeklappt und wir begeben uns auf einen unfreiwilligen zweiten Spaziergang, denn sich mit etlichen anderen in die Turnhalle einer Schule zu hocken, war nun nicht unsere perfekte Vorstellung eines freien Tages.

An der Boxhagener Straße stehen drei Mädchen, die sich selbst als Visual Key bezeichnen würden mit bunten Manga-Comic-Kleidchen und Sonnenschirm, an der Bushaltestelle. So, wie sich in Kleinkleckersdorf die örtliche Dorfjugend eben auch an der Bushaltestelle trifft. Eigentlich ist sich doch alles so ähnlich und über die pubertierenden Jungbauern entrüsten sich die Anwohner jenseits der 70 ebenso wie hier bei uns. Die Bombe ist so nah und trotzdem läuft hier alles seinen Weg, schon beeindruckend, wenn man darüber nachdenkt.

 

Irgendein Mittwoch im Mai, 17.45 Uhr:

Seit einigen Minuten stehe ich am Ostkreuz und warte auf eine Freundin. Nur wenige Meter von mir entfernt steht ein junges Paar, ich schätze beide sind so Ende zwanzig und wenn man sie so mit dem Stadtplan hantieren sieht, drängt sich einem unweigerlich die Vermutung auf, dass die beiden als Touristen in die Hauptstadt kamen – sie sind also im Urlaub. Was Erholung und Freude bringen soll, führt bei zahlreichen Menschen jedoch zu Aggressionen und Bluthochdruck und so bildet auch das Paar neben mir keine Ausnahme.

Sie (mit schrillem und hasserfülltem Unterton): "ICH hab gleich gesagt, dass wir hier falsch sind, aber du hörst ja eh NIE auf mich...!"

Er (mit pulsierender Ader an der Stirn): "Ja, wer wollte denn, dass wir nach Berlin fahren, hä?! Ich war ja für Malle, da hätten wir alles inklusive gehabt und hätten keine Scheißbahn suchen müssen und Fabian und Melanie wären auch mitgekommen, dann hätten wir nicht die ganze Zeit aufeinanderhängen müssen...!"

Sie: "Ey, ich hab’s so satt. Du kümmerst dich NIE um irgendwas und dann ist immer alles Scheiße!"

Er: "Ach, halt doch die Klappe, die beschissenen zwei Tage Urlaub kriegen wir ja wohl noch rum..."

Es folgt eine Phase eisigen Schweigens und als endlich die ersehnte Bahn einfährt, frage ich mich, ob das der erste und letzte gemeinsame Urlaub der beiden war oder ob das jedes Jahr so abläuft.

 

Irgendein Donnerstag im März, 8.24 Uhr:

Die Frühstückskultur Berlins scheint sich am Ostkreuz in Ost und West zu trennen. Während in den Bahnen, die sich Richtung Westen bewegen hauptsächlich belegte Körnerbrötchen, Coffee to go und Croissants verspeist werden und wohlige Gerüche verströmen, sitze ich in einer der Bahnen Richtung Osten.

Der Osten frühstückt scheinbar anders, denn statt des Aromas von frisch gebrühtem Kaffee steigt mir der aufdringliche Geruch eines Döners "mit alles" in die Nase. Ja, es ist kurz nach acht Uhr in der Früh und ich bin relativ glücklich, morgens schon über ein recht unempfindliches Riechorgan zu verfügen. Zu dem Döner gibt es natürlich keinen Kaffee, denn das würde ja absolut nicht passen und man muss ja schon auf Etikette achten und so wird das gesunde Frühstück mit einem kräftigen Schluck Bier runtergespült.

Um für Abwechslung zu sorgen, steht natürlich auch die Curry-Wurst ganz oben auf der Frühstücksfavoriten-Liste Ost und auch das eine oder andere Eisbein wurde schon vor meinen Augen zur wichtigsten Mahlzeit des Tages.

Ost und West: so viele Unterschiede wurden schon abgebaut, aber vielleicht sollte die Politik sich auch noch mal im Sinne der Menschen mit einer empfindlichen Nase für die deutsche Einheit einsetzen.

 

Irgendein Freitag im Juli, 18.00 Uhr:

Nach Feierabend will ich noch schnell ein paar Dinge besorgen, schiebe mich an den unzähligen besetzten Sitzmöglichkeiten vor den Cafés in der Sonntagstraße durch die Menschenmengen und stelle fest, dass Friedrichshain wohl tatsächlich auf dem Weg ist, das neue Prenzlauer Berg zu werden. Auf der kleinen Grünfläche an der Sonntagstraße tummeln sich geschätzt 100 junge Eltern mit ihren Kindern, die auf Namen wie Marie Luise und Frederik hören, und diskutieren über Familienpolitik und das Leben im Allgemeinen. Aus ihren bunten Jute-Beuteln ziehen sie hin und wieder Schraubgläser (der Umwelt zuliebe) und geben ihren langhaarigen Söhnen einen Haferkeks in Bio-Qualität. So viele Brüste wie hier sieht man sonst nur am FKK-Strand, dort hängen an ihnen allerdings meist keine Kinder und es scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis sämtliche Döner-Grills von Bio-Läden und Windelgeschäften ersetzt werden.

 

Irgendein Samstag im Oktober, 14.35 Uhr:

Wird Friedrichshain also bald das neue Prenzlauer Berg? Die Kinderwagen schiebenden Papas sind auf alle Fälle schon überall in Scharen zu beobachten. Schräg versetzt gehen Ursula von der Leyens Vorzeigemodelle hinter dem Sportkinderwagen, mit dem ihre Partnerin (nicht "Frau", weil heiraten ja viel zu altmodisch ist) nach der Arbeit noch joggen geht, um den Waschbrettbauch drei Wochen nach der Entbindung lässig im Flohmarkt-Shirt zu präsentieren. Obwohl alle Super-Papas behaupten, die Elternzeit sei das beste, was ihnen je passiert ist, hängen ihre Mundwinkel stets nach unten und zwischen ihren Augenbrauen zeigt sich ihre Unzufriedenheit in einer kräftigen Zornesfalte. An der Dauerbaustelle Ostkreuz nähern wir uns mit unseren Fahrrädern von hinten einem ebensolchen Exemplar und bitten ihn höflich, uns vorbeizulassen. Ohne sich umzudrehen pöbelt er: "Dat ist keen Radweg hier!" Um sich das eigene Leben nicht unnötig schwer zu machen flöte ich: "Es ist ein Weg für Fußgänger und Radfahrer und selbst wenn er es nicht wäre, könnte man doch ein wenig nett miteinander sein." Wo es denn stünde, dass es sich um einen gemeinsam zu nutzenden Weg handele? Wir zeigen ihm das Schild am Beginn des Weges und die schlagartige Rotfärbung seines peinlich berührten Gesichts zeigt, dass der ach so entspannte Papa vielleicht doch noch mal zum Yoga gehen sollte...

 

Irgendein Sonntag im August, 9.10 Uhr:

Es gibt Indizien, die eine zuvor vermutete Entwicklung jedoch fragwürdig erscheinen lassen, denn die wirklichen Promis sieht man hier noch nicht. Während es in Mitte ein leichtes ist, Til Schweiger beim Dreh für einen neuen Film über den Weg zu laufen oder in Kreuzberg mit Heidi Klum einen Burger beim großen M zu essen, so trifft man auf den Flohmärkten rund um das Ostkreuz doch eher nur auf abgehalfterte B-Prominenz. Erst nach mehrmaligem Hinschauen erkennt man dann den deutlich gealterten und längst in der Versenkung verschwundenen VJ, der zu Zeiten im Musikfernsehen arbeitete, als noch keine billigen Reality-Date-My-wasauchimmer-Shows in 24-Stunden-Endlos- Schleife, sondern tatsächlich noch Videoclips von nicht gecasteten Bands gezeigt wurden.

Dennoch zeigt das Ostkreuz insbesondere auf der Seite des Markgrafendamms noch großes Potential hinsichtlich der Entwicklung zu einem DER Hotspots in Berlin (ob diese Entwicklung allerdings wünschenswert ist, bleibt eine Frage, über die es zu streiten gilt.).

Der Markgrafendamm hat nämlich zwei Gesichter: Ein Werktagsgesicht und ein Wochenendgesicht.

Montags bis freitags schleppen sich am frühen Morgen die Berufstätigen zum Ostkreuz. Ob mit schlurfenden Füßen und gesenkten Blicken oder mit hektischem Schritt und dem Mobiltelefon am Ohr, wirkt jeder auf die eine oder andere Art unmotiviert oder zumindest unausgeschlafen. Unausgeschlafen sind die Menschen, die sich am Vormittag des Sonntags Richtung Ostkreuz bewegen zwar auch, ihre Müdigkeit liegt aber wohl eher daran, dass sie seit circa 24 Stunden auf den Beinen und diese vom Tanzen derart geschwollen sind, dass sich der eine oder andere auf dem Heimweg seines Schuhwerks entledigt.

Als ich in den Markgrafendamm zog wunderte ich mich über die große Zahl herrenloser Schuhe, die in den Nächten von Samstag bis Montag auf dem Weg zum Ostkreuz auftauchten. Wie für Berlin üblich, sind die wahren Tanztempel auch hier nicht mit einem großen, rotblinkenden Pfeil versehen, sondern liegen wie der Salon "Zur Wilden Renate" derart versteckt, dass sie den auf den Boden gesenkten Blicken der "Arbeitsbienen" meist verborgen bleiben. Aus dieser Unwissenheit heraus resultiert dann eine gewisse Verwirrung hinsichtlich der demographischen Zusammensetzung der Fußgänger, die sich am Sonntag durch den Markgrafendamm bewegen. Während der eine frisch ausgeschlafen und gewaschen auf dem Weg zum Bäcker ist, torkelt der andere ohne Schuhe an den Füßen und mit der letzten Flasche Bier in der Hand zur Bahn. Für knapp 24 Stunden hat das Ostkreuz dann seinen großen Auftritt, um am Montag nur noch durch die einsamen Schuhe zeigen zu können: "Ich war dabei…"

Andrea Dehne - Flashmob

 

Andrea Dehne
Flashmob

 

Es war spät geworden. Er saß in der S-Bahn, den Kopf gegen das Scheibenglas gelehnt und sah draußen die Lichter der Stadt vorüber ziehen.

Die Wagen ratterten über das alte Gleisbett der Ringbahn und er ertappte sich dabei, wie ihm die Augen zufielen.

Am Ostkreuz hielt der Zug, die Türen öffneten sich und Menschen strömten herein. Fast alle Plätze waren auf einmal besetzt und eine eigenartige Stimmung schien den Wagen zu erfüllen. Ein leises Tuscheln und Wispern, das abbrach, als das Abfahrtsignal ertönte und die Türen sich schlossen. Ihm gegenüber hatte eine Frau Platz genommen, die ihre graue wellige Haarmähne mit einem Band im Nacken zu zähmen suchte. Ihr Mund war in der Farbe reifer Süßkirschen geschminkt, ein dunkles Rot, das fast ins Schwarze reichte. Sie trug eine leichte schwarze Strickjacke über einem mit Blumenmuster verzierten hochgeschlossenen Kleid. Irgendwo im Waggon erklang auf einmal Musik. Zuerst ein paar schluchzende Töne. Die Menschen um ihn herum erhoben sich, fanden als Pärchen zueinander, Arme legten sich behutsam um Rücken und Hals, Hände sanft in Hände, alles schien einer einzigen Choreographie zu gehorchen. Man wiegte sich leicht zu den ersten Takten, die Musik wechselte, wurde intensiver, abgehackt, zwingender, sie trieb die Tänzer — denn ohne Zweifel handelte es sich um solche — vorwärts, erst in kleinen Schritten und Drehungen, dann in immer ausgefalleneren Figuren, wobei sie geschickt jede sich auftuende Lücke, jede Nische des Waggons nutzten.

Verwirrt sah er dem Treiben um sich herum zu, lauschte den Klängen bis sein Blick an der Frau ihm gegenüber hängen blieb. Sie hatte aus einer Bastkorbtasche ein paar hochhackige Schuhe genommen und beim Anziehen ihn angelächelt. Dieses Lächeln wurde immer strahlender als sie aufstand, auf ihn zuging und ihm die Hand reichte. Wie in Trance erhob er sich und ehe er es noch begriff oder etwas sagen konnte, wiegten beide sich eng umschlungen die Köpfe leicht aneinander gelehnt und lauschten den Worten der Sängerin:

 

Yo soy maria

de buenos aires

de buenos aires maria

no vien quien

soy yo?

(Ich bin Maria von Buenos Aires, Buenos Aires Maria, sehen Sie nicht wer ich bin?)

 

Sie glitten durch die Nacht wie der Zug, der sie mit sich führte.

 

maria tango,

maria del arrabal,

(Maria Tango, Maria der Vorstadt)

 

Vorsichtig waren ihre Bewegungen, tastend, abwartend. Wenn er einen Schritt auf sie zu wagte, wich sie zurück. Bewegte er sich seitlich, tat sie ihm nach. Wiegte er seine Schritte, folgte sie der Bewegung.

 

maria noche

maria pasion fatal

(Maria Nacht, Maria Leidenschaft fatal)

 

Löste sich ihre Umarmung, dann umkreisten sie einander, lauernd, sich tief in die Augen blickend. Vertrat er ihr den Weg, ließ sie ihren Fuß an seinem Bein ein-, zweimal hoch und nieder gleiten, um es, nach einem kleinen Zögern, zu übersteigen.

Alsbald lehnten sie wieder eng aneinander, nahmen den Takt auf und folgten den Anderen.

 

maria del amor

de buenos aires

soy yo

(Maria der Lieb, zu Buenos Aires, bin ich)

 

So umrundeten sie die Stadt.

Als der Zug wieder am Ostkreuz hielt verstummte die Musik. Die Paare trennten sich, rafften ihre Sachen zusammen und strömten auf den Bahnsteig. Benommen stand er alleine im leeren Waggon. Das Abfahrtsignal ertönte und die Türen schlossen sich.

Der Zug setzte sich in Bewegung — ein leuchtendes Band vor der schwarzen Silhouette der Lagerhäuser und des alten Wasserturms, ein Glühen, das langsam im Dunkel der Nacht entschwand.

 

P.S.
Der kursive Text ist der Tango Opera 'Maria de Buenos Aires' von Astor Piazzolla entnommen

Ilse Treue - Das Ritual

 

Ilse Treue
Das Ritual

 

Herbert pflegt ein Ritual. Alljährlich im Mai pilgert er von seiner Wohnung am Ostkreuz nach Treptow, genießt dort einen erholsamen Nachmittag und pilgert wieder zurück. Es ist wieder Mai und wieder zieht es ihn ans Spreeufer. Ganz gegen seine Gewohnheit nimmt er heute die S-Bahn, nicht ahnend, dass der Tag dadurch eine unerwartete Wendung nehmen wird.

Auf der Rückfahrt am S-Bahnhof Ostkreuz aussteigend, blickt er noch einen Moment vom Ringbahnsteig aus über die riesige Baustelle. Die Kynastbrücke steht schon an ihrem neuen Platz. Vor kurzem wurde sie für den Verkehr freigegeben. Noch lange wird er in seiner unmittelbar am Bahnhof gelegenen Wohnung Baulärm und Schmutz ertragen müssen; aber wenn alles fertig ist, wird das Umsteigen eine wahre Freude sein. Gerda würde staunen, wenn sie das noch erlebt hätte. Früher fuhren sie täglich von hier zur Arbeit und an den Wochenenden hinaus ins Grüne. Als die Kinder noch klein waren, quälten sie sich oft mit dem Kinderwagen treppauf, treppab. Mit dem Aufzug wird das einmal eine Kleinigkeit sein. In Gedanken vertieft wendet er sich dem Ausgang zu.

In dem Augenblick, wo er die Treppe hinabsteigen will, bittet ihn eine Frau um Auskunft. Herbert dreht sich um, stutzt, fragt halb ungläubig: "Brigitte? – Wirklich Brigitte?" Die so Angesprochene staunt ebenfalls: "Herbert, du?" Nach kurzer Pause: "Ich bin heute früh aus Schwerin gekommen und will jetzt wieder zurück, finde mich aber auf dem Bahnhof nicht zurecht. Seit ich das letzte Mal hier umgestiegen bin, hat sich alles total verändert." Bereitwillig kommt Herbert ihr zu Hilfe. Er weist auf die Bahnsteige, zeigt, was fertig und was im Bau ist. "Du bist gut informiert", sagt Brigitte anerkennend. "Ohne dich wäre ich ziemlich hilflos." Der Klang ihrer Stimme weckt in Herbert Erinnerungen. Seit Jahren haben sie einander nicht gesehen. Er will sie jetzt nicht einfach gehen lassen und bittet sie, ihre Heimfahrt etwas hinaus zu schieben. "Ich lade dich zu einer Tasse Kaffee ein. Kommst du mit? Ich würde mich freuen." Brigitte überlegt nicht lange. In der nahe gelegenen Sonntagstraße war sie mit ihrer Schwester Gerda aufgewachsen. Herbert bewohnte nach seiner Vermählung mit Gerda eine Wohnung im gleichen Haus. Straße und Haus würde sie gern wieder sehen.

