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Kultur- und Nachbarschaftszentrum

Buch 2006

 

Zu diesem Buch

 

Als das RuDi-Nachbarschaftszentrum, das damals noch in einem Ladenlokal am Rudolfplatz residierte und sich schlicht Kiezladen nannte, 2002 zum ersten Ostkreuz-Schreibwettbewerb aufrief, war nicht vorauszusehen, was daraus entstehen könnte. Die Resonanz der Schreibenden war dann allerdings verblüffend, so dass auch den Skeptikern aufging, dass dieser größte, aber durchaus nicht ansehnlichste Berliner Nahverkehrsknoten als literarischer Topos schier unerschöpflich zu sein scheint. So entstand die später so genannte Ostkreuz-Serie, deren vierter Band hier vorgelegt wird.

Das Ostkreuz als inspirierender Ort der Poesie? Warum nicht? Und es scheint dies um so mehr dazu zu werden, als die ersten Rodungen zur Vorbereitung der künftigen Großbaustelle Ostkreuz bereits stattgefunden haben und allen klar wird, dass es mit der rostigen Idylle bald vorbei sein wird. Kunsthochschulen und Filmakademien, sogar weiter entfernte, schicken ihre Diplomanden dort hin, als gelte es, noch rasch etwas ganz Ungewöhnliches, Besonderes, das es bald nicht mehr geben wird, fest zu halten und einer staunenden Nachwelt, die Bahnhöfe nur als fliesen- und glasblanke Einkaufszentren mit Bahnanschluss kennt, zu überliefern.

Bahnhöfe und Warten, das gehört zusammen, jeder kennt das, vor allem dieses seltsame Phänomen, dass die Zeit sich für den ungeduldig Wartenden zu dehnen scheint, während sie sich für den Eiligen, der spät dran ist, auf unerklärliche Weise verflüchtigt.

Warten ist auch ein bewährtes dramatisches Mittel in der Literatur. Es wird viel gewartet: auf Godot, auf den Wald von Dunsinon; Wellington, so will es die Anekdote, wartet darauf, dass es Nacht werde und die Preußen kämen. Und in den ersten fünfzehn Minuten von Spiel mir das Lied vom Tod wird überhaupt nur gewartet: Irgendwo in amerikanischer Einöde sitzen schwitzende Cowboys in dreckigen Klamotten in der Hitze, fangen Fliegen und lauschen dem Quietschen des verrosteten Bahnhofschildes. Ob sich das Warten gelohnt hat? Wir wissen es.

Warten kann nicht endlos gedehnt werden, irgendwann muss etwas geschehen, das das Warten beendet, irgendwann muss man "zu Potte kommen". Das Warten definiert sich überhaupt erst durch das Eintreten des Erwarteten. Ein Freund verkündete eines Tages, nachdem er Monate lang auf die Rückkehr seiner Freundin gewartet hatte, dass mit dem Warten nun Schluss sei, es habe ganz unmerklich aufgehört, sich erschöpft, aufgebraucht. Er habe sich nunmehr "überwartet", so nannte er seine Heilung vom vergeblichen Warten. Warten hieße demnach, etwas zu erhoffen oder zu befürchten, und die Erlösung davon wäre dann das Ende von Hoffnung oder Furcht.

Manche Menschen warten nicht gern. Warten betrachten sie als leere Zeit, Zwischenzeit, Zeitverschwendung oder gar Zeit zum Totschlagen. Andere sind begabte Warter, immer gelassen, auch wenn der Zug oder der Postbote oder der Messias oder der Pizzaservice Verspätung haben. Sie würden auch Godot nie langweilig finden, andere dagegen schon: ein Stück, in dem "nichts geschieht außer Warten".

Aber muss Warten verschwendete oder tote Zeit sein? Mitnichten! Die Erzählerin in Lisa Laubrichs Geschichte Warte doch mal! In diesem Band entwickelt, wartend, eine ganze Theorie des Wartens und Vorschläge wider die bloße Zeitvergeudung.

Manchmal hat der Wartende auch Glück, wie in Warten auf Maria, und trifft einen geschwätzigen, disparaten Zeitreisenden, da vergeht die Zeit buchstäblich im Fluge.

Wir wünschen diesem Bändchen viele nicht gelangweilte Leser; auf dass ihnen die Zeit dabei gerade so lang werde, wie sie soll.

 

Berlin, im April 2006

 

Organisator dieses Wettbewerbs war das Nachbarschaftszentrum RuDi. Das Projekt wurde unterstützt und gefördert durch das Förderprogramm der Europäischen Union URBAN II. Eine Jury aus Fachleuten wählte die besten Beiträge aus, prämierte sie und stellte die Preisträger in einem feierlichen Rahmen der Öffentlichkeit vor. Die Zusammenstellung dieser Anthologie geschah – unabhängig von der Preisvergabe im Wettbewerb – nach rein kompositorischen Prinzipien.

Abschließend sei all jenen Dank gesagt, die am Wettbewerb und am Zustandekommen dieser Publikation beteiligt waren. Das schließt auch diejenigen ein, die die Förderung dieses Projekts durch die Europäische Union und das Land Berlin ermöglicht haben.

Buch 2006

 

Zu diesem Buch

 

Als das RuDi-Nachbarschaftszentrum, das damals noch in einem Ladenlokal am Rudolfplatz residierte und sich schlicht Kiezladen nannte, 2002 zum ersten Ostkreuz-Schreibwettbewerb aufrief, war nicht vorauszusehen, was daraus entstehen könnte. Die Resonanz der Schreibenden war dann allerdings verblüffend, so dass auch den Skeptikern aufging, dass dieser größte, aber durchaus nicht ansehnlichste Berliner Nahverkehrsknoten als literarischer Topos schier unerschöpflich zu sein scheint. So entstand die später so genannte Ostkreuz-Serie, deren vierter Band hier vorgelegt wird.

Das Ostkreuz als inspirierender Ort der Poesie? Warum nicht? Und es scheint dies um so mehr dazu zu werden, als die ersten Rodungen zur Vorbereitung der künftigen Großbaustelle Ostkreuz bereits stattgefunden haben und allen klar wird, dass es mit der rostigen Idylle bald vorbei sein wird. Kunsthochschulen und Filmakademien, sogar weiter entfernte, schicken ihre Diplomanden dort hin, als gelte es, noch rasch etwas ganz Ungewöhnliches, Besonderes, das es bald nicht mehr geben wird, fest zu halten und einer staunenden Nachwelt, die Bahnhöfe nur als fliesen- und glasblanke Einkaufszentren mit Bahnanschluss kennt, zu überliefern.

Bahnhöfe und Warten, das gehört zusammen, jeder kennt das, vor allem dieses seltsame Phänomen, dass die Zeit sich für den ungeduldig Wartenden zu dehnen scheint, während sie sich für den Eiligen, der spät dran ist, auf unerklärliche Weise verflüchtigt.

Warten ist auch ein bewährtes dramatisches Mittel in der Literatur. Es wird viel gewartet: auf Godot, auf den Wald von Dunsinon; Wellington, so will es die Anekdote, wartet darauf, dass es Nacht werde und die Preußen kämen. Und in den ersten fünfzehn Minuten von Spiel mir das Lied vom Tod wird überhaupt nur gewartet: Irgendwo in amerikanischer Einöde sitzen schwitzende Cowboys in dreckigen Klamotten in der Hitze, fangen Fliegen und lauschen dem Quietschen des verrosteten Bahnhofschildes. Ob sich das Warten gelohnt hat? Wir wissen es.

Warten kann nicht endlos gedehnt werden, irgendwann muss etwas geschehen, das das Warten beendet, irgendwann muss man "zu Potte kommen". Das Warten definiert sich überhaupt erst durch das Eintreten des Erwarteten. Ein Freund verkündete eines Tages, nachdem er Monate lang auf die Rückkehr seiner Freundin gewartet hatte, dass mit dem Warten nun Schluss sei, es habe ganz unmerklich aufgehört, sich erschöpft, aufgebraucht. Er habe sich nunmehr "überwartet", so nannte er seine Heilung vom vergeblichen Warten. Warten hieße demnach, etwas zu erhoffen oder zu befürchten, und die Erlösung davon wäre dann das Ende von Hoffnung oder Furcht.

Manche Menschen warten nicht gern. Warten betrachten sie als leere Zeit, Zwischenzeit, Zeitverschwendung oder gar Zeit zum Totschlagen. Andere sind begabte Warter, immer gelassen, auch wenn der Zug oder der Postbote oder der Messias oder der Pizzaservice Verspätung haben. Sie würden auch Godot nie langweilig finden, andere dagegen schon: ein Stück, in dem "nichts geschieht außer Warten".

Aber muss Warten verschwendete oder tote Zeit sein? Mitnichten! Die Erzählerin in Lisa Laubrichs Geschichte Warte doch mal! In diesem Band entwickelt, wartend, eine ganze Theorie des Wartens und Vorschläge wider die bloße Zeitvergeudung.

Manchmal hat der Wartende auch Glück, wie in Warten auf Maria, und trifft einen geschwätzigen, disparaten Zeitreisenden, da vergeht die Zeit buchstäblich im Fluge.

Wir wünschen diesem Bändchen viele nicht gelangweilte Leser; auf dass ihnen die Zeit dabei gerade so lang werde, wie sie soll.

 

Berlin, im April 2006

 

Organisator dieses Wettbewerbs war das Nachbarschaftszentrum RuDi. Das Projekt wurde unterstützt und gefördert durch das Förderprogramm der Europäischen Union URBAN II. Eine Jury aus Fachleuten wählte die besten Beiträge aus, prämierte sie und stellte die Preisträger in einem feierlichen Rahmen der Öffentlichkeit vor. Die Zusammenstellung dieser Anthologie geschah – unabhängig von der Preisvergabe im Wettbewerb – nach rein kompositorischen Prinzipien.

Abschließend sei all jenen Dank gesagt, die am Wettbewerb und am Zustandekommen dieser Publikation beteiligt waren. Das schließt auch diejenigen ein, die die Förderung dieses Projekts durch die Europäische Union und das Land Berlin ermöglicht haben.

Franziska Dreke - Stille

 

Franziska Dreke
Stille

 

Die Münzen waren ganz warm von der langen Umklammerung ihrer Hand, als sie sie der Verkäuferin über den Tresen schob. Diese ordnete sie mürrisch in ihre Kasse ein und klebte das Papier um die Blumen noch mit zwei extra Streifen Klebeband fest, bevor sie sie ihr in die Hand gab. Obwohl die Dornen sicher entfernt worden waren, umfasste sie den Strauß lieber weit unten und verabschiedete sich, als sie sich herumdrehte. Hinter ihr kam keine Antwort. Etwas zögernd trat die alte Dame auf den unteren Bahnsteig des Bahnhofs hinaus, unter dem rechten Arm ihre sandfarbene Handtasche, mit der linken Hand den Blumenstrauß eng an den Körper gedrückt.

Sie wandte sich nach rechts, und ihre zierliche Gestalt bewegte sich langsam aber zielsicher durch die vorübereilenden Leute in Richtung Treppe. Sie war sicher schon siebzig, aber ihr Schritt war fest und ließ ihr hohes Alter nicht erkennen. Sie hatte keinen Stock und brauchte auch keinen, wie sie immer wieder selbst zu betonen pflegte, denn sie wusste: Wer einmal mit Stock lief, lief immer mit Stock. Als sie die Treppe erreichte, kamen die vielen Stufen, aber sie überwand sie, die rechte Hand fest am Geländer. Wie immer ging sie bis zum ersten Pfeiler, wo sie begann, nach einem freien Platz Ausschau zu halten. Ihre Beine schmerzten ein wenig und sie war etwas außer Atem vom Treppensteigen. Die erste Bank war besetzt – dort saß ein junges Mädchen, das gerade an einen großen Hund eine Eiswaffel verfütterte, aber die zweite war frei und sie ließ sich dankbar darauf nieder, nachdem sie die Blumen vorsichtig auf den alten Holzverstrebungen abgelegt hatte.

"Lachsfarbene Röschen", dachte sie, "genau, wie du sie magst. Weißt du noch… damals… der Rosenbusch vor unserem Haus. Aber natürlich weißt du das noch — so eine Blütenpracht — das hatten wir nur das eine Jahr. Ja, das vergisst man nicht — auch du nicht. Ich bin sicher, dass du das noch weißt… irgendwo…".

Dann dachte sie für eine lange Weile gar nichts mehr und schaute einfach nur auf die Gleise hinunter und auf die Züge, die mit Menschen gefüllt vorfuhren und zurückkamen, nachdem sie ihre Passagiere irgendwo ausgespieen hatten, nur um gleich wieder neue an Bord zu nehmen — in einem ewigen Kreislauf hin und zurück und zurück und hin. Ein Mann mit einem Fahrrad lief auf dem Bahnsteig an ihr vorbei und pausenlos eilten Menschen hin und her — Leute auf dem Weg zur Arbeit, Frauen mit Einkaufstüten, die immer wieder nervöse Blicke zur Uhr warfen, Hunde, die ihre Herrchen hinter sich herzogen und Bratwurstgeruch nachjagten, und kichernde Mädchen, die untergehakt gingen und kurze Röcke trugen. Ein Liebespaar mit umeinander gelegten Armen stand nicht weit entfernt und schien doch ganz weit weg in einer anderen Welt zu sein.

Die alte Dame saß unbemerkt auf ihrer Bank und schaute hinaus auf die Bäume hinter den Gleisen und auf den Wasserturm, dessen vertraute Silhouette, die wuchtig die Bäume überragte, ihr wie ein alter Bekannter vorkam. Sie saß gerade und hielt ihre Hände im Schoß. Der Platz auf der Bank war sonnig und warm, und sie atmete die Luft in tiefen Zügen. Es roch nach Bäumen im Sommer und warmen Croissants vom Backstand weiter unten und ein wenig nach Zigarettenrauch, aber nur ein wenig. Eine Taube ließ sich nah bei ihr auf dem Boden nieder und schaute neugierig herüber. Die alte Dame schaute durch ihre goldgeränderte Brille zurück. Ihre Augen waren dunkelblau und sahen in dem von vielen kleinen Falten durchzogenen Gesicht, das von sorgfältig gelegten grauen Löckchen umrahmt wurde, wie tiefe Bergseen aus. »Hunger?« fragte sie die Taube. Diese schaute stumm zurück.

"Ich habe heute aber kein Brot dabei. Vielleicht morgen."

Die Taube legte den Kopf schief, ihre winzigen Knopfaugen sahen aus wie schwarze glänzende Steine. Dann erhob sie sich und flog träge davon. Die alte Dame sah ihr nach und glättete dabei eine Falte in ihrer hellen Stoffhose. Die olivgrüne Leinenjacke, die sie dazu trug, war jetzt schon fast zu warm, aber sie wollte sie dennoch nicht ausziehen, weil sie wusste, dass sie sie später wieder brauchen würde.

Schließlich erhob sie sich, schob die Handtasche unter den rechten Arm und nahm den Blumenstrauß. Langsam ging sie in Richtung Treppe zurück. Sie konzentrierte sich darauf, vorsichtige Schritte zu machen und darauf zu achten, wohin sie trat. Sie kannte hier zwar jeden Zentimeter, aber man konnte schnell umknicken – nicht auszudenken! Nein, in ihrem Alter musste man sich vorsehen. Während sie sich langsam der Treppe näherte, kreisten ihre Gedanken wirr in ihrem Kopf herum, Bilder aus der Vergangenheit mischten sich mit solchen aus der Gegenwart und sie sah Willi lachend mit ausgebreiteten Armen unter sich stehen und hörte, wie er ihr zurief: "Spring doch, hab keine Angst Liebes, ich fang’ dich doch auf!" Es duftete nach Heu und für einen Moment war sie wieder jung. Dann sah sie Max mit seinem Abschlusszeugnis strahlend auf der Bühne – wie stolz waren sie auf ihn gewesen als er da oben stand und sie konnte sich erinnern, wie sie sich gleichzeitig traurig gefühlt hatte, als ihr klar wurde, dass er nun kein Kind mehr war. Jetzt war er weit weg und viel unterwegs und nach Hause zog es ihn nur noch selten. Die Bilder wechselten nun in schneller Folge, wie viele einzelne Schnappschüsse aus einem langen Leben zogen sie an ihr vorbei. Sie selbst im Brautkleid, Willi vor dem ersten Auto, Max als zahnloser Knirps mit geflickten Hosen, Bilder im Garten, im Hintergrund der Wasserturm, Weihnachten, Ostern, Max mit Gipsarm und verwackelte Urlaubsbilder der Familie am Meer. Schließlich hörte sie, als wäre es gerade gestern gewesen, die schrille Sirene des Krankenwagens und sie sah sich selbst, wie sie mit weit aufgerissenen Augen auf die Türen mit den Milchglasscheiben und dem roten Kreuz starrte, hinter denen Willi verschwunden war.