Kaum fünf Minuten später betreten sie Herberts Wohnung. Schnell ist der Kaffeetisch gedeckt. Schweigend nehmen sie die ersten Schlucke. "Mir ist, als ob ich nach Haus komme", beginnt Brigitte das Gespräch. "Brigitte, du bist schon einmal mit mir nach Haus gekommen", antwortet Herbert, "das ist lange her. Erinnerst du dich?" Dann wird er still. Seine Gedanken gehen um Jahrzehnte zurück. Es war Krieg. Die Zeit der Siege war längst vorbei. In einer furchtbaren Kesselschlacht trafen ihn buchstäblich in den letzten Stunden des Krieges noch zwei Kugeln. Man trug ihn in einen Keller, in dem notdürftig eine Verbandsstelle eingerichtet war. Hilflos war er fremden Menschen ausgeliefert, nicht wissend, was von einer Stunde auf die andere passieren würde. Frauen aus dem Ort versorgten die Verwundeten so gut es ging. Da war vor allem Uschi, die vor keiner Arbeit zurückschreckte und nicht müde wurde, den Soldaten Mut zuzusprechen. Von ihr erfuhr Herbert vom Ende des Krieges. Eigentlich weiß Brigitte das alles. Seit langer Zeit hat er nicht mehr darüber gesprochen. Nun, wo er Brigitte wieder sieht, stehen die damaligen Ereignisse so mächtig vor ihm, dass es ihn zum Sprechen drängt.

"Brigitte, du weißt, dass ich in Halbe verwundet wurde", beginnt er. "Du kannst Dich bestimmt noch auf Uschi besinnen. Sie kam eines Morgens in den Keller und verkündete, dass sie sich zu Fuß auf den Weg nach Berlin machen werde. Sie wolle nach ihren Eltern sehen. In der Hoffnung, dass ihr zu Hause den Krieg überlebt habt, schrieb ich ein paar Zeilen auf einen Zettel und bat Uschi, dieses Lebenszeichen Gerda zu übergeben. Dann überschlugen sich die Ereignisse. Plötzlich tauchte das Gerücht auf, wer laufen kann, könne auf eigenes Risiko versuchen, in seinen Heimatort zu gelangen. Andernfalls sei mit Kriegsgefangenschaft zu rechnen. Es würden Transporte zusammengestellt werden. Gerücht? Wahrheit? Ich lag gehunfähig im Keller und musste die Ereignisse auf mich zu kommen lassen." Herbert atmet tief, bevor er weiter spricht: "Ich werde nie vergessen, wie mir zumute war. Berlin war zum Greifen nahe. Ich klammerte mich an die Hoffnung, euch dort wieder zu sehen. Das gab mir Kraft. Nun brach die Hoffnung zusammen. Der Abtransport nach Russland schien unausweichlich. Da tauchtest du plötzlich auf. Ich glaubte, eine Fata Morgana zu sehen. Neben dir stand Uschi und lachte. Ich muss wohl sehr dumm drein geschaut haben. Gleich darauf durchzuckte es mich wie ein Blitz: Das ist die Rettung! Alles Weitere verdanke ich dir." Überwältigt von der Erinnerung, greift er nach Brigittes Hand.

Leise, um Herbert in seinen Gedanken nicht zu stören, schenkt Brigitte noch einmal Kaffee ein. Sie nimmt einige Schlucke, ehe sie zu sprechen beginnt: "Ja, ich erinnere mich. Der Krieg war erst wenige Tage zu Ende, da brachte eine fremde Frau Grüße von dir. Als ich hörte, dass du lebst, schlug mir das Herz bis zum Hals. Nun bot sich die Möglichkeit, dich wieder zu sehen, da die Frau nach Halbe zurückkehren werde. Spontan schloss ich mich ihr an. Für Gerda kam eine solche Strapaze nicht in Frage. Sie erwartete euer erstes Kind. Mit Uschi war ich schnell per du. Ich lernte sie als eine couragierte Frau kennen, der man sich getrost anvertrauen konnte. Ich hatte keine Ahnung, was mich in Halbe erwartet. Schon gar nicht war ich darauf gefasst, dich nach Haus holen zu können. Die Gelegenheit, dir die Kriegsgefangenschaft zu ersparen, war günstig, also nutzte ich sie. Uschi half nach Kräften. Im Wald von Halbe wurden wir fündig. Flüchtlinge und zurück weichende Soldaten hatten alles weggeworfen, was ihnen bei der Flucht hinderlich war. Wir fanden einen klapprigen Leiterwagen. Wir fingen ein herrenlos umherlaufendes, abgemagertes Pferd ein. Sogar Zaumzeug fanden wir. Das passte zwar alles nicht zusammen, doch irgendwie würde es schon gehen. Für dich mussten zwei Holzstangen als Gehhilfe ausreichen. Uschi trieb Rote-Kreuz-Binden auf, die wir uns auf die Ärmel hefteten, dazu eine Rote-Kreuz-Fahne und fertig war der Lazarettwagen. So machten wir uns auf den Weg nach Berlin. Wenn ich heute daran zurück denke, wundere ich mich über den Mut, den wir aufbrachten. Wir warfen uns in ein Abenteuer, von dem wir nicht wussten, wie es enden würde. Das Pferd blieb alle paar Meter stehen. Ich wusste nicht mit Pferden umzugehen, Uschi auch nicht. Du wusstest es, konntest aber nur mit Ratschlägen helfen." Herbert unterbrach Brigitte: "Das arme Pferd tat mir leid. Wir hatten nichts zu fressen für das Tier. Das Zaumzeug scheuerte. Es half aber alles nichts, Pausen konnten wir uns nicht leisten. Wir mussten weiter, nur immer weiter. Dann kamen wir an die Stelle, wo der Wald brannte. Ich bekam einen Schreck, befürchtete, das Pferd würde scheuen und den klapprigen Wagen umwerfen. Alles wäre umsonst gewesen. Erstaunlicherweise scheute es nicht. Weißt du noch, wo wir den nächsten Schreck bekamen?" Brigitte weiß es genau. Das war an der Grenze zu Berlin. Ein Schlagbaum versperrte die Straße, die von einem Rotarmisten bewacht wurde. Herbert lag in der Uniform der verhassten Nazi-Wehrmacht auf dem Wagen. "Ich dachte, jetzt ist alles aus", erinnert sich Brigitte. "Aber der Rotarmist blickte auf die Rote-Kreuz-Fahne, öffnete den Schlagbaum und winkte uns durch. Wir waren in Berlin."

Vor ihnen lagen Schuttberge, unpassierbare Straßenzüge, eine einzige Trümmerlandschaft. Nach zweitägiger beschwerlicher Fahrt gelangten sie endlich ans Ziel. Brigitte hatte für ihre Schwester den Mann nach Haus gebracht.

Herbert, kein Freund großer Worte, drückte erneut Brigittes Hand. Ohne sie wäre sein Leben und das seiner Familie anders verlaufen. Wer weiß, was ihm erspart blieb. "Das liegt 65 Jahre zurück", erinnert er Brigitte, "auf den Tag genau 65 Jahre." Er erzählt ihr, dass er und Gerda seitdem diesen Tag besonders würdigen, sei es mit einem Blumenstrauß, mit einem besonderen Essen oder einem Theaterbesuch. Später, als Rentner, verbanden sie diesen Tag gern mit einem Spaziergang zum nahe gelegenen Treptower Park. Dieser Tag des Erinnerns und der Freude wurde für sie zu einem Ritual. Auch seit er allein ist, hält er an dem gewohnten Ausflug fest. Die Jahre vergingen. Herbert muss jetzt für die kurze Strecke die S-Bahn nehmen. "Dadurch haben wir uns getroffen, Brigitte. In dem Augenblick, wo ich vom Ostkreuz die Treppe hinabsteigen wollte, hast du mich angesprochen." Sie lächeln. Schmunzelnd geht Herbert in die Küche und kommt mit einer Flasche Sekt zurück. "Darauf stoßen wir an!"

Immer neue Erinnerungen werden lebendig. Erinnerungen an die Trümmerberge auf dem heutigen Lenbachplatz. Erinnerungen an die kleinen Läden in der Sonntagstraße. Erinnerungen an Nachbarn und Bekannte, die verzogen sind oder nicht mehr leben. Erinnerungen, Erinnerungen.

Brigitte schaut auf die Uhr. Sie muss zurück nach Schwerin. "Besuch mich mal. Meine Tochter vermietet an Feriengäste", bietet sie Herbert an. "Für einige Tage wechselst du von der Spree an den Schweriner See." Herbert ist nicht abgeneigt. Er bringt Brigitte zum Bahnhof. Wenige Augenblicke später nimmt sie der Zug mit sich fort. Noch einmal blickt Herbert über die riesige Baustelle. Hoffnungsvoll klingt sein heutiges Ritual aus. Langsam geht er nach Hause.

Momo Noack - Irgendwo zwischen Salami und Freundlichkeit

 

Momo Noack
Irgendwo zwischen Salami und Freundlichkeit

 

Ich rannte meinem Hund auf der Wiese hinterher. Ich wollte, dass er sich richtig auspowert. Keine Ahnung warum. Es machte Spaß, sich mit dem Hund zu messen. Irgendwann gab ich es auf. Ich ließ mich in das hohe Gras fallen. Was bringt es? Er war sowieso schneller als ich.

Ich schaute zu ihm und konnte gerade noch sehen wie er im Busch verschwand. Ich wusste, dass es meinem Hund hier gefiel. Auch ich konnte mich hier gut entspannen. Im Getümmel der Großstadt fanden wir hier unsere Ruhe, weil nur wenige Leute etwas von dieser Wiese wissen. Meine beste Freundin Sarah, ihre Mutter und ich. Sarah hatte mir diesen Ort einst gezeigt. Die Wiese lag, von der Sonntagstraße aus gesehen, hinter dem Ostkreuz. Es gibt dort eine Straße, deren Namen ich nicht kenne, aber von dort aus kommt man auf dieses Grundstück. Von der Straße aus kann man die Wiese allerdings nicht sehen, nur Sand. Es sieht dann eher wie eine Baustelle aus. Erst wenn man über die Sandhügel herüber geht, gelangt man zur Wiese.

Meistens war ich mit Sarah und meinem Hund Muffin hier. So wie heute auch. Ich sah wie Sarah hinter den Hügeln auftauchte. Sie kam zu mir gerannt und ließ sich neben mir im Schneidersitz fallen. Ich kannte sie schon ziemlich lange. Wir gingen zusammen in den Kindergarten. Es war schon immer lustig, sich mit ihr zu treffen. Sie ist anders als viele Mädchen. Ihr war es egal, was die anderen von ihr dachten. Und sie ist sehr sportlich, so dass ich mit ihr auch immer zusammen durch den Treptower Park gejoggt oder Inlineskates gefahren bin.

Ich hob meinen Kopf und schaute sie an. Sie seufzte und ließ sich auf den Rücken fallen. Darum drehte ich den Kopf zur Seite. Sie schaute mich an und hob die Augenbrauen hoch. Was hatte sie? Ich schaute sie verdutzt an und sie grinste mich an. Ich lächelte hämisch zurück. Dann kitzelte ich sie an der Taille und sie musste heftig lachen und rächte sich. Wir bekriegten uns noch eine Ewigkeit. Es kam mir jedenfalls wie Stunden vor. Doch dann sprang Sarah plötzlich auf.

Wahrscheinlich wollte sie wegrennen. Aber dann sah ich, wie ihr Gesicht ernst wurde, also fragte ich sie: "Was ist?" "Anette", sagte sie und richtete ihren Blick dabei hinter mich. Ich drehte mich um, um "Anette" sehen zu können. Und da sah ich sie auf einem BMX-Fahrrad über die Wiese auf uns zu fahren. Aufgrund ihrer Kleidung hielt ich sie für in unserem Alter, also ungefähr 15. Doch als sie sich uns näherte und ich ihr Gesicht besser erkennen konnte, schätzte ich sie auf Anfang 40.

"Sarah, was machst du hier?", schrie Anette Sarah an. Ich sah Sarah an, aber sie rannte einfach weg. "Hau ab, Tom!", rief sie mir zu. Ich verstand gar nichts mehr. Was soll denn mit dieser Anette sein? Trotzdem sprang ich auf und rief Muffin. Er kam zu mir getrottet und ich rannte los. Wenn sie wegrennt, wird es schon seinen Grund haben.

Ich holte den Vorsprung locker auf. Und kaum lief ich neben ihr, lief sie auch schon schneller. Eigentlich fast zu schnell, aber es war für mich kein Problem mitzuhalten. Jahrelanges Joggen zahlt sich also doch aus! Plötzlich blieb Sarah stehen. Mitten auf dem "Übergang" zwischen der Sonntagstraße und dieser Straße, aus der wir gerade kamen. Man konnte von hier aus zu den S-Bahnen nach Potsdam, Strausberg, Wannsee usw. runter gehen. Wir waren beide aus der Puste und atmeten heftig ein und aus. Ich versuchte meine Stimme wiederzufinden, aber stattdessen bellte ich sie bloß heiser an: "Was sollte das?" Sarah schaute mich mit großen Augen an. Damit war meine Frage eigentlich beantwortet: Sie hatte Angst!

Sarah sprach trotzdem: "Weißt du, diese Frau ist … nicht normal! Sie macht mir Angst. Meine Mutter und ich waren vor kurzem noch mit ihr befreundet. Wie viele andere Leute auch. Aber … sie hatten uns gewarnt gehabt. Uns wurde erzählt, dass Anette nicht ganz … normal sei. Sie sei verrückt. Aber bin ich das nicht auch? Es gibt viele, die verrückt sind! Jetzt weiß ich aber was die anderen meinten mit sie sei 'nicht ganz normal'. Ich wusste es allerdings erst nach einem heftigen Streit. Sie war richtig sauer auf uns, weil wir nicht mehr mit ihr befreundet sein wollten. Sie … drohte uns ernsthaft…. sie meinte, sie wolle uns umbringen." Sarah sprach so leise, dass ich sie kaum verstehen konnte. Sie lehnte sich dabei gegen das Geländer. "Verstehst du jetzt, weshalb ich solche Angst hab?", sprach sie diesmal lauter, so dass ich sie besser verstehen konnte. Diese Geschichte klang so schlimm, dass man kaum glauben wollte, sie sei echt.

Ich stützte meine Arme auf das Geländer und schaute auf die Gleise und sagte: "Da hätte ich an deiner Stelle wohl auch Angst." Ich drehte mich zu ihr zurück. "Ähm … ich würde es verstehen, wenn du jetzt nein sagst, aber hältst du es nicht für besser, wenn wir Hilfe holen?", fragte ich vorsichtig. Sie schüttelte ihren Kopf. Sie hatte recht. Wozu auch Hilfe holen? Ich konnte sie genauso gut selber beschützen. Jedenfalls wollte ich sie beschützen, sollte Anette sich in ihre Nähe wagen. Aber hier am Ostkreuz würde sie sich eine Auseinandersetzung hoffentlich nicht wagen. Wir befanden uns schließlich an einem der belebtesten Plätze hier im Kiez. Hier gibt es tausende von Cafés und Restaurants. Man kommt von hier aus überall hin. Im Minutentakt fahren die Bahnen ein und man ist schneller am Ostbahnhof, Alexanderplatz oder Hauptbahnhof als manch einer denkt. Und Sarah und ich kannten hier so viele Schlupflöcher, wir konnten einfach darin verschwinden, wenn es sein muss.

Ich musste gähnen. Gestern war ich einfach zu lange wach gewesen. Hunger hatte ich auch. Ich griff in meine Hosentasche und zählte mein Geld. Ich hatte noch 4,82 €. Das reicht locker, um Sarah und mir etwas zu essen zu kaufen. Also nahm ich ihre Hand und führte sie die Treppe Richtung Sonntagstraße runter. Sarahs Hand zitterte stark. "Ich … glaube …, ich glaube, dass ich keine Hilfe brauche. Sie wird uns schon nicht verfolgen", sagte sie und zog ihre Hand langsam weg. Ich sagte: "Ich werde auf dich aufpassen. Lass uns etwas zum Essen holen!" Sie musste lächeln. "Klar!", sagte sie. Sie lehnte ihren Kopf an meine Brust und ich legte meinen Arm um sie. Ich hatte sie wirklich gern. Und um nichts in der Welt würde ich ihr die Freundschaft kündigen.

Wir schlenderten zum Bäcker direkt gegenüber vom Bahnhof, wo ich ihr ein Tomate-Mozzarella-Baguette und mir ein Salami-Baguette kaufte. Ich ging hier des Öfteren mal eine Kleinigkeit kaufen, weil es recht günstig ist. Mein großer Bruder nannte ihn deshalb immer den "99-Cent-Bäcker". Wir gingen wieder zurück zum Bahnhof. An einer Mauer hockte ein kleiner arabischer Junge, den ich auf höchstens acht Jahre schätzte. Ich ging zu ihm und drückte ihm mein Restgeld in die Hand. Er war sehr glücklich darüber und bedankte sich. Für ihn wird es wohl viel Geld gewesen sein. Ich weiß noch, wie sehr ich mich freute, wenn ich in seinem Alter mal ein bisschen Taschengeld bekommen hatte. Heute verdiene ich mein Taschengeld selbst, indem ich Zeitungen austrage.

"Was wollen wir jetzt machen, Sarah?", fragte ich sie und drehte mich zu ihr um. Aber sie war nicht mehr da. Wo war sie hin? Hatte sie sich in Luft aufgelöst? Ich schaute mich um, aber da war keine Spur von Sarah.

Wo konnte sie denn bloß sein? Versteckte sie sich vor mir? Oder wurde sie vielleicht entführt? Ich konnte mir das alles einfach nicht erklären. Ich stand doch die ganze Zeit neben ihr! Ich fluchte innerlich. Wie konnte ich bloß so unaufmerksam sein? Und was um Himmels willen war passiert?