In der S-Bahn presste sie eine Hand gegen die kühle Scheibe. Graffiti und Kratzer liefen unter ihren runzligen Fingern über das Glas, dahinter glitt die Welt wie ein verschwommenes Bild aus einem sich drehenden Karussell vorbei. Grüne Bäume, graue Häuser, Himmel, Menschen, Straßen verschmolzen zu Linien, Strichen, Farbenspielen. Türen auf, Türen zu, Menschen strömten hinein und hinaus, eilende Massen, draußen Sonnenschein, Sommer, Lachen, Stimmengewirr — aber weit entfernt wie durch eine Glasglocke. Die alte Dame hielt sich an der gepolsterten Lehne ihres Sitzes fest wie eine Gestrandete auf einer Insel inmitten wilder Wogen. Für einen Moment schloss sie die Augen. Sie konnte die Stille sehen.

Das Krankenhaus war ein Gebäude aus rotem Backstein. Es war nicht nur ein Krankenhaus, es sah auch so aus. Hinter dem Haupthaus ein Park mit hohen, sehr alten Bäumen. Überall herrschte feierliche Stille. Wie in einem Dom – oder einem Friedhof –, dachte sie. Durchbrochen wurde die Stille nur von dem Knirschen der Räder der Rollstühle auf den Kieswegen. Es gab viele Rollstühle in diesem Park, manche geschoben von Familienangehörigen, manche von Freunden, viele vom Krankenhauspersonal. Während sie den gepflegten Hauptweg entlang ging, blieb der Lärm der Straße hinter ihr zurück. Vögel sangen.

Der Gang zu seinem Zimmer war lang und weiß. Gebohnerte hellgraue Linoleumböden, weiß gestrichene Wände, hohe weiße Decken, weiße Vorhänge. Einige bunte Bilder an den Wänden, mit denen sie nichts anfangen konnte. Farben eben, irgendetwas Modernes. Eine große Zimmerpflanze, deren Blätter staubig aussahen. Es roch nach Desinfektionsmitteln und Trostlosigkeit. Selbst die offenen Fenster zum Park konnten den Geruch nicht vertreiben. Ihre Schritte waren kaum zu hören, denn die Gummisohlen ihrer leichten Sommerschuhe machten kein Geräusch auf dem glatten Boden. Überhaupt war in diesem Teil des Krankenhauses selten etwas zu hören. Totenstille – schoss ihr durch den Kopf, dann schob sie den Gedanken schnell beiseite und hielt den Blumenstrauß noch etwas fester.

Das Gesicht ihres Mannes in dem weißen Bett wirkte blutleer und seine Gestalt unter der Bettdecke winzig wie die eines Kindes. Sie saß an seiner Seite auf dem einzigen Stuhl im Raum und hielt seine faltige Hand. Sie war warm aber schlaff und wirkte beinahe zerbrechlich. Eine der vielen Maschinen piepte unaufhörlich mit einem hellen, gleichmäßigen Ton. Sie schloss die Augen und dachte an ein U-Boot unter Wasser, und für einen Moment fiel ihr das Atmen schwer. Dann öffnete sie die Augen wieder und ließ sie auf dem blassen Gesicht ihres Mannes ruhen. Seine hellblauen Augen starrten ausdruckslos an die Decke, ein milchiger, sie bedeckender Film machte seltsame Farbspiele wie in einer Seifenblase. Die Maschine piepte ungerührt in die Stille hinein, weit entfernt schlug eine Tür zu, und Flüssigkeit in einem Plastiksäckchen an einer Stange neben ihr lief durch einen Plastikschlauch, der unter dem Bett verschwand.

"Willi", flüsterte sie, "ich habe dir lachsfarbene Röschen mitgebracht".

Sie drückte seine Hand und zeigte mit dem Kopf auf die Blumen in der viel zu kleinen Vase. Die milchblauen Augen starrten unverändert an die Decke.

"Weißt du noch… — aber natürlich weißt du noch…"

Der Himmel draußen war blau und der laue Wind spielte mit der Gardine. Vom Fenster ihrer gemeinsamen Wohnung konnte man den Wasserturm sehen. Hier sah man nur einen alten Schornstein hinter den Baumkronen des Parks. Der Turm wird ihm fehlen, wenn er aus dem Fenster sieht, dachte sie.

"Es ist unwahrscheinlich, dass er noch mal aufwacht", hatte der Arzt ihr gesagt, "und wenn, dann wissen wir nicht, in welchem Zustand er sein wird."

Aber sie wusste es besser. Es war nur eine Frage der Zeit.

"Er muss sich nur ausruhen, wissen Sie. Er hat doch so viel gearbeitet in seinem Leben", hatte sie dem Arzt geantwortet und der hatte sie hilflos angesehen, die kleine Frau mit den dunklen Augen und dem faltigen Mund, um den ein wissendes Lächeln spielte.

Sie saß an seinem Bett und drückte die schmale Hand ihres Mannes. Ich warte auf dich, ich warte bei uns zu Hause — nein, wir warten, der alte Wasserturm und ich. Bald wirst du ihn wieder sehen von unserem Fenster aus, dann bist du wieder daheim, dachte sie, und ihre Gedanken reisten zurück. Die Jahre flogen vorbei und schrumpften zusammen zu einem unbedeutenden Ballast, den man irgendwo stehen lässt, ohne es überhaupt zu bemerken. Willi. Seine große Gestalt war ihr sofort aufgefallen unter all den anderen auf dem Festplatz. Seine einst schwarzen Haare waren immer etwas zu lang gewesen, wie sie sich plötzlich erinnerte. Dann, im Vorbeigehen, hatte sie ihm ins Gesicht gesehen und geglaubt, in dem Blau seiner Augen ertrinken zu müssen. Wieder sah sie ihn vor sich, genau wie damals und erinnerte sich an sein lausbübisch verschmitztes Lächeln, das sie so mochte und das er selbst im Alter nie verloren hatte. Jetzt saß sie hier wie so viele Male zuvor und hielt seine Hand. Sie fühlte den Lebensstrom darin und spürte, wie ihre innere Ruhe zurückkehrte.

"Ich komme morgen wieder, Willi", flüsterte sie und führte seine schlaffe Hand an ihre Lippen. Ihr Kuss war sanft und kaum spürbar wie der Flügelschlag eines sehr kleinen Vogels. Als sie an der Tür zurückblickte, waren die blaumilchigen Augen unbewegt.

Im Park war sie zuerst geblendet, als sie ins Licht hinaustrat. Inzwischen war es sehr warm geworden, und die Sonne malte durch die Baumkronen wandernde Lichtflecken auf die Wege. Vor dem Hauptportal befand sich ein Springbrunnen mit niedrigem Rand, in dessen Mitte eine kleine plätschernde Fontäne funkelnde Wasserkaskaden in die Luft schickte. Die alte Dame blieb in der Nähe stehen und sah lächelnd zu, wie zwei kleine Jungen sich mit Wasser bespritzten und laut lachend um den Springbrunnen liefen. Ihre Mutter ermahnte sie vergeblich, sich still zu verhalten. Die alte Dame stand mitten auf dem Weg und spürte, wie die Sonne wärmend auf ihr Gesicht schien. Sie sah die Lichtspiele der Tropfen und hörte die Vögel zwitschern. Leise Stimmen kamen von den besetzten Bänken rings um den Brunnen und das Lachen der spielenden Kinder klang hell und fast wie Musik. Ein schalkhaftes Lächeln breitete sich auf ihrem alten wissenden Gesicht aus und ihre dunkelblauen Augen strahlten. Die vielen Falten in ihrem Gesicht sahen wie ein fein gesponnenes Netz aus, und sie setzte sich in Bewegung.

Die schimpfende Stimme der Mutter verstummte plötzlich als sie staunend zusah, wie die alte Dame langsam Schuhe und Strümpfe auszog, ihre Füße behutsam in das flache, kalte Wasser setze und glücklich lächelnd mitten im Brunnen stehen blieb.

Katharina Triebe - Herr Lemke

 

Katharina Triebe
Herr Lemke

 

Wer eilet zum Ostkreuz mit wehenden Haaren?
Herr Lemke ist’s, will nach Hause fahren.

Nach Erkner muss er, die Zeit wird knapp,
Treppe rauf, Treppe runter, fast macht er schlapp.

Lemke schwitzt, muss am Geländer verpusten,
beim Laufen quält ihn ein trockener Husten.

Noch rasch die letzten Meter zum Bahnsteig E
da setzt die S-Bahn sich in Bewegung – oje!

"Volltrottel, Blödmann!" ruft er dem Fahrer hinterher,
der ist fast schon in Rummelsburg, hört ihn längst nicht mehr.

Enttäuscht sinkt Lemke auf die nächstbeste Bank.
Zwanzig Minuten warten, das macht ihn fast krank.

Auf dem Bahnsteig zieht’s, er wird sich erkälten,
daheim die Gattin, was wird sie schelten.

Plötzlich geht durch den müden Körper ein Ruck,
der Pulsschlag setzt aus, es steigt der Blutdruck.

Ein Duft zieht herüber von Bahnsteig C —
ofenfrische Brezeln und Milchkaffee.

Welch gute Idee, er wird etwas essen.
Fast hätt’ er vor Eile die Tasche vergessen.

Treppe rauf, Treppe runter zum Bäcker-Stand,
auf Bahnsteig C, die Schlange ist lang.

Geduld ist vonnöten, bald muss er sich sputen,
bis zur Zugabfahrt bleiben noch drei Minuten.

Endlich bezahlt – Treppe rauf und hinunter,
der Kaffee schwappt und die Brezel fällt runter.

Schnell rein in den Zug und erst einmal setzen,
Doch dann packt Lemke das blanke Entsetzen.

Der Kaffee ist leer, die Brezel voll Sand,
und die Tasche — vergaß er am Bäcker-Stand.

Er springt wieder raus und hastet zurück,
seine Tasche steht noch da — welch ein Glück.

Jetzt ist die Bahn weg, doch Lemke tut’s nicht leid,
willkommen sind ihm zwanzig Minuten Wartezeit.

Er findet eine Bank, streckt genüsslich die Beine aus,
ihm doch egal, kommt er eben später nach Haus.

Lieselotte Bergann - Gründonnerstag

 

Lieselotte Bergann
Gründonnerstag

 

Es war an einem Gründonnerstag und ich wollte Ostereier in den Hügeln der uckermärkischen Endmoränen verstecken und suchen lassen. Vom Bahnhof Lichtenberg ging ein Regionalzug ohne umzusteigen bis nach Stettin. Den hatte ich mir ausgesucht und das Abholkommando an den letzten Haltepunkt vor der Grenze bestellt. Aber bereits die S-Bahn endete am Ostkreuz, Weiterfahrt an den Bahnsteigen C und D, mit Verspätungen sei zu rechnen und man bäte die werten Fahrgäste um Verständnis. Was heißt hier verstehen? Was, wo, wie, wen und vor allem warum? Zu warten haben Sie! Punkt! Nur diese eine Eigenschaft wird verlangt, und zwar sofort, und je besser sie entwickelt ist, um so angenehmer für den Fahrgast und die Deutsche Bahn. Und als Ort dieser charakterlichen Weiterbildung hat sie, die DB, sich den Bahnhof Ostkreuz ausgesucht. Nicht gerade neu, diese Wahl!

Nun irren sie umher auf dem Treppenlabyrinth, die Probanden des nie geplanten, aber oft wiederholten Experimentes: Wie forme ich geduldige, belastbare, gutgelaunte Bürger? Neulich sah ich ein Exemplar genau dieses Typs in einer Zeitschrift. Sie kam von weit her, hieß Lucia, war dunkelhäutig, stammte aus Sambia, studierte in Tübingen, lehnte an einem Zaun, Bücher unter dem Arm, die Füße in Turnschuhen lässig gekreuzt. Sie lachte, offen, herzlich, eine Spur spöttisch vielleicht, und ich versetze mich Jahrzehnte zurück in meine Jugend und denke: "So hättest du nie an einem Zaun lehnen können, so heiter und selbstsicher vor einem Fotografen im Anschlag! Im fremden Lande obendrein! Braune Lucia, wie heißt deine Glücksformel? Ob das auch eine für mich wäre? Fürs Glück ist es nie zu spät!" Weiter unten lese ich, was sie dem Reporter in der Umfrage europaweit zum Thema Zeit, also auch Warten, gesagt hat: "Das war das Schwerste für mich, pünktlich zu sein. Jetzt kann ich es. Aber was soll ich dann in Sambia damit? Wir Afrikaner sagen: Ihr Weißen habt die Uhr, wir haben die Zeit. Und Zeit kommt immer wieder nach, für jeden, und die wird nicht alle. Wo ist also das Problem? Aber was mir noch auffällt, bei Sonne seid ihr alle viel fröhlicher. Wir haben viel Sonne, fast immer. Liegt es daran: Sonne, Zeit und fröhlich sein? Und muss man sie immer mit sich herumtragen, die Zeit, und kontrollieren, ob sie auch vergeht? In Sambia wissen wir das! Ohne dauernd nachzusehen!"

Lucia, da ist die Spur Spott, die ich dir schon angesehen hatte auf dem Bild am Zaun! Wie solltest du auch fertig werden, ohne das kleine Anheben des linken Mundwinkels, mit dieser geballten Macht an Pünktlichkeit und Zeitkontrolle um dich herum im nördlichen Lande?

Afrikanische Sonne und der Verlass auf sie ist ein starker Trumpf. Heute aber ist grauer April, Himmel, Bahnsteig, Mäntel, Gesichter, Fensterscheiben, alles grau; schwarz das alte Gestänge, das die Dächer über den Bahnsteigen trägt, die noch fast kahlen Bäume, der nasse, dunkle Putz der Häuser. Ich und die Menschen mit den Aprilgesichtern auf den S-Bahnsteigen sollen verstehen — und ganz bestimmt verzeihen; denn das ist der Sinn auch dieses mit Kreide auf schwarzer Tafel geschriebenen Spruches, zusätzlich zur Durchsage —, dass wir jetzt hier stehen, lehnen, sitzen müssen, wer weiß, wie lange. Irgendwie rührend, denke ich, dieser direkte Weg; wie in der ersten Klasse mit Kreide auf Schiefertafel! Erinnert ein bisschen an Sambia! Und tatsächlich sehe ich ab jetzt die Mitwartenden mit den Augen Lucias, wie sie mit raschem Griff den Ärmel hochschieben: Zeitkontrolle! Stimmt sie? Vergeht sie? Dazwischen wird mancher zum Käfigtiger, fünf Schritte Richtung Strausberg, Kehre, fünf Schritte Spandau. Nein, das ist nicht Sambia, das ist Ostkreuz. Selbst durch Stau auf der Autobahn Erprobte bestehen den Haltungstest nicht. Die Schuldfrage ist aber auch eine ganz andere: hier eine bezahlte, garantierte Dienstleistung, seit 150 Jahren verinnerlichte Forderung: Pünktlichkeit! Auf der Straße aber das unlösbare Naturgesetz, jedes Wochenende, vor Ferienbeginn und -ende zu erleben, zu erleiden: der Stau! Das ist Physik und Mathematik zusammen.

Der Mensch hat sich zu fügen. Mit Geduld und Einsicht! Protest sinnlos! Aber S-Bahn-Panne am Ostkreuz? Alle Anschlüsse, Abholkomitees, letzte Osterkäufe geplatzt! Und dann Verständnis? Keine Antworten auf wo, wann, warum, wie lange und wer oder was ist Schuld?

Ein Herr im offenen Mantel tigert besonders ausdrucksvoll auf und ab. Zwei große Koffer hat er auf die einzige Bank gestellt. Die steure ich an und fühle nach dem Reclam-Bändchen in der Manteltasche. Der Herr trabt weiter, es ist Platz genug für mich und Adalbert Stifter. Das ist der aus der Manteltasche! Genau der Richtige jetzt; Landschaft, Ruhe, Idyll, Pferdegetrappel, kein Fahrplan, kein Stau, aber viel Geduld! Vielleicht wie Sambia?