Ich fragte den Jungen, ob er das Mädchen neben mir gesehen hätte. "Da waren kein Mädchen. Du alleine da", erklärte er mir. Ich sah ihm an, dass er wirklich keine Ahnung hatte, was ich meinte. "Ich dir helfen soll suchen?", fragte er mich anschließend. Natürlich war ich ihm sehr dankbar dafür und nahm es an. Als erstes erzählte ich ihm ziemlich alles über Sarah. Zum Beispiel, dass ich sie schon seit dem Kindergarten kenne, sie meine beste Freundin ist und wie sie aussieht. Ich erzählte ihm sogar von dieser Frau. "Und dann war sie plötzlich verschwunden", beendete ich die ganze Geschichte. Ich merkte, wie plötzlich Tränen in meine Augen schossen. Ich war mehr wütend als traurig oder verzweifelt. Weshalb habe ich nicht gut genug aufgepasst? Hoffentlich ist ihr nichts passiert, ich würde mich für den Rest meines Lebens nicht mehr anschauen können. "Nicht weinen! Darfst nicht weinen! Mädchen bald wieder hier!", versuchte der Junge mich zu trösten. Ich musste lächeln. Ich fand den Jungen toll. Er schien sich durch nichts aus der Ruhe bringen zu lassen. Und obwohl ich ihn kaum kannte, mochte ich ihn sehr.

Wir schauten wirklich auf allen Gleisen und in allen Läden nach. Aber nirgendwo konnten wir Sarah entdecken. Je mehr Zeit verging, desto wütender wurde ich. Ich konnte den Gedanken, dass ich sie nicht beschützen konnte, nicht ertragen. Von zu Hause abhauen würde sie nie. Jedenfalls nicht freiwillig. Sie hat immer von ihrer Familie geschwärmt. Und ich weiß, dass ihre Familie wirklich toll ist. Aber was ist mit dieser verrückten Frau? Was ist, wenn diese Frau ihr etwas angetan hat? Mit schlechtem Gewissen überlegte ich weiter, wo sie noch sein könnte. Verschwunden, irgendwo auf dem Weg vom Bäcker und bis zum Jungen. Und wenn sie nicht an den Gleisen oder in den Geschäften war, dann gab es ja eigentlich nur noch eine Möglichkeit: die Wiese!

"Sie könnte auf der Wiese sein", erklärte ich dem Jungen. "Wir nachschauen!", kreischte er fast vor Begeisterung. Ich rannte los. Muffin und der Junge folgten mir. Unterwegs flüsterte ich Muffin ins Ohr, er solle Sarah suchen. Er rannte los. Nun rannten der kleine Junge und ich dem Hund hinterher. Muffin rannte über die Sandfläche und verschwand hinter den Hügeln.

Auf der Wiese angekommen, traf mich fast der Schlag. Ich blieb kurz stehen und sah sie auf der Wiese Tee trinkend mit Anette. Langsam lief ich wieder los. Irgendwie machte es mich wütend, Sarah dort ganz entspannt Tee trinken zu sehen. Friedlich saß sie dort und unterhielt sich mit Anette, während ich den ganzen Bahnhof nach ihr absuchte!

Muffin kam als erstes bei ihr an und stupste sie mit seiner Nase. Sie drehte sich um und streichelte ihn, während sie mir zuwinkte. Sogar der Junge kam lange Zeit vor mir an. Ich sah, wie er mit ihr redete und wie sie immer nur nickte.

Ich dagegen gab mir erst keine Mühe schnell zu laufen und schlenderte ganz langsam über die Wiese zu ihr hin. Da hörte sie auf zu reden. Ich steckte meine Hände in die Hosentaschen und senkte meinen Blick.

"Tom! Bist du sauer auf mich?", fragte Sarah. Sollte das etwa ein Witz sein? "Was sollte ich deiner Meinung nach sein?", fragte ich sie. "Es wäre ein Anfang, wenn du mich anschauen könntest", antwortete sie. Ich hob den Blick und sah sie an. Ich starrte sie an. "Besser?", fragte ich sie und starrte sie noch mehr an. Aber sie verdrehte bloß die Augen und redete weiter: "Anette wollte mit mir reden. Wegen der Sache mit dem Streit. Das hatte ich dir doch gesagt, bevor wir losgegangen sind."

Ich wollte zwar, aber konnte ich mich nicht daran erinnern.

"Hey, warum bist du so wütend? Mohamed hat erzählt, du wärst, seist richtig verzweifelt gewesen? Es tut mir ehrlich leid. Wahrscheinlich warst du so in deinem Gespräch mit Mohamed vertieft, dass du mich gar nicht gehört hast. Naja, weißt du, ich hätte auf eine Antwort von dir warten sollen!"

Ich musste einen kurzen Augenblick nachdenken, mit Mohamed konnte sie eigentlich nur den kleinen arabischen Jungen meinen.

"Ach, schon gut! Ich bin froh, dass ich dich gefunden habe. Tut mir leid", sagte ich und umarmte sie. Dann mussten wir beide lachen.

Es gibt Tage wie diese, an denen aus einem kleinen Missverständnis ein großes wird. Aber so etwas ist das, was unsere Freundschaft täglich auf die Mutprobe stellt. Und ohne solche Missverständnisse wäre unsere Freundschaft bestimmt nicht das, was sie heute ist!

Und falls ihr euch fragt, was mit Mohamed passiert ist: Mohameds Eltern waren vor einem Jahr gestorben. Und darum beschloss ich, meine Eltern zu überreden, ihn bei uns aufzunehmen. Nicht nur meine Eltern, sondern sogar sämtliche Ämter waren am Ende damit einverstanden, was das ganze erst ermöglichte. Er und Sarah verstanden sich vom ersten Augenblick an genauso gut, wie ich mich mit beiden. Seither sind wir drei unzertrennlich!

Reimund Maria Spitzer - Es wird dunkel

 

Reimund Maria Spitzer
Es wird dunkel

 

Es wird dunkel, sogar die dunkle Revaler Straße wird noch dunkler, funzlige alte Ostlampen aus grobem Beton und mit runden Dächern stehen in der Querstraße, wo früher mal eine Schule war, die lange leer stand, umzäunt und mit eingeschlagenen Fenstern, spitz in die leeren Höhlen ragend das zerbrochene Glas. Wurzeln haben den Gehweg gesprengt, zwischen Wasser und Schlamm parken langweilige Autos und neben mir stehen übrig gebliebene besprühte Mauern, dass sie aussehen wie Bilder und man die Tore nicht mehr sieht, da glänzt es silbern und grün. Füße aus Beton für die lila Leitung, die das Grundwasser aus der Baustelle holt, die neben dem Haus gewachsen ist, das immer allein dastand wie ein Außenposten, jetzt kriegt es Gesellschaft und ein Gebirge aus weißsteinigen Mauern erhebt sich jetzt da hinter einem gelben Zaun und ein Kran hat seinen Arm über die Straße gehoben. Eine Matratze lehnt an der Wand und fällt gar nicht auf zwischen zerrissenen Plakaten, dann beginnt das Gestrüpp der Brachen.

Eingesunkene Bordsteine mit Resten von Farbe, der Wind weht in die Büsche und das Rauschen flüstert mir entgegen auf dem körnigen Weg, der die Schritte knirschen lässt, und ein kleiner Hund kommt mir entgegen ohne mich zu beachten, mit wackligen kurzen Beinen. Langsam wird es Nacht.

Autos fahren weiter in die neue Sackgasse und müssen da wenden in der sich ausbreitenden Dunkelheit und umkehren, ich sehe die verärgerten Gesichter der Fahrer und das Angestrengte ihres Ausdrucks hinter den tropfenbedeckten Scheiben. Hoch gewachsen die Bäume links, sind das Pappeln? Niemand hat sie ausgesät, sie wuchsen in einer vergessenen Ecke, unbeachtet, Schatten spendend, rauschend im Wind, den seltenen Vorübergehenden eine Freude, den wenigen Aufmerksamen davon, den taumelnden Verträumten.

Unsichtbar geworden sind die großen Vögel am Himmel, segelnde schwarze Umrisse, Zeichen des nahenden Herbstes, da wird es noch mehr regnen, hoffentlich.

Eine Bahn fährt an mir vorbei, ich sehe den aufrecht an mir vorbeiziehenden Gestalten ins Gesicht und muss niesen. Ein Rest von dem Blau des Abends ist noch da, ein kleiner Rastapunk stößt mir gegen's Auto, weil ich ihm den Weg versperre und sagt: "Fahr doch weiter, ey." Und vor mir die Straße runter ist alles voller Bars, die auf den ersten Blick alle gleich aussehen, "Cocktails 3,50 auch to go" steht da, und ein paar Leute sitzen an den neuen Holztischen, die unter Markisen stehen, und reden miteinander.

Ein Eingang wie zu einem Arbeitslager, hab ich früher immer gedacht, ein Eingang, ein Tor ohne Türen zu einem finsteren Hohlweg aus Ziegeln und Eisen und oben drüber das grüne runde Schild mit dem weißen 'S', das eine lange vergangene Epoche atmet, wie der Eingang zu einem Zeittunnel, die Mauern geschwärzt wie von Ruß aus den Tagen der brennenden schwarzen Kohle und da sind noch mehr und tiefe Pfützen auf dem Weg, zerfranst wie ein alter Teppich, und oben auf der querenden Hochtrasse der Ringbahn die Aussicht auf rote Lichter, da sind graue Schlote, die man kaum noch sieht, und die Morgensonne, wenn es hell wird, wenn alles zwischen orange und rosa flimmert, im Winter werde ich dort wieder stehen, wenn weißer Qualm wie aus Eis aus den Schloten steigen und alles klar und gefroren aussehen wird und wie ganz weit weg.

Das Fleisch meines Döners ist vertrocknet, ich werfe die leere Silberfolie in eine der kleinen runden Tonnen. Die ankommende Bahn spuckt Menschen aus, die zu den Treppen eilen, ich warte, bis sie sich verzogen haben, dann gehe ich hinterher. Auf der anderen Seite ist die Straße schon fertig und zwischen den schwarzen Mauern liegt der viele Sand, auf dem die ganze Stadt steht, offen herum und in den Ritzen und Rissen des Baustellenasphalts und die Autos geben Gas, bevor die Strecke wieder uneben wird, und ich gehe über den Zebrastreifen und weiter durch die Dunkelheit, durch die das Scheinwerferlicht flattert, und bilde mir schon ein, dass ich das unweite Wasser der Bucht riechen kann. Da drehe ich mich um und sehe vor mir den schwarzen Turm mit der zwiebelförmigen Spitze, der dasteht wie ein Wächter, wie ein Relikt und mein Handy klingelt, hinein in die Stille und ich gehe ran und weiter, bis zum Ufer.

Ulrike Neuß - Transit

 

Ulrike Neuß
Transit

 

Er rüstete sich für den großen Spurt: Noch während der S-Bahn-Zug den Bahnhof Treptower Park verließ, stand er auf und stellte sich mit seiner prall gepackten Tasche direkt vor die Tür. So würde er einer der ersten auf dem Ringbahnsteig sein und hätte einen Vorsprung gegenüber den anderen. Schließlich musste er auf dem unteren Bahnsteig seine Bahn erreichen und wie immer würde ihm auf der Treppe eine Menschenmenge entgegen wimmeln, die sich nach oben kämpfte und ihm dadurch den Weg versperrte. Höchste Alarmbereitschaft war also angesagt. Dennoch gönnte er sich für einen Moment einen Blick auf die junge Frau, die rechts neben ihm an die Plexiglaswand gelehnt stand. Sie starrte ziemlich gelangweilt durch die zerkratzte Fensterscheibe auf den vorbei ziehenden Fluss, aber – ihm stockte der Atem — was für grüne Augen! Und so dichte Wimpern! Auch ihre sehr vollen Lippen nahm er wahr, aber Martin zwang seinen Blick wieder geradeaus; der Zug fuhr gerade in den nächsten Bahnhof ein, da musste er sich konzentrieren.

Die Bahn bremste ab und hielt, Martin drückte den leuchtenden Türknopf, stürzte hinaus und eilte mit langen Schritten Richtung Treppe. Gerannt war er auf dem Bahnsteig noch nie —oder ganz selten —, irgendwie fand er das würdelos. Die Treppe: Jetzt kam es drauf an! Er kämpfte sich schnell Stufe um Stufe hinunter, drängte einen tätowierten Oberarm beiseite, zwängte sich zwischen zwei fülligen Frauenkörpern hindurch, wich einem Fahrrad aus, das von einem dunkelhaarigen Mann hochgewuchtet wurde, dabei bekam er die Schultertasche eines Mädchens vor die Brust gedrückt. Er sah starr geradeaus, um zu signalisieren: "Ich habe ein Ziel anvisiert! Und ich weiche nicht aus!" Fast hatte er es geschafft, er war schon beinahe unten, als er sah, dass seine Bahn die Türen noch geöffnet hatte, aber die roten Lampen blinkten bereits, nun rannte er doch und die Türen schoben sich zu. "Shit!", entfuhr es ihm. Heute hatte er den Kampf also verloren. "Scheiße!", sagte er noch einmal, diesmal schon etwas leiser.

Es war beileibe nicht das erste Mal, dass er die Bahn verpasst hatte. Die Umsteigezeit war äußerst knapp bemessen, oft klappte es, häufig aber auch nicht. Martin atmete tief durch, vermutlich das erste Mal an diesem Morgen. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, verspürte er gerade sogar ein klein wenig Erleichterung, noch auf dem Bahnhof zu stehen. Zwar würde er sich nun in der Schule stärker beeilen müssen: Er musste sofort zum Kopierer hetzen und sich von dort aus ohne Umwege ins Klassenzimmer begeben. Aber auf diese Weise hatte er jetzt, in diesem Augenblick, endlich einmal eine kurze Verschnaufpause.

Zunächst überlegte er kurz, ob er heute wirklich an alles gedacht hatte: Die korrigierten Klassenarbeiten der Zehner? Ja, hatte er dabei – alles andere wäre auch undenkbar gewesen bei den ständig rummaulenden Zehntklässlern. Das grüne Buch mit den Übungsaufgaben, das er als Kopiervorlage brauchte, roter Hefter, gelber Hefter, der Rohentwurf für den nächsten Unterrichtsbesuch, den seine Mentorin heute sehen wollte, blaue Mappe, Schreibzeug mitsamt Folienstiften, leere Folien, das Kartenspiel für die Gruppeneinteilung — halt: hatte er es wirklich? M. wühlte hektisch in seiner Tasche, bis seine Finger die glatten Kartenoberflächen ertastet hatten. Gut. Alles da. Er blickte um sich. Der nächste Zug kam in acht Minuten, Zeit genug also, um zum Croissantstand zu gehen.

Mit seinem randvollen Kaffeebecher und einem Buttercroissant in einer knisternden Papiertüte ging er zu einem der kleinen Tischchen, stellte den Kaffeebecher auf die grau melierte Kunststoffoberfläche und legte die schwere Tasche neben sich. Genüsslich biss er in sein Blätterteighörnchen und trank einen Schluck Kaffee. Er sah sich um. Eigentlich war es doch ganz interessant hier am Bahnhof Ostkreuz. Am Nebentisch trank eine kleine Gruppe müder Bauarbeiter Kaffee, ein kleiner Junge rannte einer Taube hinterher, bis ihn seine Mutter, entnervt "Kevin! Kommst du jetzt!" rufend, wegzerrte, zwei japanische Touristinnen standen verwirrt herum, schoben ihre Sonnenbrillen in die Stirn, setzten sich dann aber plötzlich zielstrebig in Bewegung. Das Klackern ihrer Rollkoffer auf den Pflastersteinen mischte sich mit einzelnen Gesprächsfetzen und dem Gurren der herumstolzierenden Tauben, als plötzlich mit leisem Rattern und anschwellendem Dröhnen ein Zug einfuhr. Martins Blick wanderte über die angerosteten Stützpfeiler nach oben,wo abenteuerlich zusammengeschnürte Kabel unter dem mit abblätternder hellbrauner Farbe gestrichenen Holzdach befestigt waren. Von hier aus konnte man auch das halb zerfallene, große Gebäude vor dem Bahnhof sehr gut sehen. Wieso um alles in der Welt ließ man so ein tolles Haus einfach vor sich hin modern? Was könnte man nicht alles daraus machen! Er würde ja für eine große Kneipe mit Biergarten plädieren. Er konnte sie schon vor sich sehen: Grüngestrichene Holzbänke und -tische im Garten, rote Sonnenschirme, die ockerfarbenen Hauswände bewachsen mit blühenden hellroten Kletterrosen, an den Tischen eine Menge Leute, die hier aßen und sich dabei entspannt unterhielten. Er sah sich selbst nach der Arbeit in der Schule hier einkehren, vor sich eine Bratwurst mit Senf, vielleicht ja auch ein bisschen Kartoffelsalat! Der Laden würde laufen, dessen war er sich sicher, der Ort war ja geradezu ideal. Sicher wäre es auch eine gute Location für einen Club: OSTZONE stünde in großen, roten, leuchtenden Lettern auf dem Dach. Oder war TRANSIT als Name besser? Im Garten jedenfalls die Chilloutzone, Liegestühle, Lampions, eine kleine aus Holz gezimmerte Bar, er selbst, zwei Drinks balancierend… Es wäre perfekt. Und keiner würde sich durch die Musik gestört fühlen – na gut, oder fast keiner, räumte er ein, als sein Blick auf einige Wohnhäuser gegenüber fiel. Auch die Verkehrsanbindung könnte besser nicht sein. Mein Gott, wieso war denn noch nie jemand auf diese geniale Idee gekommen? Ob Biergarten oder Club, vor der endgültigen Fertigstellung würde er das Haus selbstverständlich der jungen Kunstszene des Kiezes zur Zwischennutzung überlassen. Er sah sich bereits mit einem Rotweinglas in der Hand an den verschiedenen Ateliers vorbeilaufen, eine junge brünette Fotografin lächelte ihm vielversprechend zu. "Einsteigen bitte! — Zurückbleiben bitte!"

Er zuckte zusammen: seine S-Bahn!!!!! Die roten Lichter oben an den Türen blinkten unerbittlich und grell in seine Richtung; hilflos versuchte er, seine Sachen zusammenzupacken, um Richtung Zug zu stürzen, aber bevor er noch seine Tasche über die Schulter werfen konnte, rumsten auch schon die Türen zusammen. "Verdammt!", rief er so laut, dass ein älterer Mann am Nachbartisch zusammenzuckte und sich einige Leute belustigt nach ihm umdrehten. Ja, verdammte Scheiße, dachte er. Jetzt wird’s wirklich knapp. Er ärgerte sich über sich selbst. Wie hatte das nur passieren können? Seinem Gefühl nach waren höchstens drei Minuten verstrichen, nicht acht. "Egal", dachte er. "Es wird halt knapp, aber zu spät komme ich nicht. Wenn ich ganz schnell laufe und vielleicht nicht mehr kopiere, sondern das während einer Stillarbeitsphase in der Stunde erledige…" Ja, es würde noch reichen. Dem Direktor sollte er vielleicht nicht gerade über den Weg laufen, denn der sah es nicht gerne, wenn man auf den letzten Drücker ins Klassenzimmer hechtete. Na ja, würde schon schief gehen.

Jedenfalls musste er sich nun noch weitere zehn Minuten auf dem Bahnhof vertreiben. Wenigstens konnte er auf diese Weise noch seinen Kaffee austrinken. Und nun? Martin beschloss ohne lange zu zögern: Ein zweiter Kaffee konnte nach diesem Schreck nicht schaden, ebenso wenig ein Schokocroissant. Martin ging, mit seinem dritten Frühstück in der Hand, zurück zum Tischchen. Der Kaffee war stark und heiß und tat ihm gut. Er beschloss, sich nicht verrückt zu machen. Eine S-Bahn zu verpassen war ja nichts Ungewöhnliches. Ganz so entspannt wie vorher war er allerdings nun nicht mehr. In wenigen Minuten hieß es aufpassen wie ein Luchs! Er stellte zur Sicherheit seinen Handywecker auf eine Minute vor der Abfahrt, damit ihm diesmal der Zug nicht entwischte. Auch verbot er sich jegliche Gedankenspielereien zum Gebäude neben dem Bahnhofsgelände und sah sich stattdessen weiter auf dem Bahnsteig um. Insbesondere fiel ihm ein kleiner Blumenladen mit dem erstaunlichen Namen Blumen für 'Sie' auf. Martin sinnierte kurz darüber, was an dieser "Sie" so sonderbar sein mochte, dass man sie in Anführungszeichen gesetzt hatte. Oder wollte der Ladenbesitzer seine Kundschaft direkt ansprechen? Auch dann äußerst merkwürdig.

Plötzliches Knistern und Räuspern im Lautsprecher. "Der Zug nach Ahrensfelde wird ca. sieben Minuten später eintreffen." Martin war geschockt. Das war ja wohl nicht möglich! Jetzt wurde es aber wirklich, wirklich knapp. Sein Atem ging schneller und er rechnete nach, ob er nun überhaupt noch pünktlich sein konnte: Wohl eher nicht. Sein Magen zog sich zusammen. Das durfte einem Lehrer nicht passieren! Und schon gar nicht einem Referendar, der bald seine Examensprüfung ablegen würde! Instinktiv kippte er den Rest Kaffee in sich hinein, die Überbleibsel des Schokocroissants fegte er ärgerlich vom Tisch. Ein paar Spatzen hüpften sofort herbei und machten sich darüber her. Martin fluchte innerlich. Mit so einer Störung konnte man aber auch nicht rechnen! Unter normalen Umständen wäre es überhaupt kein Problem gewesen, den vorherigen Zug zu verpassen. Aber wenn man sich auf die S-Bahn nicht verlassen konnte, dann war einem ja der banalste Fauxpas nicht mehr erlaubt! Dann konnte man nicht mal mehr an einem S-Bahnhof kurz seinen eigenen Gedanken nachhängen und dabei kreative Ideen entwickeln — immerzu musste man nur funktionieren wie ein Uhrwerk. Wie er das satt hatte! Wütend und verzweifelt zugleich sah er auf die schwarze, gleichmütig Ahrensfelde anzeigende Tafel am Bahnsteig. Sein Handywecker klingelte, genervt drückte er ihn aus. Noch sieben Minuten. Tja, was tun jetzt? Wohl oder übel würde er nun im Sekretariat anrufen müssen um anzukündigen, dass er sich heute verspäten werde. Als Grund würde er natürlich "Probleme im S-Bahn-Verkehr" angeben und lieber nicht weiter ins Detail gehen.

Er war schon im Begriff, die Schulnummer zu wählen, als er plötzlich innehielt. Was, wenn sich der Direktor — der ihn mit beurteilen würde bei der Examensprüfung — im Sekretariat aufhielt, während er anrief? Er sah die Szene schon vor sich: Die Sekretärin würde nett lächeln, während sie sagen würde: "Ja, ist gut, Herr Roos. Na ja, halb so wild, das passiert schon einmal. Ich werde der Klasse ausrichten, dass Sie sich heute ein wenig verspäten." Der Direktor, im Stehen eine Notiz lesend, würde sich leicht stirnrunzelnd und mit hochgezogenen Augenbrauen zur Sekretärin mit dem Telefonhörer in der Hand umdrehen. Er würde denken: "Soso, der Herr Roos hat es heute nicht pünktlich geschafft. Soso." Und im Geiste eine negative Notiz anfertigen zum Referendar Martin Roos. Nein, Anrufen war keine so gute Idee, nicht so kurz vor dem Examen. Er beschloss daher, sein Zuspätkommen gar nicht zu melden, zumindest nicht jetzt. Entweder er hatte Glück und konnte sich in die Klasse schleichen, ohne dass irgendeine bei der Prüfung relevante Person dies bemerkte, oder eben nicht, aber dann konnte er sich immer noch mit der S-Bahn entschuldigen und behaupten, er habe heute sein Handy leider zu Hause gelassen. Kurz überlegte er, ob er es wohl wagen konnte, seine Jacke vorher im Lehrerzimmer abzulegen. Aber nein, schlechte Idee, schalt er sich, denn dort saß ja möglicherweise einer der Lehrer mit direktem Draht zum Chef oder seine Mentorin. Er musste sich nur einen Moment lang vorstellen, wie sie ihn anschauen würden, wenn er das Lehrerzimmer kurz nach acht beträte, und es schauderte ihn. Nein, keinesfalls würde er dort vorher hingehen! Und überhaupt: Ein Anruf im Schulsekretariat wegen sieben Minuten? Was waren schon sieben Minuten? Eine Banalität, beruhigte er sich selbst, eine Nichtigkeit. Es stand auch nicht zu befürchten, dass die Schüler sein Nichterscheinen im Sekretariat melden würden; üblicherweise, das wusste Martin, warteten sie damit mindestens zehn bis fünfzehn Minuten.

Ein klein wenig gelassener sah er auf die Uhr am Bahnsteig. Noch eine Minute. Er warf Kaffeebecher und Croissanttüte in einen Mülleimer, griff nach seiner Tasche und ging zum Bahnsteigrand. Die Anzeigetafel meldete: "Strausberg Nord". Strausberg Nord? Strausberg?? Nord??? Etwas in seinem Gehirn rannte Amok. Das war einfach nicht möglich. Wo war sein Zug? Wo war er? Man konnte ihm doch nicht schon wieder seinen Zug nehmen! Erstarrt und fassungslos lief er zum Aufsichtshäuschen und hämmerte dort dreimal fest an die metallene Tür. Nichts regte sich. Er klopfte noch einmal, er hämmerte mit geballten Fäusten an das dunkle Metall, bis schließlich eine verärgerte Aufsichtsbeamtin ihren Kopf aus der Tür steckte und ihn anblaffte: "Sag'n Se ma, allet in Ordnung bei Ihnen? Wat soll dit Jebollere? Wir ham ooch noch andre Sachen zu tun, als alle fünf Minuten Fahrberater zu spielen. Wat woll'n Se?" Martin war außer sich. Er stammelte: "Die Bahn nach Strausberg — das ist nicht richtig – da soll doch jetzt eigentlich die S 7 … ich versteh’s nicht! Ich muss…" – "Na, die S 7 ist ehmd grade abjefahr'n, junger Mann. Nächste kommt in ca. zehn Minuten, ist leider auch etwas zu spät." – "Nein, das kann nicht sein! Die S 7 sollte jetzt kommen, in diesem Moment! Die hatte sieben Minuten Verspätung, ham Sie selbst durchgesagt, und jetzt ist es 7. 41 Uhr, also sollte sie genau jetzt…" "Sollte sie vielleicht", schnitt ihm die Frau brüsk das Wort ab, "isse aber nicht. Die hatte ebend doch nur drei Minuten Verspätung. Sein Se doch froh. Deswegen machen wir ja nur Circaangaben bei unseren Durchsagen." Sie verschwand wieder hinter der Eisentür.

Martin war außer sich vor Wut. Seine Lippen zitterten und er war für ein paar Momente außerstande, einen klaren Gedanken zu fassen. Das KONNTE einfach nicht sein! Konnte nicht! Die Züge fuhren, wie sie wollten, sie fuhren an ihm vorbei und er hatte keine Chance einzusteigen — warum auch immer. Er hatte größte Lust, gegen die Metalltür zu treten, seine Schultasche auf die Gleise zu schleudern, die stoische Bahnbeamtin zu schütteln… Es war zum Schreien. Es war grotesk. Er ging auf und ab auf dem Bahnsteig wie ein gehetztes Tier, warf keinen Blick mehr auf die anderen Wartenden oder einen der Verkaufsstände. Und definitiv würde er nun um einiges zu spät in der Schule sein. So viel war klar. Er hasste die Situation schon jetzt, die Hektik beim Aussteigen, atemloses hastiges Kopieren, die menschenleeren Gänge im Schulhaus, die Klasse mit feixenden, fragenden Blicken. Anrufen? Musste er nun wohl. Bei dem Gedanken daran fühlte er eine Welle leichter Übelkeit in sich hochsteigen.

Er lief fast ganz bis zum Ende des Bahnsteigs, da hin, wo das Dach keinen Schutz mehr bot. Es war deutlich leiser hier. Zwei Tauben sonnten sich und pickten ziellos hier und da ein Körnchen auf. Eine Treppe führte empor zu einem anderen Bahnsteig. Man konnte sehen, dass er relativ selten benutzt wurde, schon vor dem Treppenaufgang spross überall Unkraut und saftiges Gras aus den Fugen der Pflastersteine. Martin verspürte den Impuls, die Treppe hochzugehen und sich den Bahnsteig näher anzuschauen. Sich dort auf das Gras zu setzen. Und nichts weiter.

Er wandte sich um und sah den anderen, weit von ihm entfernt stehenden Passagieren eine Weile zu. Mechanisch nahm er sein Handy aus der Jackentasche heraus, wählte die Nummer des Sekretariats und teilte mit belegter Stimme mit, dass er wegen Problemen im S-Bahn-Verkehr leider erst ein paar Minuten nach acht da sein werde. Die Sekretärin reagierte gelassen und freundlich; ja natürlich, sie würde die Klasse informieren und sie wünsche eine gute Fahrt.

Mit steinerner Miene ging Martin zurück und mischte sich wieder unter die anderen Wartenden. Ein Zug fuhr ein, aber es war nur der nach Wartenberg. Okay. Der nächste würde der nach Ahrensfelde sein, sein Zug also. Verächtlich spuckte er auf den Bahnsteig. Dieser Zug würde ja nun wohl hoffentlich tatsächlich in zehn Minuten kommen. Der Gedanke, dass dies nicht der Fall sein könnte, ließ sofort wieder leise Wut in ihm aufsteigen, sodass er sich augenblicklich verbot, länger darüber nachzudenken. Mit anschwellendem Lärm verließ der Zug nach Wartenberg den Bahnhof. Ja, er würde jetzt einfach so lange am Bahnsteigrand verharren, bis sein beschissener Zug da sein würde, bis sich die Türen auseinander schieben würden und er einsteigen konnte. Neben ihm standen zwei Frauen, rauchend und gelangweilt auf die Gleise blickend. "Zug nach Ahrensfelde", sagte eine harsche Frauen-Lautsprecherstimme. In der Tat, man konnte von weitem die beiden Scheinwerfer und die Fahrerkabine der Bahn erkennen. Starren Blickes sah Martin ihr entgegen. Der Zug rollte näher, fuhr in den Bahnhof ein, bremste allmählich ab und kam zum Stehen. Die Türen öffneten sich fast direkt vor ihm, eine kleine Menschentraube drängte nach draußen.

Martin wartete, bis der Eingang frei war und stieg ein. Fast wie sonst auch. Er suchte sich einen Platz am Fenster und starrte nach draußen, als der Zug wieder aus dem Bahnhof fuhr. Sie hatten schon an ein paar Stationen gehalten, als Martin plötzlich unmerklich den Kopf schüttelte. Nein, dachte er. Unmöglich. Dafür war es jetzt zu spät. Beim Einsteigen hätte er die Uhr gern noch zurückdrehen wollen, um das Erlebte ungeschehen zu machen; jetzt aber fand er diese Vorstellung absurd. Er griff nach seiner Tasche, stand auf und stieg am nächsten Bahnhof aus, ohne zu wissen, wo er eigentlich war und was er an diesem Tag noch tun würde.

Birgit Wilms - Das Mädchen mit den traurigen Augen

 

Birgit Wilms
Das Mädchen mit den traurigen Augen

 

Lärm drang an seine Ohren. Er versuchte die Augen zu öffnen, doch es wollte ihm nicht gelingen. Schmerz war alles, was er momentan wahrnehmen konnte. Seine Augenlider schienen verklebt und so gelang es ihm erst nach einigen Versuchen, sie doch ein wenig zu öffnen. Der Lärm kam näher und wirkte bedrohlich. Wo war er, was ist passiert, warum konnte er sich nicht bewegen? In seinem Gehirn schossen Fragen wie Blitze hin und her, die er sich weder beantworten konnte noch wollte. Der Schmerz nahm ihn so gefangen, dass er nicht in der Lage war, nur einen klaren Gedanken zu fassen. Unter einem völlig verzerrten Grauschleier versuchte er nun zu erkennen, woher dieser unaufhaltsame Lärm kam. Eine riesige Planiermaschine bahnte sich ihren Weg durch eine aufgewühlte Landschaft voller Sand. Wie eine Riesenschildkröte dick bepanzert, kroch sie näher und näher. Angst kam in ihm hoch. In diesem Moment zuckte sein Körper erschrocken zusammen, etwas hatte ihn berührt und den Schmerz kurzzeitig fokussiert. Aufgeregt suchten seine Augen nach dem Eindringling. Da sah er in ihre Augen. Es waren die traurigsten Augen, in die er je geschaut hatte. Niemals zuvor hatte er solch tieftraurige Augen gesehen. Das Mädchen bewegte die Lippen und sprach zu ihm, doch der Lärm der Baummaschine saugte ihre Worte in sich auf, noch bevor sie sein Ohr erreichen konnten. Sie schien aufgeregt, fuchtelte angestrengt mit den Armen, so dass der Bauarbeiter sein Gefährt noch rechtzeitig zum Stehen brachte, und nun telefonierte sie. Sie war so jung, ihre Haut strahlte. Sie war nicht sehr groß und sehr zierlich und hatte dadurch etwas Mädchenhaftes und doch wirkte sie auf eine geheimnisvolle Art und Weise sehr reif. Ihre Kleider waren schlicht und betonten ihre schöne Figur nicht wirklich. Eher machte sie sich damit unsichtbar. In einer Stadt wie Berlin ging sie einfach unter in der grauen Masse, ohne jegliche Aufmerksamkeit. Hier machte sich niemand die Mühe ihr in die Augen zu schauen, in denen ihre Tiefe und Besonderheit zu sehen gewesen wären.

Das Mädchen zitterte vor Aufregung, denn der Mann zu ihren Füßen sah schrecklich aus. Platzwunden waren sowohl im Gesicht als auch auf dem Körper verteilt.

Die Gliedmaßen lagen nicht wirklich in einer gesunden Position und das getrocknete Blut überall ließ die Verletzungen sehr bedrohlich erscheinen. Die Kleidung war sichtlich mitgenommen, obgleich sie wohl auch vor dem Unglück in keinem guten Zustand war. Was war diesem Mann bloß passiert? Wieso hatte ihre innere Stimme sie an diesen Platz hier geführt?

Während sie telefonierte, legte sie eine Hand auf seinen Körper, wahrscheinlich wollte sie so den Kontakt halten aus Angst, sie könnte ihn verlieren bevor Hilfe kam. Ein warmer Strahl durchdrang ihn an dieser Stelle und er hatte das Gefühl, dass der Schmerz ihrer Hand wich und ihn losließ. Dann überkam ihn die Ohnmacht erneut.

Weiß, nichts als Weiß um ihn herum. War er jetzt gestorben? Sieht so der Himmel aus? Wird er nun Gott gegenüber treten? Was soll er nur sagen, er weiß doch nicht mal mehr, wer er war. So wie das viele Weiß um ihn herum war seine Erinnerung ein einziges weißes Blatt Papier mit nur einem Bild darauf, das Mädchen mit den traurigen Augen.

Stimmen drangen an sein Ohr: "Eine junge Krankenschwester hat ihn am Ostkreuz gefunden. Er hatte mehrere Knochenbrüche und Prellungen. Keiner hat etwas gesehen, keiner weiß etwas über ihn. Er hatte keine Papiere dabei, nur abgenutzte Kleidung am Leib, nichts Persönliches, kein Bild, kein Schlüsselbund, Nichts. Er ist zwischen 40 und 50 Jahre alt und es gibt keine Vermisstenanzeige bei der Polizei." Die Stimme der Schwester wurde immer lauter und aufgeregter, während sie dem Oberarzt diese Informationen mitteilte.