Der Kofferbesitzer unterbricht seine Schrittfolge, prüft die vier Schlösser und die Straffheit der beiden Riemen um die Koffer herum, vielleicht auch mich, trabt weiter. Ich aber reise 157 Jahre zurück nach Wien zu Adalbert Stifter ins Jahr 1842, als er dort in den frühen Morgenstunden des 8. Juli von der Warte des Hauses Nr. 495 die Sonnenfinsternis erlebte und sie mit einer Eindringlichkeit beschreibt, dass ich beschließe: "Das will ich auch erleben!" Und das geht! In unserem Land, in diesem Jahr 1999, am 11. August! Gegen Mittag wird im Süden Deutschlands eine totale Sonnenfinsternis zu beobachten sein und dann lange Zeit nicht wieder.

Aber es war der entscheidende Satz Adalbert Stifters:

"Nie und nie in meinem ganzen Leben war ich so erschüttert, von Schauer und Erhabenheit so erschüttert, wie in diesen zwei Minuten… !", der mich verzaubert hat auf dieser Bank, Bahnsteig D, Bahnhof Ostkreuz, an einem grauen Gründonnerstag im April 1999, und ich fühlte sofort: So etwas erlebt man nur einmal im Leben! Und ich würde Ernst machen und in die Zone der totalen Sonnenfinsternis fahren. Stuttgart, Karlsruhe, Augsburg, München, in einer der Städte würde ich die zwei Minuten "von Schauer und Erhabenheit" erleben, als 1842 in Wien " — deckend stand nun Scheibe auf Scheibe — … ein einstimmiges "Ah!" aus aller Munde und dann Totenstille…" herrschte. "Nach dem ersten Verstummen des Schrecks… Laute der Bewunderung und des Staunens: Der eine hob die Hände empor, der andere rang sie leise vor Bewegung. Andere ergriffen sich bei denselben und drückten sich — eine Frau begann heftig zu weinen, eine andere in dem Hause neben uns fiel in Ohnmacht, und ein Mann, ein ernster, fester Mann, hat mir später gesagt, dass ihm die Tränen herabgeronnen." So Stifter vor 157 Jahren!

Dieses Ereignis also würde in ein paar Monaten in unserem Lande stattfinden. Na, da muss man doch einfach hinfahren! Ich war noch nie so fest entschlossen!

Irgendwann kam die S-Bahn. In Lichtenberg war der durchgehende Zug weg. Ich musste in Angermünde umsteigen für das letzte Stück zu meinem Ziel.

Auf dem Bahnsteig stand wieder eine Bank, auf der Bank wieder zwei große Koffer mit Riemen um die Mitte, der Mann im hellen offenen Mantel daneben. Er schien auf mich zu warten, deutete auf die Koffer, mit einer Geste über die Gleise, über ein Feld zu flachen Häusern, auf sich und dann auf mich. Ehe ich ihn noch erreicht hatte, war mir mein Auftrag klar: Ich sollte seine Koffer bewachen. Ich kannte sie ja und hatte mich offensichtlich auf der Bank auf dem Bahnhof Ostkreuz bewährt. Er schien noch etwas Dringendes vor zu haben da drüben. Ich nickte. Zeit für Erklärungen war nicht, die Lok für den bereitgestellten Zug würde bald einfahren. Der Mann sprang vom Bahnsteig in die Gleise — ich war in dem Moment Komplizin bei einer Straftat — bezog aber meinen Posten auf der Bank. Stifter musste warten. Im Zug zu den Endmoränen würde ich wieder Zeit für ihn haben.

Ich nahm meine Aufgabe ernst, verfolgte rechts das Rangieren der Lok und geradeaus das Herannahen meines Auftraggebers mit wehendem Mantel und einem Beutel in jeder Hand. Seine Sprünge waren weit und hoch, ja übermütig. Er gewann das Wettrennen, lächelte mir glücklich zu und dankte mit einer tiefen Verbeugung, wortlos; denn als er auf den Bahnsteig sprang, war meine Aufgabe beendet und ich suchte mir ein leeres Abteil, um mich wieder dem "Schauer und der Erhabenheit" der Sonnenfinsternis hinzugeben. Fensterplatz in Fahrtrichtung, Lesevergnügen für etwa eine Dreiviertelstunde. Ich schloss die Tür zum Gang. Es ruckte im Zug, wir waren komplett.

Pünktliche Abfahrt, Lucia! Das hat doch was! Schön, dass du das in Tübingen gelernt hast. Es ist ja auch immer ein Stück eingelöstes Vertrauen, das wir in andere haben, das aber eben auch andere Menschen in uns haben. Und du wirst es brauchen in deinem Leben. Aber deine Gedanken über die Zeit, die werde ich auch — von Zeit zu Zeit — brauchen können; wie heute zum Beispiel, beim Warten auf Bahnsteigen. Wäre mir sonst dein Bild aus der Zeitschrift in den Sinn gekommen? Und hätte Adalbert Stifters "Sonnenfinsternis am 8. Juli 1842" so eine Wirkung auf mich gehabt ohne die Sonne Sambias auf dem Bahnhof Ostkreuz, die aus deiner Antwort auf die Umfrage leuchtete?

Aber die Fahrt ist noch nicht zu Ende. Die Tür wird aufgezogen: Der Mann mit den Koffern bittet um einen Platz im Abteil für sich und sein Verpackungsproblem. Die beiden Neuerwerbungen müssen auch noch in die prallen Koffer. In Wahrheit aber ist es die Verwirklichung des Lutherwortes: Wovon das Herz voll ist, des gehet der Mund über! Ich merke es schnell. Nach der "Tschuldigung! Bitte Tschuldigung!" für sein Eindringen in mein Abteil und dem Dank für meine Kofferwache bringt er die eigentliche Begründung: "Nur ein Wort, bitte! Seit heute früh fünf Uhr kein Wort, kein einziges Wort! Ich muss sprechen! Seit heute früh in Minden kein Wort! Das sind elf Stunden! Und so viele Leute!" Ein Notfall! Ich hatte immerhin Adalbert Stifter in der Zwischenzeit und arbeitete an einem Plan für den 11. August, der mich voll beanspruchte. Aber jetzt ist Hilfe gefordert, in Wort — das zuerst — und Tat.

Die zwei voluminösen Neuerwerbungen sind Schokoladenostereier der Größe XXL, geschmückt mit starren rosa und blauen Seidenschleifen und einer Brut gelber Plüschküken, beide für eine einzige Frau, seine Frau, Libusche in Stettin, eins für den Ostersonntag auf dem Frühstückstisch, eins für den Montag. Er hält sie weit von sich, dass ich sie auch richtig bestaunen kann. Wunderschön! Die Seidenschleifen, die Küken schimmern gelbgesäumt im Gegenlicht. Seit Angermünde scheint doch tatsächlich die Sonne. Jetzt gilt es, die beiden empfindlichen Übereier in die Koffer zu packen. Das sind ja nicht einfach Schokoladen-Hohlkörper, Warenbezeichnung in der DDR für Tier- und Menschennachbildungen in Schokolade zu den Festen. Es sind Gaben der Liebe nach zehn Wochen Trennung und nun vierzehn Tagen Zusammenseins.

Die Koffer werden auf der freien Bank umgepackt, die kostbaren Gebilde in die Mitte, abgepuffert von allen Seiten mit Pullovern und Hemden, dabei keinen Hügel schaffen, damit die Deckel zugehen. Auch das gelingt. Ich drücke sanft und mehr an den Rändern. Die Schlösser rasten ein. Die Riemen sichern wie bisher. Der polnische Schiffsbauer, Pendler zwischen Stettin und Minden, auf der Heimfahrt zu seiner Liebsten, die ich nun auch kennen lerne: Libusche am Strand, auf dem Sofa, am Geländer, Libusche an einen Baumstamm gelehnt mit Katze im Arm und neckisch von unten her blickend, immer fröhlich, eine rundliche dunkelhaarige junge Frau. Der Schiffsbauer blättert die Serie noch einmal auf, ehe er sie in der Innentasche verstaut. Er dankt mir mit einem Handkuss, so unvermutet und formvollendet, dass ich ihm seine Hand kräftig drücke. Ich glaube, das ist unpassend für eine Dame bei solch edler Geste. Womöglich bin ich auch noch errötet. Ein Handkuss im Regionalzug! Wie soll man sich darauf vorbereiten?