Meinten sie etwa ihn damit? Wussten sie also auch nicht, wer er war und was passiert war? Er fühlte sich mit einem Mal sehr einsam und hilflos. Sollte es auf dieser Welt niemanden geben, der ihn vermisste?

Er schaute sich um, überall hingen Schläuche an ihm herum. Schmerzen nahm er keine mehr wahr, allerdings spürte er seinen ganzen Körper nicht mehr.

Schritte, sie kamen näher und plötzlich stand eine Heerschar von Ärzten nebst Schwesterngefolge um ihn herum. Er kam sich vor wie ein neugeborenes Wildtier im Zoo, das nun von allen zuerst bestaunt werden möchte.

Der Oberarzt stellte sich kurz vor und mit einer tiefen warmen Stimme erklärte er ihm, warum er hier war: "Sie wurden stark verletzt aufgefunden. Wir mussten Sie sofort operieren. Es liegen einige Knochenbrüche vor sowie Prellungen und diverse Platzwunden. Wir mussten auch einen leichten Riss in Ihrer Milz behandeln. Sie sind jetzt soweit stabilisiert und Sie werden auch wieder ganz gesund werden. Können Sie uns denn irgendwelche Angaben zu Ihrer Person und den Geschehnissen in der letzten Nacht machen?"

Er wollte antworten, doch seine Lippen und seine Zunge gehorchten ihm nicht, so verneinte er mit einer vorsichtigen Kopfdrehung. "Gut", sagte der Arzt, "ruhen Sie sich jetzt aus, werden Sie gesund, alles andere wird sich finden". Er verließ den Raum genauso schnell wie er ihn betreten hatte und mit ihm sein Gefolge aus Assistenzärzten und neugierigen Schwestern.

Eine Wolke wohliger Müdigkeit umgab ihn und er wehrte sich nicht. Er sank einfach friedlich in die Träume, die ihm die Erschöpfung durch die OP schenkte.

Ein sanftes Streicheln auf seinem Arm ließ ihn wach werden. Er öffnete verschlafen die Augen und da waren sie wieder, die traurigsten Augen dieser Welt. Wie kam sie hier her, wie hatte sie mich finden können? Als er näher hinsah, bemerkte er ihren Schwesternkittel, auf dem befand sich auch ein Namensschild, "Anne". "Was für ein schöner und passender Name", dachte er.

Anne hatte ihre Hand auf eine seiner Platzwunden am linken Ellenbogen gelegt. Wie beim ersten Mal nahm er einen Strahl an Wärme wahr und der Schmerz, der zuerst kurz anschwoll, war mit einem Mal verschwunden. Obwohl er dieses Mädchen nicht kannte, fühlte er sich wohl in ihrer Nähe und sie war momentan die Einzige, die ihm ein wenig Geborgenheit und Sicherheit schenken konnte.

Es dauerte nicht lange, da war er wieder eingeschlafen. Das Mädchen erhob sich still und leise. Auf dem Heimweg konnte sie nicht anders und musste an die Stelle zurückkehren, an der sie den verletzten Mann gefunden hatte. Sie ging hoch auf die Fußgängerbrücke und schaute auf den Schauplatz hinab.

Bauzäune wohin das Auge sah, Bagger und Bauarbeiter tummelten sich wie Bienen in einem Bienenstock auf der riesigen Baustelle des Ostkreuzes. Mit einem Mal erblickte sie den riesigen Kran, der über ihr in den Himmel rankte. Sollte er etwa von dort oben...? Nein, das kann nicht sein, das hätte er nicht überlebt, dachte sie. Aber was sollte ihm sonst passiert sein. Die vielen Brüche und Platzwunden deuteten schon darauf hin, dass er von irgendwo hinab gefallen war. Dieser Mann ließ ihr keine Ruhe. Warum konnte er sich an nichts erinnern und warum vermisste ihn nur niemand? Sie tat in dieser Nacht kaum ein Auge zu, die Ereignisse des Tages hallten zu sehr in ihr nach.

Am Morgen ging sie als erstes zu dem geheimnisvollen Mann, der lächelte als er sie kommen sah. Er hob ihr den linken Ellenbogen entgegen und strahlte.

Sie sah, dass ihre Hände gute Arbeit geleistet hatten, die Wunde war sehr gut verheilt. Niemand hier wusste, dass sie diese Fähigkeiten besaß. Sie selbst hatte es auch erst bei der Pflege ihrer Eltern, die beide an Krebs erkrankt waren, bemerkt. Eines Tages, als sie ihre Mutter gerade wusch, durchfuhr sie ein warmer Strahl, den auch ihre Mutter spüren konnte und der sie erschrecken ließ im ersten Moment.

Die Mutter spürte plötzlich an dieser Stelle keinen Schmerz mehr und von da an verschaffte das Mädchen ihr jeden Tag Schmerzlinderung mit ihren Händen. Diese Gabe konnte jedoch nicht sowohl die Mutter als auch den Vater vor dem Tod bewahren, die Krankheit war schon zu sehr fortgeschritten. Es war ein furchtbarer Verlust, beide Eltern so kurz hintereinander zu verlieren und hilflos zuschauen zu müssen, wie von ihnen immer weniger übrig blieb. Sie hatte diese schlimme Zeit bis heute nicht verwunden. Sie hatte sich seitdem sehr zurückgezogen und konnte keine Freude mehr empfinden, nicht einmal in der Arbeit, die ihr früher viel Spaß bereitete.

Doch diesem Mann hier würde sie helfen, da war sie sich ganz sicher und sein Lächeln war ihr Dank.

Von nun an kam sie vor jeder Schicht und nach jeder Schicht noch einmal zu ihm. Sie sprachen nicht, jedenfalls tauschten sie keine Worte aus. Es war gar nicht nötig, waren es doch die Blicke in ihre Augen, die alles aussprachen, was sie sich zu sagen hatten. Dieser Fremde öffnete ihr das Herz. Plötzlich konnte sie wieder Farben sehen und ein Gefühl von Freude kehrte in sie zurück.

Ein Gefühl als wäre sie völlig aus der Zeit und dem Raum gefallen.

Die Ärzte staunten jeden Morgen erneut, wie schnell die Heilung der Brüche und Wunden bei ihm voranschritt und konnten sich dieses Wunder nicht wirklich erklären.

Eines Morgens stand die Polizei wieder vor ihrer Tür. Sie befragten sie noch einmal ausführlich zu den Umständen des Auffindens und bei dieser Gelegenheit erfuhr sie auch das furchtbare Schicksal dieses Mannes. Die Polizei hatte ihn anhand von Suchanzeigen mit einem Bild von ihm identifizieren können, da er von Freunden aus dem früheren Umfeld erkannt worden war. Er hatte vor einem Jahr seine Frau und sein Kind bei einem Verkehrsunfall verloren und hatte sich von diesem Verlust nicht erholen können. Er konnte nicht mehr arbeiten gehen und zuletzt war er sogar obdachlos geworden. Die Polizei ging davon aus, dass es sich um einen Suizidversuch handelte und er tatsächlich vom Kran gesprungen war. Er muss mehrere Schutzengel gleichzeitig beschäftigt haben, um das zu überleben.

Der Schock in ihren Gliedern saß tief, als sie davon erfuhr und sie konnte sich nur schwer aus der Erstarrung lösen. Dieses Schicksal schien ihr noch schmerzvoller als ihr eigenes zu sein.

Plötzlich wurde ihr klar, warum gerade sie ihn hatte finden sollen. Wer konnte besser verstehen, wie es sich anfühlt, alles, was einem lieb war im Leben, auf einen Schlag zu verlieren und allein zu bleiben.

Sie hatte bis jetzt nur seine äußeren Wunden heilen dürfen. Sie hoffte von ganzem Herzen, dass auch sie noch die Gelegenheit bekommen würde, ihm das geben zu können, was er ihrer Seele geschenkt hatte.

Kerstin Janke - Entscheidungen

 

Kerstin Janke
Entscheidungen

 

Tim

Er fragte sich, ob er den richtigen Augenblick womöglich verpasst hatte. Der lang ersehnte freie Tag neigte sich unbeeindruckt seinem Ende entgegen, zu schnell waren Minuten zu Stunden geworden. Lena saß ihm gegenüber, glücklich mit diesem Tag genoss sie ihren Milchkaffee, erzählte fröhlich und lachte. Tim wollte so gern über sich reden, über sie beide, ihre Beziehung, ihre Zukunft. Doch eben hatten sich Freunde zu ihnen gesellt und die heitere Runde noch fröhlicher gemacht.

Tim vermochte der belanglosen Nachmittagsunterhaltung nicht mehr zu folgen. Immer schweiften seine Gedanken um die eine Frage: Was würde passieren, wenn er das Job-Angebot in New York annahm? Lena würde enttäuscht sein. Gerade war sie nach Berlin gezogen, wegen ihm, sie hatte sich gerade eingelebt, sie liebte diese Stadt. Was fanden diese Zugezogenen nur immer an dieser Stadt, während viele Berliner lieber heute als morgen wegzögen? Sie hatte gekämpft wie eine Löwin und dann doch ihren Traumjob bekommen. Nein, sie würde das alles hier sicher nicht aufgeben.

Doch würde ihre Liebe eine Trennung mit dieser Entfernung verkraften? Waren nicht manchmal schon kleinere Hindernisse als ein Ozean Problem genug? Wenn er ganz ehrlich war — und es war viel einfacher ganz ehrlich zu sein, wenn man allein seinen Gedanken folgte —, so war er sich nicht einmal ganz sicher, ob er Lena genug liebte oder ob er nicht ja sagen müsste zu Big Apple. Um ein neues Leben anzufangen und alle Unsicherheiten hinter sich zu lassen. Ja, vielleicht sollte er das wirklich tun. Etwas Neues beginnen.

Nachher, wenn er sie zum Ostkreuz begleitete, würde er es ihr sagen.

 

Charlotte

Unterdrückte Tränen erschwerten ihr das Atmen als sie die Praxis verließ. Das hätte nicht passieren dürfen, warum nur war sie nicht vorsichtiger gewesen. Wie ein naiver Teenager hatte sie sich verhalten, eine Party bei Freunden, ein junger gutaussehender Typ. Sie hatte sich in seinem Interesse gesonnt, Öl fürs Selbstbewusstsein. Noch am selben Abend hatten die beiden Sex. Ohne Kondom. An den kleinen Gummischutz dachte keiner der beiden, das Knistern und der Alkohol hatten sie freizügig gemacht. Seitdem hatten sie eine wunderbare Affäre. Nichts Festes, viel Leidenschaft, nach Bedarf. Nicht eben das, was Charlotte sich unter einer Familie vorstellte. Nein, sie konnte dieses Baby auf keinen Fall bekommen. Und zu alt war sie sowieso. Erst vor ein paar Tagen hatte sie die Einladungen für ihren 43sten Geburtstag verschickt. Ein Kind? In dem Alter? Ohne festen Partner? Es war ja nicht so, dass sie nicht ihr halbes Leben von einer eigenen Familie geträumt hätte, zwei oder sogar drei Kinder hätten es schon sein sollen. Doch was sollte man schon machen, wenn der richtige Partner einfach nicht auftauchen wollte. Und unter den jetzigen Bedingungen? Das würde nicht gut gehen.

Gedankenverloren schlenderte Charlotte zum Ostkreuz. Sie wollte nur noch nach Hause. Sie brauchte eine Tasse Tee, melancholische Musik und Zeit zum Nachdenken. Nachdenken, was als Nächstes zu tun war. Und was sie ihm, dem Vater, wohl sagen würde. Oder nein, am Besten wäre es wohl für alle, wenn niemand etwas davon erführe.

 

Daniel

Den ganzen Tag schon war er irgendwie nervös. Der heutige Abend sollte die Entscheidung bringen. Die Entscheidung darüber, ob seine Beziehung mit Beate eine Zukunft haben würde. Chaotische Monate lagen hinter den beiden, voller Liebe und voller Missverständnisse. Dennoch hatte Daniel keine Minute daran gezweifelt, dass sie für einander geschaffen waren. Warum war das nur alles so kompliziert? Beate war niemals pünktlich, hatte sogar Verabredungen mit ihm sausen lassen, nur um hinterher die wildesten Ausreden zu erfinden. Irgendetwas stimmte da nicht, etwas, das sie nicht mit ihm teilen wollte. Ein Freund, dem er sein Leid klagte, brachte ihn auf die Idee, die ihm selbst, blind vor Liebe, niemals gekommen wäre: Beate hatte einen Freund. Womöglich konnte sie sich nicht entscheiden und hielt den anderen ebenso hin wie ihn.

Als Daniel Beate mit seinem Verdacht konfrontierte, war sie vor den Kopf geschlagen. Nein, ein solches Schauspiel traute er ihr nicht zu. Zögernd und leise versprach sie, ihm die ganze Wahrheit zu sagen. Heute Abend, wenn er wie immer donnerstags mit ihr ausgehen würde. Noch nie hatte er einen Schritt in ihre Wohnung machen dürfen, doch heute war er bei ihr zu Hause eingeladen. Sie hatte sogar versprochen, ihn vom Bahnhof Ostkreuz abzuholen, doch er glaubte nicht recht daran.

 

Donnerstag Abend, Bahnhof Ostkreuz

Neidisch schielte Charlotte auf das Pärchen neben ihr, das sich innig umarmt hielt. Offenbar war die junge Frau auf dem Weg nach Hause und ihr Liebster hatte sie bis zum Bahnhof begleitet. Den Gesprächsfetzen entnahm Charlotte, dass die beiden sich erst Sonntag wiedersehen würden und wie traurig sie deswegen waren. Ach, wie wunderbar musste dieses Gefühl der Sehnsucht sein, wenn Trennung schwer fiel und einem das Wissen, dass da jemand auf einen wartete, ein Kribbeln in den Bauch jagte.

Unsicher sah Tim Lena an. Sie schmiegte sich an ihn und ihre Worte, dass sie ihn jetzt schon vermisse und sich so auf Sonntag freue, hallten in seinem Kopf. Er wünschte sich, dass dieser Moment niemals enden würde. Abschied nehmen war schwerer als er dachte.

Die S-Bahn polterte herein.

Aufgeregt klopfte Daniel mit den Fingern an die S-Bahn-Tür. Würde Beate da sein? In diesem Moment zweifelte er daran, dass er überhaupt aussteigen würde, wenn er sie nicht auf dem Bahnsteig sah. Ja, er würde ihr es übel nehmen, wenn sie zu ihrem vielleicht wichtigsten Date zu spät kam.

Erst ratternd, dann quietschend bahnte sich der Zug seinen Weg entlang des Bahnsteiges bis er dessen Ende erreichte.

Aufmerksam hatte Daniel alle Wartenden gescannt. Beate war nicht dabei. Kurz blieb sein Blick an einer traurigen Frau hängen, die Beate etwas ähnlich sah. Sie war jedoch älter, Anfang vierzig bestimmt, und hielt den Blick fest auf die neben ihr Stehenden geheftet. So sah niemand aus, der auf jemanden wartete.

Die Türen öffneten sich.

Daniel stand unschlüssig da, wusste nicht, ob er aussteigen sollte.

Sich langsam lösend stieg Lena ein, blieb dabei direkt in der Tür stehen, um Tim noch einen Moment nahe zu sein.

Charlotte beobachtete die beiden noch immer, ohne sich von der Stelle zu rühren.

 

Ein Wimperschlag noch und alles würde sich ändern.

 

Eine Frau kam die Treppe hoch gerannt. Vor sich hin schimpfend zog sie ein kleines Mädchen hinter sich her, das offenbar für die Eile der Mutter kein Verständnis hatte. Die Kleine hielt ein Eis in der Hand, Gesicht und T-Shirt hatten ebenfalls bereits etwas abbekommen. Die Mutter blickte sich verzweifelt suchend um, bis sie Daniel endlich entdeckte.

Charlotte zuckte zusammen. Ihr Blick wandte sich zu dem kleinen Mädchen, das fröhlich sein Eis schleckte. Süß, die Kleine. Während die Mutter und der Typ, der die S-Bahn-Tür blockierte, indem er unentschlossen da herum stand, sich ansahen, stellte sich das Mädchen neben Charlotte und sah sie neugierig an. Es fragte Charlotte sogar, wie sie heiße und ob sie nicht etwas von seinem Eis abhaben wolle. Gerührt lehnte Charlotte ab.

Endlich stieg Daniel aus. Ein Kind war der Grund für das ganze Durcheinander. Ein Kind. Er war so erleichtert. Er umarmte Beate und küsste sie einfach, als sie zu einer Erklärung anhob.

Der Tür-Gong mahnte zum Einstieg.

Widerwillig ließ Tim Lenas Hand los. Er würde sie schrecklich vermissen. Bis Sonntag war schon viel zu lang. Nein, New York, dahin wollte er nicht mehr. Er wollte nicht ohne Lena sein, er wollte sie nicht vermissen. Er war sich plötzlich sicher, wie sehr er sie liebte.

Im letzten Moment schob sich Charlotte durch die sich bereits schließenden Türen. Als sie sich herum drehte, um hinaus zu sehen, winkte ihr das kleine Mädchen zu und lachte. Wieder schnürten ihr die Tränen den Hals zu. Doch als die S-Bahn schwerfällig Fahrt aufnahm, wusste sie, dass sie am Anfang ihres Weges stand. Auf dem Weg zu einer kleinen Familie.

Christine Kahlau - Die Warschauer Brücke

 

Christine Kahlau
Die Warschauer Brücke

 

Nicht weit entfernt vom Bahnhof Ostkreuz befindet sich die Warschauer Straße, welche stadtauswärts in die Warschauer Brücke übergeht, über die ich heute berichten will.

Ein Vorteil scheint mir bei langer Sesshaftigkeit zu sein, dass einem hin und wieder mit Orten eine ganz eigene Geschichte verbindet. So ein Ort stellt für mich die Warschauer Brücke dar und das eigentlich auf eher unspektakuläre Weise. Wobei ich mir natürlich der Nähe zur architektonisch und historisch bemerkenswerten Oberbaumbrücke sowie zur Eastside Gallery durchaus bewusst bin.

Wohl gibt es in Berlin schönere Orte als die Warschauer Brücke. Die Autostraße von Treptow her kommend oder von Mitte, vom Alex her, führt geradewegs über die Warschauer weiter ein Stück durch den Bezirk Friedrichhain hindurch und bis nach Prenzlauer Berg. Von dort aus Richtung Norden und in die andere Richtung immer weiter nach Osten, irgendwann sogar bis nach Warschau… Ein asphaltiertes, hässliches Band, in der Mitte mit Straßenbahnschienen versehen und — früher jedenfalls — drei Himmelsrichtungen mit einander verbindend.

Mit der Wende kam noch eine vierte Richtung hinzu, die zuvor politisch nicht gewollt war, die Verbindung von und nach dem Westen — über besagte Oberbaumbrücke, welche die Spree so dekorativ überspannt — bis nach Kreuzberg hinein und hindurch…

 

Ungeschützt geht es zu auf der Warschauer Brücke, geht doch der Wind hier ungehindert drüber. Doch hat man dafür den freien Himmel über sich. Wenn man auf der Brücke steht, schweift der Blick unweigerlich rechts über die Weite der Gleisanlagen, links wird er etwas aufgehalten durch die auseinander gezogenen Bahnhofsanlagen der S-und U-Bahn. Auf dieser Seite strömen tagsüber dahin eilende Passanten, von beziehungsweise zu den Bahnen hin. Am Abend, besonders an den Wochenenden, drängelt sich vor allem vergnügungssüchtiges Volk auf dem schmalen Fußsteig. Auf Grund der Enge dicht aneinander vorbei wandernd, manchmal auf den Fahrdamm ausweichend, auf dem Fahrradfahrer vorbeisausen, direkt neben dem stetig dicht dahin fließenden Autoverkehr. Auf der gegenüberliegenden Seite dagegen laufen nur wenige Passanten entlang. Obwohl hier seit Jahren mehrere Ferngläser aufgebaut stehen, durch die man über die Gleise hinweg sehen und die nicht bei allen beliebte neue Veranstaltungshalle gegenüber dem Spreeufer in Augenschein nehmen kann. Häufig nutzen Touristen diese Seite auf dem Weg zur weltberühmten Eastside-Gallery, einen bezahlten Blick durchs Fernrohr nehmend.

An den Wochenendabenden, vor allem während der wärmeren Jahreszeit, sind auf der Warschauer hin und her ziehende Massen jüngerer Menschen unterwegs, zwischen den verschiedenen Freizeittreffs von Friedrichshain und Kreuzberg pendelnd. Manche von ihnen lassen sich direkt auf dem spärlichen Rasen auf der Fußgängerseite nieder, bevölkern die Haltestellen oder den begrünten Mittelstreifen auf der Warschauer Straße. Manch einer von ihnen entdeckt die Schönheit der untergehenden oder der aufgehenden Sonne von der Warschauer Brücke aus, auf dem Weg zur ersten Party des Abends beziehungsweise von der letzten kommend. So sah ich neulich ein Grüppchen dort sitzend, auf einer Treppe über den Gleisen, den goldenen Schein der Abendsonne genießend…

2008 stürzte der Neffe einer Freundin von der Warschauer Brücke aus in die Tiefe der Gleise. Die Ursache ist bis heute unklar, ob aus Übermut oder gar Lebensverdruss. Vielleicht passierte es beim Balancieren auf dem Brückengeländer? Von seiner Tante erfuhr ich, dass Simon den Sturz zwar wie durch ein Wunder überlebte, aber lange nicht aus dem Koma erwacht war. Inzwischen weiß man, dass der junge Mann wohl zeitlebens auf fremde Hilfe angewiesen sein wird.

 

Mein eigenes Verhältnis zur Warschauer Brücke ist von recht unterschiedlichen Erlebnissen geprägt. Früher war die Gegend optisch vor allem vom Anblick des Glühlampenwerkes Narva beherrscht, das weithin sichtbar wie ein Wahrzeichen der Umgebung seinen tristen Stempel aufdrückte. Dann gab es im Laufe der Jahre immer mal eine Autofahrt ins Umland, nach Sachsen oder Thüringen, zu der man über die Warschauer stadtauswärts, Richtung Autobahn fuhr, über Treptow und Plänterwald. Seit den Siebzigern zeigte einem das Auftauchen des "Telespargels" im Blickfeld an, dass man gleich "zu Hause" war.

Später dann, nach der Wende zog auch hier der Geist der Veränderung ein. So verschwanden lang vertraute Einrichtungen wie das "Kinderkaufhaus" an der ehemaligen Bersarinstraße, Ecke Frankfurter Tor. Dafür wurden jede Menge unterschiedlicher Läden entlang der Karl-Marx-Allee, der Frankfurter wie auf der Warschauer Straße eröffnet. Manche nur von kurzer Dauer, andere sich bis heute haltend. Die Wohntürme am Frankfurter Tor wurden durch Sanierung optisch wieder ansehnlich und plötzlich entdeckte man die historische Schönheit einer ehemals verhassten Staatsarchitektur. Einst erbaut für verdiente Werktätige des Volkes, bewohnt dann von Funktionären und ehemaligen Verfolgten des Naziregimes, beeindruckt sie heute durch ihre prachtvolle Bauweise und ihre großzügigen Anlagen.

Irgendwann kam zu diesen mehr alltäglichen Erfahrungen mit der Gegend um die Warschauer herum ein weiteres, fast irrational anmutendes Moment hinzu. Es geschah in den Neunzigern, also weit nach Öffnung der Mauer. Eines Tages wartete ich an einer der Straßenbahnhaltestellen auf der Danziger Straße auf die Bahn. Ich befand mich auf der Seite, die in Richtung Warschauer Straße fuhr, als ich plötzlich eine körperlich fühlbare Verbindung spürte zwischen mir oder vielmehr eines Teiles von mir und der geradeaus vor mir liegenden Strecke. Diese vielleicht am ehesten energetisch zu nennende "Verbindung" begann oder endete(?) im Zentrum meines Unterbauches und zog sich gefühlt wie ein unsichtbares Band bis hin zur Warschauer Brücke. Damit einhergehend durchströmten mich intensive Empfindungen von einer Art Vorahnung von etwas Fernem, vor mir Liegendem, welches mich eines Tages herausfordern und mir viel abverlangen würde. Damals durchforstete ich mein Gehirn nach einer dazu passenden Situation, konnte aber nichts finden, was einen konkreten Bezug vermuten ließ. Außer vielleicht meine Verbindung zur Stadt Warschau, begründet durch die Freundschaften zu einigen dort lebenden Polen. Doch schien mir dies zum damaligen Zeitpunkt nicht relevant genug zu sein.

 

Seit dem fuhr ich viele Male besagte Strecke entlang, vor allem mit dem Fahrrad.

Hin und wieder biege ich links oder rechts ab von der Warschauer. Entweder über Ostkreuz nach Lichtenberg radelnd oder tiefer in die Straßen von Friedrichshain eintauchend, dabei immer wieder unbekannte Orte entdeckend.

Und noch häufiger ging und geht es über die Warschauer Brücke hinaus nach Kreuzberg, mitunter bis nach Neukölln… und das bei jedem Wetter!

Diese und jene neuen Verbindungen entstanden in dieser Zeit und lösten sich wieder und manch alte Freundschaft wie die zu den Warschauern, von der man glaubte, sie hält ein Leben lang, hielt dann doch nicht. Und jedes Mal ist es dann auch ein Stück von einem selbst, das dabei mit zu verschwinden scheint…

Doch wie die Zeit nicht stillsteht und das Herz weiter schlägt, so bleibt die Warschauer Brücke ein von Leben pulsierender Ort und die Warschauer weiterhin ein verbindendes Band — in alle Himmelsrichtungen.

So führte mich eine erst in diesem Sommer geschlossene Freundschaft mit einem Maler in eine auf gerader Strecke liegende kleine Galerie in Kreuzberg, ein wenig später nach Brüssel – mitten ins Herz des inzwischen aus Ost und West wieder zusammen wachsenden Europas. Und entdeckte verblüfft, wie viel Schönes und Bemerkenswertes diese Stadt bietet und wie wenig ich bisher über Belgien und seine Geschichte wusste.

Auf dem kleinen Balkon meines Freundes sitzend, sah ich in das freundliche Blau des Brüsseler Himmels, welcher mir irgendwie anders blau erschien als daheim. Und dachte dabei auch an den weiten Himmel und den Wind, auf der Warschauer Brücke…

Katja Odenthal - Tante mag das Alte nicht

 

Katja Odenthal
Tante mag das Alte nicht

 

Der Zug hält am Ostkreuz, meine Verwandtschaft kommt angereist, von Schönefeld her. Mit rotem Kopf schimpft sie, meine Tante, mit all ihren 80 Jahren auf einen Mann ein, der mit ihr aus der S-Bahn steigt. Er hat sich ein Berliner Augenzwinkern zum Schutz aufgelegt, die alte Dame dringt nur bedingt zu ihm vor. "Wie zu DDR-Zeiten sieht es hier aus, wie soll man denn hier seinen Koffer ziehen?" "Und wo muss man überhaupt lang?" "Das ist ja wie in Russland!"

 

Sie zieht ihren Koffer über die Füße anderer Fahrgäste auf dem holprigen Bahnsteig. Einer jault, die meisten tun, was am Ostkreuz zum guten Ton gehört: ignorieren und vorwärts, mit der nächsten Welle von Menschen mit und bloß weg hier. Ich komme den Sprachfetzen immer näher, die die alte Dame aus ihrem Mund abfeuert. Meine Tante. Sie erkennt mich nicht zwischen all den Menschen. Ich genieße den Moment, in dem nur die dicken Brillengläser meiner Tante, ihr Maulwurfsblick zwischen ihr und mir und einer Umarmung liegen.

 

Über dem Platz liegt ein Geräuschteppich. Für mich ist das Ostkreuz das Lärmkreuz, so wie überhaupt auf die ganze Umgebung bis zum Nöldnerplatz den ganzen Tag eingehämmert und eingeschlagen wird: Asphalt aufreißen, ausbaggern, Betonmischer, Pflastersteine, Umleitung, Stau, hupen, Baustelleneinfahrt, Gedränge, hier nicht lang, da lang, aufpassen!

Es ist schön, wenn’s schöner wird und es wird toll, wenn es am Ostkreuz eines Tages für die tausenden, zigtausenden, Millionen Leute übersichtlicher und vor allem noch schneller wird. Was in meinen Ohren knirscht, was ein Geräusch macht wie Fingernägel über Kreidetafeln, sind die Zusammenhänge.

Rutscht meine Mieterhöhung nicht direkt über die glatte Rutsche des Wortes Mediaspree in meinen Briefkasten? Und wieso klingt Gentrifizierung nur nach Doktorarbeit, nicht nach Widerstand? Mein Bauch brennt, schreit: "Achtung! Achtung!", sobald ich sehe, wie was Altes weggemacht und was hübsch Neues draufgesetzt wird.

Soll sich das O von Ostkreuz bald auf O2–Arena reimen? Ich phantasiere, wie in einer Casting Show jemand aus dem Off sagt: "Nee, aber dit Ostkreuz, dit muss noch mal inne Maske, so jeht dit nich, noch mal richtig dick Schminke drüba, so wat Abjeranztes will doch keener sehen, da zahlt doch keener wat für!"

 

Und unter einer Haifisch-Maske in der Jury kommt Dieter Bohlens Gesicht zum Vorschein, er singt im Duett mit dem Chef der Deutschen Bahn: "…der hat Zähne und die trägt er im Gesicht." Hinter ihm stimmt ein Chor aus Immobilienmaklern ein, sie haben sich aus Bauplänen der Rummelsburger Bucht und dem Berliner Mietspiegel kleine Fackeln gebaut, die sie wie sich selbst hin und her schaukeln.

 

Es zupft ganz heftig an meinem Kapuzenpulli. "Kind, da bist du ja! Ist das ein furchtbarer Lärm hier!" Ich spare mir die herzliche Umarmung, denn Tante läuft mit Affenzahn auf den rettenden Aufgang zu. Ich ahne, was da kommt. Sie hält inne. Ihr Blick mit all der Autorität ihrer 80 Jahre durchbohrt mich. Ich kann nur mit dem Kopf schütteln: Nein, es gibt hier keine Aufzüge.

 

Ich schließe zu ihr auf. "Schön, dass du gekommen bist, Tante!", und sie bekommt einen Kuss auf ihre rote, alte Wange. Ich entwinde ihr den Koffer und versuche, mein schlechtes Gewissen zum Schweigen zu bringen als wir vor den Treppenstufen stehen.

Siehe, die alte Dame hat mehr Atem als ich, sie poltert die Treppen hinauf und dann auch hinunter: "In Schönefeld, ich musste zehn Minuten laufen, das soll ein internationaler Flughafen werden? Und wie viel das kostet, von unseren Steuern, wir haben schließlich jahrzehntelang eingezahlt." "Ja, willkommen reiches Rheinland!", versuche ich sie einzudämmen und es funktioniert für einige Sekunden. Sie schaut auf, vielleicht muss sie nur durchschnaufen.

Eine alte Tante in all dem Chaos von Berlin, wie soll das auch gehen?

 

Während ich in ein Taxi steige, für die letzten zwei Kilometer bis zu meiner Wohnung, bleibt ein Teil von mir oben auf der Treppe am Ostkreuz stehen. Er sieht, wie diese schmale Frau davoneilt mit ihrem Koffer, wie sie sich in ein fünfzehnjähriges Mädchen verwandelt, wie sie und meine Familie das ehemalige Deutschland durchqueren, von Kattowitz über Dresden, über Berlin nach Köln. Mit russischen Soldaten im Nacken und Hunger, echtem Hunger im Gepäck. Durch Trümmerlandschaften und über von Bomben aufgerissene Pflastersteinstraßen, vielleicht über Bahnhöfe wie dem am Ostkreuz.

Tante mag das Alte nicht, Tante mag das Alte nicht mehr sehen, aber ich stehe dort und horche. Der Lärm, alte Steine, der Rost, die Unruhe. Das Alte erzählt Geschichten und ich höre zu.

Stephan Schmauder - Die rote Mühle am Ostkreuz

 

Stephan Schmauder
Die rote Mühle am Ostkreuz

 

1 Anfang

"Wumms!", tönt es, als hinter Pjotr Panda die Tür zum Vorderhaus an der Sonntagstraße wieder ins Schloss fällt. Mit mulmigem Gefühl lässt Herr Panda die Sicherheit der eigenen vier Wände fahren, in die er sich viele Wochen lang schon wieder verkrochen hat. Draußen ist es wärmer geworden, nachdem es am späten Nachmittag noch heftig geregnet hatte. Sogar ein heftiges Gewitter war niedergegangen und begleitete Pjotr auf seinem Weg zum Boxhagener Platz die Wühlischstraße hinauf, als er kurz vor Torschluss noch etwas Essbares auf dem Wochenendmarkt organisieren musste, um nicht hungrig diese Nacht zu begehen. Das Wetter gestattet sich in diesem späten Oktober kuriose Kapriolen, wie es nur ein loser Schelm zu tun pflegt. "Oder liegt das jetzt vielleicht an dem dichten Kunstpelz, in den ich eingeschmiegt bin?", sinniert Pjotr, der sich heute, in der Nacht von Halloween, vorgenommen hat, als Winnie the Pu verkleidet die Festlichkeiten zu begehen, ausnahmsweise, ganz gegen seine Gewohnheit als menschenscheuer Partymuffel.

Den alten Bärenpelz des Honignaschers aus dem berühmten Kinderbuch hatte seine Mutter einst als Faschingsballkostüm für seine ältere Schwester genäht. Als das Kostüm niemand mehr haben wollte, rettete Pjotr es vor dem unbarmherzigen Weg in die Mülltonne, indem er es der begehbaren Kleiderkammer einverleibte, die im verwinkelten Flur seiner kleinen Ein-Raum-Wohnung im 4. Stock des Hinterhauses einen Gutteil des kärglich vorhandenen Platzes ausfüllte, von ihm in den letzten Jahren jedoch kaum genutzt wurde, denn normalerweise zog er immer die ewig gleichen Klamotten an im Alltag seiner verschliffenen Großstadteremitenexistenz.