Mein Haltepunkt naht. Man muss sich rechtzeitig bemerkbar machen, meist ist man der einzige Fahrgast. Aber heute habe ich einen Begleiter. Er springt vor mir die Stufen hinunter, reicht mir den Arm und verabschiedet sich — mit einem Handkuss! Kann es sein, dass der unter freiem Himmel nach dem Freiherrn von Knigge nur einer Königin zusteht? Nun sei’s drum! Jedenfalls ist er bei mir unvergessen. So wie alles, was sich auf dem Bahnsteig D, Ostkreuz, und vor allem seitdem ereignet hat.

Und das hat sich ereignet:

Das Abholkomitee am Haltepunkt war zur Stelle, hatte die Wartezeit mit einer Wanderung in der Endmoräne verbracht, Verstecke für Ostereier ausgespäht, ein Rudel Rehe gesichtet, war Zeuge des galanten Handkusses geworden, fragte sofort: "Oma, wer war denn das Tolles?" und imitierte ihn, den Handkuss, bei jeder Begrüßung während der Osterfeiertage, schon beim Frühstück, drinnen und draußen, ohne auch nur im Entferntesten die Eleganz meines Zugbegleiters zu erreichen. Es gibt eben Ereignisse im Leben, die sind singulär … und bleiben es auch!

Für den 11. August 1999 habe ich mir die Stadt Karlsruhe ausgesucht. Sie liegt im Totalitätsstreifen, und die Sonne würde zwei Minuten, acht Sekunden verdeckt sein, mittags so gegen halb eins. Fahrkarte, Hotel waren gebucht, Stadtplan studiert, Fachausdrücke wie Korona, Protuberanzen, Brillantring, Ekliptik beherrschte ich, hatte mir eine Schutzbrille gekauft und stand mit etwa 3000 Sonnenanbetern auf dem Schlossplatz. Die wilden Wolkenwirbel vor der Sonne gefallen niemandem. Buhrufe ertönen immer lauter, je näher der Termin der Schwarzen Sonne rückt. Wäre Stuttgart doch der bessere Ort gewesen? Man hatte ihn mir geraten: neun Sekunden längere totale Finsternis! Zu spät, jetzt stehe ich auf dem Platz in Karlsruhe und buhe mit. Aber dann pünktlich halb eins zieht der dunkle Wolkenhaufen ab. Das richtige Stück Himmel ist frei geräumt, die Sonne strahlt … noch, gedämpft schon. Durch die Brille sehe ich den Schatten, der sich rasch weiter schiebt.

Dann der herbeigesehnte Augenblick und alles genau wie 1842 bei Adalbert Stifter das "AH!" Dreitausendstimmig, dann Totenstille. Ein paar erschrockene Vogelrufe. Ein schwarzer Schwarm kreist aufgeregt im Schwirrflug, aber lautlos über dem Bundesverfassungsgericht. Die Brillen wurden abgesetzt. Wildfremde Menschen gaben sich die Hand. Die Hessenfamilie auf dem Steinsims neben mir zog Pullover an für die zwei Minuten Kühle, holten eine Flasche Sekt aus dem Rucksack und Pappbecher und alle Berliner, Sachsen und Hessen, die die Begeisterung für die Schwarze Sonne zusammengeführt hatte, prosteten einander zu. In Ohnmacht, wie damals in Wien, sah ich niemand fallen, wohl aber weiß ich von einer "ernsten, festen Frau" — Stifter wusste von einem Mann dieses Formates — "dass ihr (ihm) die Tränen herab geronnen." Sie trank zwar schon Sekt, war aber gerade "von Schauer und Erhabenheit erschüttert" worden, wie Adalbert damals; Gänsehaut den Rücken rauf und runter, und das hat, nein, das wird sie nie vergessen. Nie und nie in ihrem ganzen Leben!

Thomas Rehaag - Mouches volantes

 

Thomas Rehaag
Mouches volantes

 

Eins

Malte wartete. — Er stand auf der streckenweise überdachten Brücke über den Bahnsteigen. Es war Mitte September und den Himmel bedeckten weiß-graue Schäfchenwolken mit ein paar blassblauen Lücken. — Manchmal wurden daraus lethargisch hoffende Illuminationen. Manchmal fielen flimmernde Sonnenstrahlen auf die trist bemoosten Bahnhofsdächer.

Er hob den Kopf und zielte auf die erst beste Wolke. Er klickte das rechte Auge zu und konzentrierte sich auf das glockenförmige Spinnengewebe halbrechts oben. Es bestand aus… Langsam folgte er dem links ausfließenden Schwappen über die Turmspitze hinweg. Der untere Saum bestand aus einer bräunlichen Krause, die einem zerschmelzenden Hufeisen ähnelte.

In der Mitte schwebte ein unfassbarer Staubbucker rasch von rechts nach links. Ab und zu rollten halbe Glühlampen über die Orbita. Das abtauchende Blau erschien ihm seltsam klar. Heroisch wehrte sich die Geometrie mit ins Bild schneidenden Oberleitungen.

Er wechselte die Seite.

Aneinander klebende Seifenbläschen; Croissantraupe; seltsam leuchtend und verschroben, sanken mit hektisch nachdrängenden  Fetttröpfchen aus der gläsernen Vertikale.  Descartes flüsterte: "Es ist ja nichts…"

Vergeblich echote der reflektierte Schein des Gewebes wie ein sterbender Feenschleier über das zerbröckelnde Firmament.

Er schüttelte sich munter. Züge fuhren aus und ein und vorbei. In den Schienensträngen pfiffen klandestine Rattenhorden.

Ihm gefiel es, die Zeit vergessen zu haben. Trotzdem zwang er sich auf die Uhr zu schauen: Noch zwanzig Minuten. Nichts für ungut! Er zündete sich ein Zigarillo an. Wie sah er überhaupt aus?

Streng gescheiteltes blondiertes Haar, hinten  und über den Ohren ausrasiert, mit einem Schuss Gel. Ovales Gesicht mit markant kurzer Nase und schmalen grünen Melancholikeraugen, hübsche Ohren und schmale Lippen. — Eine Spur über banal. —

Schwarzer Ledermantel, weißes Seidenhemd, roter Nylonschlips, violette Nadelcordhosen, blank gewienerte Lackschuhe…

Er exhalierte und grinste. Heute wurde er vierzig.

"Gut gewachsen mit ’ner Prise Schmalz", sagte er leise. Ein Zigarillo dauerte zehn Minuten.

Er erinnerte sich an die vorige Nacht. An Marvins schwitzende Fährte, geboren aus seiner kaltblütigen Angst. An den schmähenden Lockruf  gejagter Taucher und die steigende Lerche hinter dem Horizont. An die Verworrenheit unergründlicher Öffnungen und nasskalter Münder. An den Bauchtanz schlängelnder Zungen und das Zucken ratloser Lider….

Gedankenschwer begann er auf und ab zu gehen. Sein Geist umblitzte die Perfektion schlanker Maschinenhuris. Phosphorregen fiel auf die Städte aus Tausend und einer Nacht.

Sein Blick fiel auf den Boden. Geduckt verfing sich die Klarheit im wandernden Segel gespitzter Melancholie. Von fern begann es zu zählen und seine Lippen schürzten sich verrückt.

 

Zwei

Marvin rannte die Treppen hoch. Der Zug fuhr in zehn Minuten. In der rechten Hand hielt er einen Strauß mit vierzig rotgelben Tulpen. Er stieß die Flügeltüren auf. Hoffentlich gefielen sie Malte! Er setzte sich auf die Bank und schlug die Beine übereinander: Zehn Minuten warten wenn alles klappte. Man wusste ja nie! Friedrichshagen-Ostkreuz. Vielleicht ne viertel Stunde. Das wurde sehr knapp. Er wippte ungeduldig mit der Stiefelspitze.  Echt NVA. Betont locker spreizte er die Schenkel. Abgehangenes Fleisch sah ihn scheel an. Nicht sein Bier! Sollte es sich n paar saftige Chilischoten hinter die Kiemen schieben! – Vielleicht wurde daraus n Akt von Malevitsch.