Pjotrs notorisch miesepetrige Laune klart sich heute jetzt aber doch allmählich auf. Er beginnt sich nun wohlig warm, ja subtropisch umhüllt in der abenteuerlichen Vermummung zu fühlen. Schon beinahe im Pirschgang wechselt er von der Gryphius- runter Richtung Simplonstraße. Das bisschen Schwitzen in dem dichten Pelz, das gefällt ihm, die leichte Transpiration hat ihm eigentlich noch nie was ausgemacht, Pustekuchen, als geübter Dauerläufer, der er ja auch ist, in einer strikt getrennten Parallelwelt zu seinem Indoor-Alltagsleben; wenn er sich denn mal aufrafft, das Haus zu verlassen, was selten geschah in den letzten Wochen. Auf Pjotrs sich gerade aufbauender Blickachse Richtung Südosten wird er jetzt überrascht von einem prangenden, riesiggroßen, ja regelrecht unförmigen Vollmond, der von einem blutorangefarbigen Vorhof eingerahmt aus dem Viereck des plötzlich gemäldehaften Blickfeldes zu quellen scheint. Starke Winde pusten wüstenhaft warme Luftböen durch die dunklen Straßen, Wolkenfetzen ziehen ohrenheulend über Pjotrs Bärenhaupt hinweg. Die Nacht scheint wirklich nicht allein zum Schlafen da. Pjotr zieht es gleich mit aller Macht an den Schienenstrang zwischen RAW-Gelände und Osthafen. Unter all den vorüber treibenden Halloween-Masken, die bei gefühlten 17 Grad Celsius im Spätnovember auch alle, sagen wir mal, leicht overdressed wirken, fällt Winnie the Pu weiter gar nicht auf. Pjotr spürt das Gefühl des Isoliertseins, das ihn die letzten Wochen, ja Monate, wie eine dickhäutige Gummiblase umschlossen hat, allmählich vom Fell abperlen. Auf dem RAW-Gelände scheint sich gerade eine gewaltige Party zu entzünden, aufzuspannen wie der schnell wachsende Schirm eines Tintlings, lokal häufige Pilzart, gekennzeichnet durch rasches Werden und Vergehen (Pjotr hat sich zu einem leidenschaftlichen Pilzgänger entwickelt in den letzten Jahren, eines seiner wenigen Hobbys neben dem notorischen Joggen) — in der Ferne wummern tieffrequente Klänge. Einerlei, ob das Musik, nächtliche Bauarbeiten der Bahn oder das zurückkehrende Gewitter ist. Pjotr drückt sich durch einen Bauzaun an der Revaler Straße, kurz hinter der Modersohnbrücke, in das Niemandsland zwischen verwitterten Bahnanlagen, verwildertem Berliner Stadtbrachen-Dschungel und den topographischen Eroberungen einer Haudrauf-amüsier-20+x-something-Post-all-of-Now-Schickeria. The Pu steht, nachdem er einen wie von Riesenhand geworfenen Wall aus Baumstämmen überklettert hat, in einem dichten Birkenwäldchen, voll obskuren Unterholzes, um jetzt mal kurz Pipi zu machen. Er nestelt sich den Pelz auf, seine Mutti hatte natürlich damals beim Nähen des Mummenschanzes nicht an derlei allzu irdische Bedürfnisse gedacht.

Keine fünf Meter von ihm entfernt läuft eine Füchsin die Böschung entlang, ohne Notiz von ihm zu nehmen. Sie schleicht einmal um den Busch, kommt auf der anderen Seite wieder herunter, just da, wo er den oberen Teil seines Bärenpelzes gebunkert hat. Hier nun kommt Pjotr selbst zu Wort, wie er das Ganze seiner Kumpeline erzählt, denn da gab‘s kein Halten mehr, als er ihr einige Wochen nach den Ereignissen ausführlich Bericht erstattete: Stell dir vor, die Füchsin späht um die Ecke und bemerkt mich nun endlich. Sie bleibt stehen und "nimmt wohl an", dass ich sie nicht gesehen hätte. Ich fixiere selbstbewusst die mich beim Urinieren ertappende Dame im Rotpelz, die sich mir zaghaft noch weiter annähert, nicht geplagt von der menschlichen Scham. So stehen wir uns gegenüber, keine vier Schritte voneinander entfernt: "Wildes Tier" und so genannter "zivilisierter Mensch" draußen in dieser imposanten Vollmond-Nacht. Wir mustern einander. Ich breche das Schweigen, indem ich was sage. "He, Genossin, ich kann nicht pinkeln, wenn mir jemand dabei zusieht!" Die Füchsin, die sich hier frei in ihrem Revier bewegt, wendet sich mir zu und spricht, nicht ohne dabei kräftig in ein lokales Idiom zu verfallen: "Ja, nu, wie der Namenspatron dieser Stadt siehste nu wirklich nicht aus, Mensch Meier, von Würde keine Spur, nicht mal beim 'Stangenwasser inne Ecke stellen'. Eher wie 'n ungetrunkener Schluck Pfütze. Nüscht für unjut. Aber woher kommt‘s, dass er so neben seinem Pelz steht, statt in seinem Pelz eine wackere Figur abzugeben? Vertrau'n Se sich mir an, wo Sie grade mittenmang meinem Revier stehn…" Pjotr: "Wie Sie sehen, Madame Rotpelz, folge ich dem Ruf der Wildnis, ganz genau wie Sie, alte Eierdiebin und Hundeverschmäherin, die Sie sich jetzt schon länger wieder in der Menschenstadt heimisch fühlen. Genug mit dem förmlichen Gehabe, mit 'Sie' und so, wir sind unter uns, also, was ich sagen möchte, wie wäre es denn mit 'n bisschen Verständnis für meine momentan eher klägliche Situation?"

"Solange du nich' auf den Tunnel-Zugang des selbstverwalteten Wildtier-Kindergartens pinkelst, is allet jut, mein Lieber, achte mal besser 'n bisschen auf deine Umgebung, schärfe die Sinne, lausche auf die Stimme deiner Instinkte, Intuition haste ooch, weniger auf die ,scheint's, bei euch Menschenwesen allerorten überstrapazierte, übermächtige Vernunft, dann kommste besser klar, haste wieder Spaß, oller Griesgram - und - hej noch was, Menschenmann, wenn ick dir 'nen Tipp geben darf, mach dich jetze mal auf 'n Weg nach Osten, immer schön dem Schienenstrang lang. Heute ist ne janz besondere Nacht für Männeken, auch für so schräge Vögel wie dich. Der Osten steht seit jeher in unseren Breiten für 'n Neuanfang im Tanz der Windrichtungen um die olle Himmelsoße, äh, -rose, die Weichen werden heut' Nacht früh frisch jestellt, damit das alte Dampfross künftig im neuen Gleisbett läuft wie geschmiert, is ooch jut für die alten Jelenke."

Pjotr wehrt sich gegen den aufkommenden Fluchtreflex, reibt sich die Augen, eine beredt das Wort schwingende Füchsin, das ist bei aller reiflichen Überlegung dann doch einen Tick zu heftig an diesem komischen Tag, der ja für ihn immer noch erst gerade angefangen hat. "Ruhig Brauner, hör mir zu, renn nicht gleich weg, wenn dir Gevatterin aus dem Zylinder was hervorzaubern möchte! Im Ernst, zieh los, sonst entgeht dir was! Ist doch so 'ne schöne Nacht, warum soll sich so 'ne alte bärenfellbehangene Nebelkrähe wie du nicht auch mal amüsier'n? Alter, mach dich auf'n Weg, wirst es schon nicht bereuen. Dann kann ick hier ruhig weiter nach einem saftigen Midnight-Snack Ausschau halten. Neuerdings gibt's hier wieder wilde Kaninchen — und jetze zieh Leine, biste noch nicht unterwegs - ab die Post!"

Pjotr folgt den Einlassungen der beredten Füchsin und ihrer Aufforderung, nicht ohne sich vorher höflich von ihr zu verabschieden. Ein bestimmtes Gleis ganz links ins Auge fassend, dem er unbeirrt durch den dichten Überwuchs an Flora Richtung Osten folgt, zieht der Bärenmensch weiter. Der Wind scheint mit dem Blätterwerk des ihn umgebenden Wildwuchses der verlassenen Bahnanlage seine Sprach-Spiele zu treiben, denn für ihn hört es sich an, als raunten die Bäume ihm ermunternd zu: "Rasch, wie in flüchtigen Augenblicken, lass dich treiben im Weben der Zeit, on the road again, doch bald kommst du an. Geh deinen Weg, verschließ deine Sinne nicht vor der Schönheit des Augenblicks, alter Bärenesel!" Der wandelt weiter seines Wegs auf unausgetretenen Pfaden. Die Vögel in den Wipfeln beginnen ihm heitere Botschaften zuzuzwitschern Eine vorüberfliegende buntgescheckte Taube rezitiert Passagen aus Nietzsches "Also sprach Zarathustra" und dionysische Dithyramben, als wüsste sie um die Qual und Selbstzweifel der letzten Zeit: Die Krähen schrei'n und ziehen schwirren flugs zur Stadt... (zit. n. A. Carter: The Infernal Desire Machines of Dr. Hofman, London 1969 u. nach F. W. Nietzsches Gedicht). Ein Rabenvogel, die junge Elster, folgt ihm von Baum zu Baum, auf Schritt und Tritt keckert sie geknittelte Verse aus Fausts Walpurgisnachtstraum hinter ihm her. Eine große Ameisenschule im Vorüberziehen hält inne, sammelt sich unter diversem, gezirptem Signalaustausch um Meister Petz, beginnt durch eine grafische Anordnung ihrer Leiber vor ihm in den Sand neben den Gleisen zu schreiben:

"Ess koi Buchstab'nsupp' mer,
und unns itzt au idd',
alt's Schleckermaul,
reih selber Buchstabenfolgen
ruhig au mal aufs Budderbrot-Babbir.
Bei dem, was du so erlebst,
dürdte dir seller Stoff zum Verzelle
nidt unbedingdt so flott idt ausgehe,
Purche!"

Entweder war diese Ameisenschule aus der ersten oder zweiten Klasse ausgebüchst, oder sie stammte ursprünglich von allemannischen Sprachinseln, aber egal. Dem Bärenmenschen hat es längst die Spucke verschlagen vor so viel allbelebter Natur um ihn, die beredt mit dem All-Eins-Sein, das ihn seit Wochen wie einen dichten Kokon umsponnen hat, zu korrespondieren scheint, als klopfe eine alles durchwirkende Kraft ihn mit aller Macht aus dem selbst gewählten Gehäuse seines Einsiedlerkrebs-Lebens heraus. Der Bärenhäuter fühlt sich fein umwebt von pantheistischem Welterleben, wie er es nur aus den glücklichsten Momenten seiner wahrhaft weit zurückliegenden Kindheit kennt - das ozeanische Gefühl desjenigen, dessen feste Grenzen durch das noch ferne Erwachsensein jederzeit sich flugs aufzulösen imstande sehen.

Pjotr greift zu der in der Kängurutasche in seinem Pelz verstauten Flasche schweren roten Rebensafts (die hatte er für alle Fälle gebunkert) und entkorkt sie fachgerecht. Es ertönt ein mächtiger Plopp, als der Geist aus der großen Buddel entweicht. Der befiehlt ihm nur lapidar: "Trink!" Er gehorcht willig und sieht sich selbst in einer fernen Zukunft, wie Karlsson auf dem Dach des Hauses an der Sonntagstraße sitzend, Farben und Formen der Jahreszeiten ziehen wie im Hui an ihm vorüber und mit flinker Feder wirft er textliche Exzesse in einem wahnwitzigen Tempo aufs Papier. Es scheint, als hätte er in wenigen vorbeirasenden Vegetationsphasen Jahrzehnte an verloren geglaubter künstlerischer Produktivität nachzuholen. Gleich versucht Pjotr sich wieder auf die ungefilterte Gegenwart zu konzentrieren, beginnt seine Aufmerksamkeit tatsächlich mit dem Augenblick zu teilen, als sei dies ein alter Freund, dem er nur ewig lange nicht mehr "Hallo" gesagt hat. Das Birkenwäldchen hat sich gelichtet, während er weiter ausschritt. Pjotr ist am Gleisbett weiter Richtung Osthafen gelaufen. Von Ferne sieht er im hellen Mondlicht auf der Spree eine Armada kleiner Segelboote, Typ "Pirat", mit dem Wind in beeindruckendem Tempo spreeaufwärts pflügen. Der Fluss erscheint aufgewühlt von den warmen Winden, die in Böen aus unterschiedlichen Richtungen die Wasser furchen. Hatte er etwas im Radio von einer Segelregatta auf der Spree mitgeschnitten? Von Zikaden auf den lose bewachsenen Sandbergen am Osthafen raspelt es wie Süßholz mit Engelszungen zu ihm hin: "Geh einfach, geh, wundere dich nicht: 'Paradise is NOT lost!'"

 

2 Der Tunnel

Bald steht Pjotr ein wenig ratlos an einem vor Dunkelheit nasstriefend klaffenden Schlund, sieht aus wie der Zugang zur ewigen Verdammnis. Über dem von mattgrünem Moos behangenen Portal spiegelt sich ein Schild trübe im Schimmer der nächtlichen Sonne, bunte bewegliche Buchstaben leuchten kurz auf und ziehen in unregelmäßigen Abständen vorüber:

"Magischer Tunnel +++ Zugang zum Varieté aller irrenden, aber wenigstens suchenden Seelen +++ Eintritt nicht für jederfrau oder jedermann +++ Nur für Entgleiste +++ Ticket gibt's nur gegen Abgabe des Verstands an der Garderobe +++ Amanita-Amelia kommt kurz nach 12 an + ist unterwegs zum Turm +++ Geh jetzt los! +++ J E T Z T" (angelehnt an H. Hesse, Der Steppenwolf, Frankfurt a. M.: 1927).

Der Eingang gehört zu einem Tunnel, der ganz offensichtlich eine sanfte Biegung nach links macht, so viel ist noch zu erkennen. Der bepelzte Held fragt ein wenig ermutigt duch den Zuspruch von so viel Kreatur, die sich durchgehend freundlich gesinnt an ihn wendet, leise in die Runde: "Ich habe leider meine Taschenlampe zu Hause vergessen. Kann mir jetzt vielleicht trotzdem jemand weiterhelfen?" Seine Worte sind im Echohall, den der offenbar abgrundtiefe Tunnel wirft, kaum verklungen, da sieht Pjotr erste Lichtpunkte auf sich zuglimmern. Zuerst sind es nur sechs, sieben Leuchtkörper, die ihn umsausen, dann potenziert sich die Anzahl und kaum dass er es sich versieht, ist er von einer unfassbaren Zahl von Glühwürmchen umfangen, die den Eingang des finsteren Tunnels in ein sanftes Licht tauchen. Nicht dass dies Freundschaftsdienst genug wäre, nein, die Käferchen formieren sich zu einem Schlauch und bilden einen Lichtkorridor aus ihren Leibern, um ihm den letzten Rest Muffensausen zu nehmen vor der allumfassenden Finsternis des gleiskörperführenden Gewölbes, das im Übrigen bei näherem Besehen gar nicht abwärts, sondern vielmehr sanft aufwärts zu führen scheint. Es gibt nun selbst für den ängstlichen Pjotr nicht länger Grund zu zaudern, und so tritt er gemeinsam mit seinen neuen insektoiden Begleitern, den immer freundlichen und sanften Irrlichtern, die ihn geschmeidig umsummen, den letzten Teil seiner Reise an. Bald umtost Pjotr nur noch der pochende Klang des Rauschens der eigenen Blutzirkulation, er hört seinen beruhigenden, sonoren Puls, der so regelmäßig zu schlagen scheint wie ein Schweizer Uhrwerk. Ein beruhigendes Bollwerk gegen die Unwägbarkeiten der unsteten Zeitläufte, die Pjotr sich einbildet, zeitlebens zu durchqueren. Die vielfarbenen, in allen Facetten des infraroten Lichts schimmernden Leuchtkäfer hüllen ihn in einen spiralförmigen Kokon ein, in dem er vorangleitet wie auf einer imaginären, sich drehenden und dehnenden Zeit-Achse, wurmlochartig. Sie führt ihn immer näher an ein Gefühl des Erlebens einer Unendlichkeit, in der die Zeit still steht, oder einfach kein sinnstiftender Parameter mehr ist. Aufgehoben ist das Maß, zum Stillstand gekommen, abgebrochen wie eine halbe Riesin, die im Asphalt einer Titanenenzeit steckenblieb, deren anmaßende Epoche durch neu hereinbrechende, scheinbar chaotische Kräfte zu einem natürlichen Ende gekommen ist.