Er sandte ihm eine Maschinengewehrgarbe giftiger Blicke. Das Wrack fiel feige grinsend zusammen. Er ließ die Stiele über seinen Schlitz gleiten und griente sich eins: Heute hatte er ganze Arbeit geleistet:

Eine Stunde Joggen, zwei Stunden Judo,  dreißig Liegestütze und der Sprint hier her zum Abtrainieren. Ne Neuranidal gegen den bohrenden Schmerz über dem rechten Auge….

Frisurenpflege, Klamottenauswahl. Selbstverständlich ohne Dusche! Er kannte Maltes Vorlieben. — Nicht zu vergessen das hektische Herumgetrapse auf dem angeschickten Blumenfriedhof. Das Überangebot nervte ihn manchmal.

Kommt die blöde Bahn nun endlich! Er kramte das Handy aus der Jackentasche und linste aufs Display. — Noch vier Minuten! — Er musste lachen. Notfalls rief er eben an. Null Problemo.

Malte besaß ja jetzt sein altes Alcatel. Das Ding hatte schon fünf Jahre auf dem Buckel und der Akku war schon mächtig abgebrannt. Na ja.  Schwamm drüber!

Er legte sich den Strauß über den Schoß. Seine Socken und sein Slip klebten an der feuchten Haut. Mit müßiger Noblesse kraulte er sich die Achseln.

Der Bahnsteig füllte sich mit Eis schleckendem Feierabendpublikum, betont lässige Muße vorschaukelnd unter der honigsüßen Geisel debiler Hast.

Seine Augen beschlummerten die Uhr neben dem Ausgang: Noch eine Minute!

Sie machten sich bereit. Etwas durchfuhr sie.  Sie glotzen in die Gegend wie Schäferhunde auf Speed.

"Menschen sind der beste Guckkasten", flüsterte er schmunzelnd. Der Zug fuhr ein.  Er stand auf, wobei er sich lasziv den schneidig schwarzen Nappalederdress zurechtzupfte. Schleichend stolzierte er zu der gegenüberliegenden Tür.

Der Tacho in der leeren Fahrerkabine zeigte auf Null. Er starrte durch das verätzte Fenster. Vertrocknete Wälder und weite gelbe Wiesen schuckelten vorüber, abgehackt von zartgrauen Gewächshäusern. Hirschgarten.

Das Abteil ruckte an. Schwermütiger Schlaf drückte auf seine Lider. Verwaiste Fabrikgebäude mit verschütteten Lumpen vor den rausgerissenen Türen und bunt besprühte Baracken mit eingeschlagenen Scheiben, zirrend vor dunkelgrünen Waldmeeren.

Er lehnte sich Wimpern klimpernd zurück, verloren in menschenleeren Labyrinthen im Progress exponentieller Furcht. — Und hinter all dem die Fratze des Angst akkumulierenden ES.

Coffeinierte Acetylsalicylsäure schubte seine Hirnaterien auf. Gelöster Krampf sank heißblütig in sein Geschlecht. Ultraviolettes Kreisen finsterte silberne Seziertische auf; erdolcht das Herz der Hure Babylon, zahnlose Wunde verblutet über melaninfleckigen Kakteen im Wüstensand.

Er riss die Augen auf. "Ostkreuz" leuchtete es grün gepixelt vom Monitor. Er schnellte hoch. In seinen Fußsohlen kribbelten tausende roter Ameisen. Er machte einige steife Schritte auf die Tür zu. Es ging einigermaßen.

 

Drei

Ihm fröstelte. Vierunddreißig Schritte hin: Treppe. Vierunddreißig Schritte zurück: Treppe. Vierunddreißig Schritte hin…

Er machte eine akkurate Drehung auf  dem rechten Absatz und stand still. Verlegen tastete seine rechte Hand nach dem Mon Chéri. Schwarze Sumatras machten ihn immer depressiv. Das Hufeisen dröselte sich in den staubig schimmernden Brückenschlund. Genüsslich steckte er sich das Konfekt zwischen die Lippen. Plötzlich sah er Marvin von der Treppe steigen. Seine Zungenspitze bohrte sich in den zartbitteren Schmelz. Die Croissantraupe glitt über Marvins schwarzen Pagenponny.

Er trat zwei halbe Schritte auf ihn zu. Seine Zunge drückte die Piemontkirsche gegen den angerauten Gaumen. Er zwinkerte Marvin  zu. Ihre auftauenden Blicke umflunkerten sich träge.

Marvin schwang lächelnd den Blumenstrauß. Seine stumpfe Nase saß wie hingehauen zwischen den weit auseinander stehenden Mandelaugen, halb grün, halb braun. Das Schwarz seines Lederdresses ähnelte einem verkorksten Kohlpechraben. Seine blassen Slawenwangen wuchsen wandelnd in die auseinanderstrebenden Flusen.

"Götze meines Geistes", dachte Malte den alkoholisierten Schokoladenbrei hinunter würgend. "Und du bist alle Mütter…."

"Herzlichen Glückwunsch, Alterchen", sagte Marvin müde.

"Na Jungchen." Malte leckte sich die Lippen. "N toller Strauß, ähm…" Marvin lehnte sich an die stählerne Umrandung. "Komm doch näher. Ich beiße nicht."

Ein leichter Windstoß fuhr in sein Haar. Er zuckelte seine Schenkel etwas auseinander.

"Du Filou", flüsterte Malte, ihn von unten nach oben musternd. Marvin neigte sich leicht vor.

"Warte." Er stellte den Strauß zwischen seine Füße. "So."

 

Malte wickelte rasch das Papier vom  Konfekt. Marvins Gesicht floss auf ihn zu. Seine schlanke Ägyptertaille bebte sich aus der schmutzigen Leitungsaufhängung.

"Willst du ’n Stückchen Schokolade?"

Marvin schloss die Augen, legte schnurrend den Kopf zurück und öffnete den Mund. Malte schob ihm das Stück auf die Zunge und küsste ihn. Marvin legte seufzend die Arme um ihn. Sein Atem roch nach frischen Zwiebeln und mariniertem Knoblauch. Langsam, sehr langsam kamen ihre Zungen in Fahrt. Sie schlängelten sich feucht reibend umeinander.

"Danke für die Bescherung", brummelte Malte verzückt.

Marvins Nägel krallten sich in seinen Mantel. Sie schmiegten sich schwankend aneinander. Ihre Zungenspitzen kitzelten ihre Gaumen. — ZwiebelnKnoblauchSchokoladeLikörZwiebelnKnoblauchSchokoladeLikör… Aus und ein und vorbei, aus und ein und vorbei…

"Puh!" Marvin schüttelte kräftig den Kopf. Malte langte ein letztes Mal nach seinem knackigen Hintern. Ängstlich knabberte er an der rostrot verkleideten Brustwarze.

"Bist genau richtig Jungchen."

Marvin grinste dreckig und kniff ihn in die rechte Wange. "Was soll’n das heißen?!"

"Ich meine, Bodybuilder sind auf Kühlschrank getrimmte eitle Transusen… Arme, Beine. – Wozu noch?" Marvin griente schalkhaft. "War ne ziemlich trieslige Angelegenheit vorhin." Sein Silberblick tastete Maltes poröse Konsistenz ab. "Ich meine, beim Küssen… Wurde sehr finster mit dem Stundenglas — n riesiger Mund. — Halt mich… Ne Ehe mit bestrapsten Schokoladenengeln am Weihnachtsbaum, erfrischend und halbseiden…. Hab da so’n weißen Punkt in deinem rechten Auge gesehen."

"Viel zu früh, he!?" Marvin runzelte die Augenbrauen.

"Hab dich eben nicht so schnell erwartet… Versteh mich nicht falsch. — Das mit der Zeit…" Malte senkte den Blick.

"Hab’s ja selbst fast verpennt", sagte Marvin leise, so dass Malte sich traute, den Kopf zu heben. Marvin lächelte gerissen. "Was gibs’n zu futtern?"

"Angebranntes Hühnchen, Pommes kross und Grünen Veltliner."

Marvin nahm den Strauß und hakte sich bei ihm ein.

"Hmmm..."

"Und behalt die Stiefel an…" Sie stiegen die Treppe hinab.

"Oh. Oh... Mit Geschenkpapier…"

"Noch ne Piemontkirsche?"

"Was für ne Kirsche?"