 

3 Halloween am Ostkreuz

Am Ende des Tunnels ist irgendwann ein Licht zu erkennen für den in Trance vor sich hin wandelnden Bären, der auf den Namen Pjotr hörte. Winnie the Pu kehrt zurück ins mondbeschienene Licht der Welt. Die leuchtenden Käferchen umfleuchen und illuminieren sanft seine Gestalt, wie er ins Freie tritt und in der Ferne den alten Bahnsteig F des Ostkreuzes auf sich zu bewegen fühlt, als ob nicht er zum Bahnhof, sondern der Bahnhof zu ihm her robben würde. Der große Passagier-Umschlagplatz liegt menschenverlassen da. Nur der tief stehende Vollmond beleuchtet die von werktätiger Hand geschaffene Landschaft und taucht sie in ein sanftes, silbrig glänzendes Licht, in dem es problemlos möglich wäre, das "Neue Deutschland" trotz seiner kompakten Typografie zu lesen. Da! Aus den Augenwinkeln erhascht er eine schnell sich bewegende, vierbeinige Gestalt, die unten am Bahnsteig hinter das Fahrkartenhäuschen huscht! Nein, da ist noch mehr Bewegung zu erkennen, bald an jeder Ecke sieht Pjotr graue, schwarzweiß bepelzte langohrige Vierbeiner, die sich geschickt hinter jede Deckung ducken. Gegenüber auf Ost, am Bahnsteig der Ringbahn, taucht ein riesiger Wolf scheinbar aus dem Nichts mit einem Sprung auf das Treppengeländer in Pjotrs Blickfeld, balanciert ohne jegliche Anstrengung auf dem schmalen Grat und verfällt im Wimpernschlag in ein ohrenbetäubendes, jede Faser seines Herzens durchdringendes Geheul - die lange Ode der Kreatur an den Vollmond. Der viel beachtete Kongress der sizilianischen Steppenwölfe findet also in diesem Jahr auf dem Ostkreuz statt. Jeden Augenblick erwartet er das Auftreten einer Band wie Wolfmother real oder Dio aus den Grüften des Jenseits, Spannungsbogen aus Heavy Metal ein Nichts dagegen, aber das polyphon nach Skaldenart angestimmte, in geordneten Chören vorgetragene Heulen der nun vielstimmig einsetzenden Waldfreunde verhallt so abrupt wie es begonnen hatte, ungehört von den Menschenwesen in der angrenzenden Großstadtwildnis. Haben sie jetzt das letzte Stück Zivilisation zurückerobert? Aber husch, wie im Augenblick ist der Spuk der Wildnis vorüber. Das große Rudel scheint so plötzlich verschwunden zu sein wie es aufgetaucht ist. Pjotr lauscht noch lange den langgezogenen Klagetönen nach; war das jetzt wieder eine Halluzination wie heute früh? Der Kongress der Steppenwölfe - warum eigentlich habe ich dazu keine Einladung bekommen? Der Bärenhäuter schaut sich noch einmal lange, ja ein wenig verunsichert um. Sein Blick schweift schließlich zurück zu dem Mond, der auf der pickelhaubenartigen Kappe des Wasserturms behände einen Solo-Walzer tanzt. Die Säule des Wächters über das Ostkreuz scheint in dunklen Rottönen zu pulsieren. Der Mond zwinkert mit verschmitzten Augen, zuerst nur kurz, zaghaft, dann schneller, bis sich sein Blinzeln auf exakt 18 Augenaufschläge/-blicke die Sekunde erhöht und einpegelt, so wie die synchronen 72 Hertz von Pjotr im Tunnel. Die Zeit kehrte mit dem Gedanken an die Zeitung im Traum zurück. Raschelnd wird irgendwo ein Filmstreifen eingelegt, da gleich mit theatralischem Gong die Vorführung starten wird. Von der alten Stralauer Dorfkirche weht Klock zwölf der tiefe Klang der Glocke herüber. Auf den letzten Schlag erwacht die Szenerie am Ostkreuz in Cinemascope zu einem traumhaft mitternächtlichen Leben, dieses Mal das der Menschenwesen - wie sie es wohl nur ganz besonders luzide Vollmondnächte, in nur entlegenen astronomischen Zeitläuften zu beziffern, hervorzubringen imstande sind. Alle Zeit der Welt schien sich nun am und um dieses Ostkreuz zu bündeln - dem lang gedienten Verkehrsknotenpunkt der Stadt. Mit jenem letzten Gong der Alten von Stralau, anmutig wie in einem berühmten Kintopp-Palast der 1920-er Jahre angeschlagen, erhellen augenblicklich mehrere 100.000 niedrigvoltige, buntfarbene Lichtquellen wie chinesische Lampions die Nacht, keine grellen allenthalben, sondern sanfte Illuminationen wie auf einem großen Jahrmarkt, an die mitternächtliche Stunde wohltemperiert gemahnend. Das Ostkreuz ist im Nu von Menschenhand überschwemmt, die Wesen auf zwei Beinen strömen wie auf Zuruf eines rotbefrackten Zirkusdirektors in einer Szene von Fellini von allen Zugängen her auf den vielgestaltigen Bahnhof, der wie ein großer Krake in alle Himmelsrichtungen der Stadt mit seinen vielen starken Armen die Menschen herbei schafft. Von überallher scheinen die Menschen von den warmen Winden herbeigeweht, aus allen Epochen, die dieser Bahnhof mit seiner wahrhaft würdevollen und langen Geschichte durchlebt hat. Selbst Menschen aus anderen Zeiten tauchen wie aus Zeitlöchern gefallen auf, von dem gigantischen Jahrmarktgelichter des zentralen Kreuzungspunktes angezogen wie fahlflüglige Insekten, die aus der Dunkelheit ins Licht streben. Ein Mann in Fellen geschlungen schwankt, auf merkwürdig verklärte Art tanzend und dabei melodisch gereihte Gutturallaute ausstoßend, an ihm vorüber, das Gesicht von einer Hirschmaske bedeckt, die Pjotr glaubt, im Märkischen Museum schon einmal gesehen zu haben. Er wirbelt mehrmals um die eigene Achse, denn er kann sich an der Vielfältigkeit des bunten Treibens kaum satt sehen.

Zischend und dampfspeiend rauscht eine riesige schwarze Schnellzuglokomotive vor ihm auf dem Bahnsteig mit hohem Tempo ein - es ist die legendäre Baureihe 108, gerade pünktlich drei Minuten nach Mitternacht. Auf einem Abteilschild ist der Fahrtstrecken-Anzeiger zu lesen: Genua, die Hafenstadt am Mittelmeer - ihren weiteren Weg durch Italien, Österreich und die Schweiz rauschte die gusseiserne schwarze Lady über Süddeutschland nach Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Dessau, durch das südliche Brandenburg, über den hohen Fläming nach Berlin. Pjotr staunt nicht schlecht über die einstmalig offenbar reibungslos funktionierende Bahntechnik und die schiere Weite des Wegs, den die legendäre Baureihe genommen hatte, Tempo 150 im Schnitt mindestens bei den eingehaltenen Fahrzeiten, die akribisch ausgewiesen sind, als die Passagiere beginnen, dem Zug zu entsteigen. Vor ihm verlässt eine Gestalt mit ledernem Kostüm das Coupé, auf dem Kopf eine Haube in Rosttönen, die rußbedeckte Fliegerbrille auf die Stirne geschoben - Venus in artificial Furs. Unschwer erkennt Pjotr sie als Amelia Earhart, eine legendäre US-amerikanische Pionierin, die mit ihrem Doppeldecker so manchen Flieger-Rekord ihrer männlichen Kollegen gebrochen hatte - noch heute ziert sie als Namenspatronin eine Schule in Treptow auf Höhe des Plänterwalds. Die verschollen geglaubte Abenteurerin und bekennende, ja sagenhafte Bruchpilotin steuert direkt auf ihn zu und spricht ihn in überraschend fließendem Deutsch an: "Herr Panda, Pjotr, erkennen sie mich gar nicht? Heute ist Halloween, da sind wirklich fast alle verkleidet, selbst Sie als alter Partymuffel, wie ich Sie gekonnt und richtig gleich einschätzt habe, und - ja, auch ich, Ihre für Sie eigentlich viel zu junge, schöne und viel zu nachsichtige Arbeitsvermittlerin, Wanda Wagner, erkennen Sie mich denn immer noch nicht, haben Sie 'nen Balken im Auge? Sie waren doch erst vorige Woche bei mir einbestellt, sozusagen länger zu Besuch gewesen, nicht ohne die vereinbarte Sprechzeit weit über Gebühr durch Ihre durch keine Intervention zu bändigende Gesprächigkeit bis an die Zerreißgrenze auszudehnen. Wissen Sie, seit so vielen Monden unterstütze ich nun schon Ihren unsteten Lebenswandel im Zeichen des sprichwörtlichen Faulpelzträgers, den Sie jetzt hier im wahrsten Sinne des Wortes anscheinend auch noch stolz zu Markte tragen! Ohne zu murren halte ich Sie von allen Maßnahmen und gesetzgeberischen Sanktionen, von jeglichen Unwägbarkeiten fern, steuere taktvoll aus der Ferne den enorm komplizierten amtlichen Schriftverkehr in Ihrem Sinne sanft an Ihrer Akte vorbei, ohne welchen Sie schnurstracks bei Ihren Qualifikationen Ihren Weg zurück in den Schoß der werktätigen Bevölkerung gefunden hätten, - (Frau Wagner schöpft frischen Atem) - da können Sie jetzt auch mal was für mich tun! Wie Sie sehen, bin ich unterwegs am Ostkreuz auf dem Weg zu einer fantastischen Party, zu der ich gleich zwei Eintrittskarten mit mir führe, denn mein kafkaesker Kollege aus der nachrangigen Fachabteilung sieben Stockwerke unter meinem Bürotrakt, mit dem ich gelegentlich und eigentlich jetzt verabredet war, hat mal wieder die Gripp', sagt er, oder gibt mir gegenüber zumindest vor, diese zu haben, aber wahrscheinlich mal wieder nur Ärger mit der Frau zu Hause, naja, das Übliche, nicht weiter dramatisch, Sie verstehen? Jetzt treffe ich ganz unvermittelt Sie hier und, mit Verlaub, meine weiblichen Sympathien begleiten Sie trotz der scheinbar unüberbrückbar scheinenden sozialen Kluft zwischen uns schon lange; in dieser an exzentrischem Beigeschmacke nicht ganz armen Situation möchte ich nun doch höflich insultieren, ohne gänzlich in Sie dringen zu wollen, hätten Sie nicht Lust, sich für den Rest der Nacht an meine grüne Seite zu schwingen? Seien Sie doch auch einmal mein abenteuerlicher Begleiter, wenn ich Sie verwaltungsamtlich schon so lange durchschleuse, lieber Freund - heute Nacht, sage ich Ihnen, liegt die Stadt uns zu Füßen - und die Welt ist unser Garten!" Pjotr (schüchtern, denn er hat schon lange auf die Frau Wagner insgeheim ein Auge geworfen, obschon sie als Mitarbeiterin des Arbeitsamtes eigentlich eher dem gewohnten Feindbild anheim fallen müsste, aber wie der Zufall so will, ist die Welt halt manchmal zu recht derben Scherzen aufgelegt): "Naja, wenn Sie mich schon so herzlich einladen..., komme ich jetzt mal mit. Hat mir schon geschwant, dass hier heute noch Denkwürdiges passiert, ohne dass mir mutmaßlich der Puls merklich in die Höhe gehen wird."

Pjotr fühlt sich an den Traum von der verstrahlten Zone erinnert, der genau besehen erst ein paar Stunden zurück liegt. Es fühlt sich an, als lägen Äonen an verflossener Zeit dazwischen, wenn es denn eine Maßeinheit für sich verflüssigende Zeit gäbe. "Wo findet die Party denn statt oder ist das hier alles schon diese fantastische Fete, von der Sie sprachen?", fragt Pjotr die Frau Wagner unter etwas sardonischem Grimassieren. "Spielen Sie nicht die Grinsekatze, Sie verkrachter Polarbär, Sie", repetiert Frau Wagner in ihrer buchstäblich berlinischen Sprachbeweglichkeit, "schau'n Se doch mal rüber, wohin der Strom der Menschenmassen sich bewegt." Sie weist mit der Hand die Richtung. Als Pjotr sich tapsig dreht, den Kopf hebt und in die gewiesene Richtung blickt, stellt er fest, dass dem Wasserturm am Ostkreuz inzwischen vier Flügel gewachsen sind, die sich munter im warmen Wind drehen, wobei alle Viere behände jeden Augenblick die schimmernde Farbgebung in alle Kontraste wechseln. "Moulin Rouge mitten in Berlin!", entfährt es dem jetzt doch fassungslosen Pjotr. Die mit nostalgischem Flair vollgesogene Energie des Fin de Siècle, getragen von der Majorität der Maskenträger, die sich mittlerweile mit all den anderen Epochen zu einer typischen Varieté-Atmosphäre durchmischt, macht auch vor ’Cabaret' von Bob Fosse nicht Halt. Gerade schlendert Liza Minelli, die Melone um ihren Zeigefinger zwirbelnd, vorüber, natürlich ein Liedchen trällernd wie je ein Berliner Spatz von Welt es täte an ihrer Stelle, Claire Waldoff inbegriffen, und wenn auch gleich die Jungs von der Glatzow-Bande hier auftauchten und das ganze Ostkreuz von der Balustrade der Ringbahn gegenüber herab unter schwirrendes Blei setzten, auch das könnte Pjotrs Puls nicht mehr in die Höhe treiben oder gar Monty Python Ehre machen.

"Lassen Sie uns schnurstracks in dieselbe Richtung gehen wie Junker Wodan & GenossInnen", merkt Wanda beiläufig an, hakt sich gelassen beim Bären ein und beide schlendern ab in Richtung Treppe. Als sie an der Hauptstraße am Wasserturm angelangen, ist die Warteschlange noch recht überschaubar. Im Nu sind sie an der Reihe, erhalten gegen Aushändigen der zum Zutritt berechtigenden Einlasskarten zwei kompakte, seltsam anmutende tornisterähnliche Rucksäcke in signalorangener Farbe, den sich v. a. Pjotr mit einiger Mühe und unter viel Ächzen über die fellige Pelle zieht. Der Herr am Einlass, vielleicht besser: Türsteher, allseits bekannt vom Kino Intimes, weist vorsorglich darauf hin, dass die kurze, grün phosphoreszierende Leine am Tornister frei über die Schultern nach vorne zu baumeln hat nach dem Anlegen, während er Pjotr noch einmal die Schultergurte überaus korrekt, ja penibel nachstellt. Der Sinn der Mühe sei dann später selbsterklärend, nuschelt verschmitzt der Türsteher.

Wie bei einem Leuchtfeuer am Meer hat sich die pickelförmige Haube des Wasserturms auf der dem Ostkreuz zugewandten Seite in eine präzise geschliffene Glaslupe, in ein Objektiv verwandelt. Dahinter entzündet sich im Augenblick ein riesenhaftes Glühleuchtfeuer, die gleichmäßig schwingenden Windmühlenflügel des gedrungenen Turmes fungieren als Malteserkreuzflügel oder Shutter, der magische Film aus dem unerschöpflichen Fundus der Gebrüder Skladanowsky, startet nun und verwandelt den alten Wasserturm in einen gigantischen Projektor, als beherberge er das Arsenal der verwirklichten und unverwirklichten Träume aller lebenden, toten, noch nicht geborenen Bewohner des Stadtbezirks und wirft sie auf eine imaginäre Projektionsfläche in dieser Nacht Allerseelen, welche den Bahnhof in eine infernalische, kollektiv wirkende Kinomaschinerie verwandelt, die Albert E. Hoffman, dem Erfinder etlicher Synthesen und Elixiere im Dienste der Synapsenverschmelzungen, zu aller Ehre gereichen würde. Wanda und Pjotr sind inzwischen in das geheimnisvolle Innere des Wasserturms hineingetreten. Eine spiralförmige Geländertreppe führt in endlos scheinenden Windungen nach oben zu dem gleißenden Licht, das über der ganzen Szenerie schwebt und das Ostkreuz in ein Meer dramatischer Träume taucht. Was erwartet uns drinnen im Turm? Nun, was könnte jetzt noch überraschen? Eng umschlungen von dem spiralförmigen Treppenaufgang strebt als Achse des Turms eine frei schwebende Säule empor, gefüllt mit perlendem Champagner aus besten Lagen, in dem die rasende Menge frei schwebend taucht, surft, schlürft, tanzt, trinkt und sich allmählich auf eine gemeinsame Ekstase zu wälzt, die diese Welt in ihrem gegenwärtig kollektiv geteilten Enthusiasmus selten erlebt hat. Unio mystica ist rar geworden. Wanda und Pjotr tauchen mit einem schnellen Sprung im Stile des geflügelten Götterbotens in die sprudelnde Flüssigkeit ein, lassen sich von der perlenden Musik nach oben tragen, wo sie wieder auf den Hirschmaskenmann aus Biesdorf treffen, welcher bereits einen Grad der Verzückung erreicht zu haben scheint, die jeder nüchternen Beschreibung spottet. Kunststück, der Mensch hat den meisten Gästen 5.000 Jahre an Erfahrung im Feiern ekstatischer Rituale voraus. "Und wenn das Fest zum Sieden kommt, dann sät der Teufel Äschen drein" (zit. n. H. Wittenwiler, Der Ring, Konstanz: ca. 1407). Pjotr und Wanda lassen sich mit all den anderen Tanzwütigen auf einer Welle der Ekstase hin zu einem Kulminationspunkt tragen, der in einer kollektiven Explosion sich Bahn bricht, als der Hirschmann mit seiner von einem imposanten Geweih gekrönten Maske mit dem zuckenden Haupt den gewaltigen Brenner der Projektionslampe durchbricht, so dass sich die geballte Energie wie in einer entkorkten gigantischen Champagnerflasche nach oben hin entlädt. Der Wasserturm speit aus der Sicht einer filmischen Totalen gewaltige Mengen in buntes Licht getauchte, heraus sprudelnde Flüssigkeiten über die vollkommen im Rausch taumelnde Welt der Ostkreuzgäste, im Hintergrund brennt "Treptow in Flammen ab", während die tanzenden Insassen der Orgie im Turm gleich winzigen Pollen der Pusteblume im orgiastischen Sturm in die rauschende Nacht hinauskatapultiert werden - und segeln sanft dann unter ohrenbetäubendem Gejohle, Freudengeheule und wüstem Geschrei friedlich am ausgelösten Fallschirm auf die Wasser der Rummelsburger Bucht und auf die Dächer und Bäume der Stadt herab. Unter sich sehen Wanda und Pjotr eine mit vom Wind geblähten Segeln vorwärts gleitende Viermastbark, die den hell erleuchteten Stralauer Fischzug anführt und gerade klar zur Wende macht, bevor sie an Pauls & Paulas Ufer zu stranden droht. Die Gemeinde feiert ein längst verschollenes Fest aus der historischen Weite des alten Berlins. Gegenüber, am lebenden Arm der Spree ist der Plänterwald hell erleuchtet, dort dreht sich das illuminierte Karussel hurtig im Wind, das renovierte Riesenrad zirkuliert endlich wieder mit johlenden Gästen an Bord, feiern die Dinosaurier fröhliche Urständ, während der Spreepark offenbar gerade endlich seine lang ersehnte, fröhliche Auferstehung feiert.

Und wenn Pjotr und Wanda nicht in der Rummelsburger Bucht oder gar auf der Viermastbark im Zeichen der neptunischen Stralauer Festgemeinde gelandet sind, werden sie als Gäste von der Nixe am Kai und ihrem Vater, dem Wassergeist, bewirtet in dem versunkenen Feen-Palast auf dem Grund des Rummelsburger Sees oder aber sie haben sich bald auf die Liebesinsel gerettet, trinken Schampus aus der Flasche, tanzen, verlustieren und wälzen sich im Rausch zur Musik der orphisch-synthetischen Klänge der Musikteppiche, die vom Ostkreuz herüberwehen, Zeit und Raum durchtränken, noch heute, denn "Paradise is NOT lost", wie es selbst die Zikaden zirpend sagen und die müssen es ja nun wirklich wissen...