"Ne Piemontkirsche…"

"Hab ich gar nicht mitgekriegt…"

"Ich auch nicht…"

"Bei Mohammed?"

"In ’ner Stunde."

Sie setzten sich auf die nächstliegende Bank.

Noch hundert Züge. "Na fein." Marvin breitete die Arme aus und verzog die wulstigen Lippen. Allmählich ebbte der Schmerz ab.

"Langweilig?"

"Warten auf Godot", erwiderte Marvin vergnatzt.

Aus und ein und vorbei. Aus und ein und vorbei…

"Und ich?"

"Das mit dem Hühnchen…"

"Manchmal ist die Haut noch zu glibbrig…"

"Und die Pommes zu lasch…"

"Man kommt nie zur rechten Zeit…"

"Aber heute hast du Geburtstag."

"Die Dinger sind von gestern Nacht."

"Sag ich ja…"

Aus und ein…

Malte kramte Buntstifte und zwei zusammengefaltete weiße DIN-A4-Blätter aus der Innentasche seines Mantels. Marvin blinkerte ihn skeptisch von der Seite an.

Aus und ein…

"Was wird’n das?" Malte entfaltete die Blätter auf dem Einwickelpapier.

"Also ich beschreib dir, was sich in meinen Augen so tut und du versuchst daraus ne Zeichnung zu machen." Marvin griff nach den Stiften. "Sachte, sachte. — Natürlich ohne dass die Tulpen was abbekommen."

"Gebongt."

Und vorbei….

Sie legten los. Schwarze Witwen verfingen sich in gazeartig mutierten Fledermausflügeln. Gläserne Rondelle wirbelten blanke Chininpanzer über den preußisch blauen Himmel. Kristallines Schneegestöber funkelte unter der ermattenden Sonne. Rote Dreiecke tanzten über schlierigen Kohlehalden…

Aus und ein…

Erschöpft lehnte sich Marvin zurück. Malte nickte wohlwollend.

"Noch’n Viertelstündchen." Er steckte die Utensilien an ihren Platz. Sie schwiegen, verbohrt auf die penetrant strahlenden Reklametafeln starrend. Dann fuhr der Zug ein.

Unterwegs salbaderten sie burschikos Unannehmlichkeiten. Jeder war mal dran.

"Ab Vierzig kann Bosheit ziemlich erfrischend sein", dachte Malte in sich lächelnd.

Er fuhr vorwärts und Marvin rückwärts. Sie lachten wie verwegene Pokerspieler mit Grand Hand. Ab und zu schlugen sie sich krakeelend auf die Schenkel.

"Es müssen die Endomorphine sein", dachte Malte. Und da waren sie schon.

Vorbei…

Barbara Blum - Wiedersehen und Abschied

 

Barbara Blum
Wiedersehen und Abschied

 

Am Ostkreuz warten und stehen,
treppauf, treppab, Bahnsteige, Gleise,
alter Bahnhof, ein Kommen und Gehen,
aussteigen, oder geh’n auf die Reise.

Menschen stehen und haben Geduld,
eine Stimme Verspätung ansagt,
nehmen es hin, suchen keine Schuld,
sehen es gelassen, niemand klagt.

Da ist der Kiosk, Brötchen mit Wurst,
Blumen, Zeitung, oder für den Durst,
am Ostkreuz warten und stehen,
treppauf, treppab, viel zu sehen.

Es ist Herbst, kahler werden die Bäume,
am Zug ein Mann, in den Augen Träume,
S-Bahnen kommen und fahren vorbei,
doch für den Mann ist niemand dabei.

S-Bahnen fahren mit Lärm heran,
die Räder brüllen, Stahl auf Stahl,
ein Mädchen strahlt, für sie kommt der Mann,
der Mann ihrer Liebe und Wahl.

Am Ostkreuz warten und stehen,
Menschen aus Berlin, stehen früh auf,
gewöhnt, zeitig auf Arbeit zu gehen,
dröhnende Räder vom Ostkreuz —
ein Stück vom Tagesverlauf.

Jacqueline Meier - ein bahnsteig – ein baum – der rede wert

 

Jacqueline Meier
Ein Bahnsteig – ein Baum – der Rede wert

 

Ein Baum wartet worauf Zwillingsbruder der eine zeigt nach Osten der andere nach Westen doch in der Wurzel sind sie verbunden und die Krone ist eins. Bald steht Ostkreuz für ein Kreuz wie auf einem Grab dann wird es die Zwillingsbaumbrüder nicht mehr geben auch den alten Bahnhof nicht. Ihre Kinderstube und zu Hause die S-Bahn hält unter einem Dach der Baum reckt sich in die Höhe erhebt sich über den Bahnhof und trotzdem sind sie einander zugetan. All die Jahre, was dachte der Baum über die Wartenden die ein- und aussteigenden die gen Osten und die die gen Westen fuhren und ganz hinten die in Richtung Norden und Süden eine Verbindung sich erhofft. Die S-Bahn fährt ein und tagaus, Menschen steigen ein und um. Irgendwie sieht der Baum auch ein wenig melancholisch aus, der Baum hat ein Kreuz zu tragen auf einem Bahnsteig stehen und niemals abfahren. Eine Pappel steht am Bahnsteig mitten auf einem Bahnhof in Berlin und wenn Leute fahren mit der S-Bahn, sehen sie sein freundlich grün. Ach was rührt mich dieser Baum, soll nicht sterben aber nicht so finster, sein Leben hat er ja noch. Der Baum, die Brüder, ich habe ein Herz für sie.

Erika Reichelt - Mosaiksteinchen um einen Bahnhof

 

Erika Reichelt
Mosaiksteinchen um einen Bahnhof

 

Fritz wartet am Lenbachplatz auf einer der wenigen Bänke, die noch etwas von der herbstlichen Oktobersonne abbekommt, auf seine Freundin. Sie wollen nachher gemeinsam zum Sea-life in die Spandauer Straße fahren. Er hat gehört, dass es dort seit drei Jahren im "Dom Aquarée" an der Karl-Liebknecht-Straße eine mit Wasser gefüllte Glasröhre, innen mit einem Fahrstuhl, gibt, von dem aus man viele bunte Zierfische beobachten kann. Er freut sich schon sehr auf diese Attraktion.

Zigaretten rauchend sieht er sich sein Umfeld an. Im Restaurant "Lykia" war er schon mit Gisela zum Brunch. Erst dachte er, es ist eine griechische Gaststätte, doch man sagte ihm, dass Lykien heute in der Türkei liegt. Seit der Öffnung vor einigen Jahren ist es gut besucht, denn es befindet sich in einem Neubau genau dem Bahnhofsausgang gegenüber. Überhaupt kommt er gern in diese Gegend, weil seit einiger Zeit viele unterschiedliche Gaststätten in frisch sanierten Häusern Gaumenfreuden anbieten. Auch kleine Lebensmittelgeschäfte haben sich in der Sonntagstraße angesiedelt. Schön ist, dass man dort noch nachts einkaufen kann.

Hundegebell unterbricht seine Gedanken. Eine Gruppe junger Leute lässt auf der großen Wiese des Lenbachplatzes ihre Lieblinge toben und spielen. Kinder lärmen auf dem nahen Spielplatz. Neben seiner Bank liegen im Abfallkorb mehrere Bier- und Weinflaschen. "Na, das ging ja heute Nacht hier wohl rund obwohl es doch nachts schon empfindlich kalt ist", denkt er so bei sich. Von weitem sieht Fritz ein rotes Jäckchen leuchten. Da kommt endlich Gisela angerannt. "Verzeih, ich hatte noch einen wichtigen Anrufer, den konnte ich nicht so rasch abfertigen, er hat Probleme mit seiner Arbeitsstelle", sagt die Sozialpädagogin zu ihrem Freund, gibt ihm einen Begrüßungskuss und schon ist ihr Zuspätkommen verziehen. Jetzt freuen sie sich auf den Besuch des Sea-life und Aquadomes, in dem man Haie und Mantas, auch Seesterne und -igel ganz nah betrachten kann. Erwartungsvoll streben sie dem nahen Bahnhof zu und fahren zum Hackeschen Markt.

Heidi steht in der Praxis einer ambulanten Chirurgie im Neubau Neue Bahnhof-, Ecke Sonntagstraße am Fenster und schaut den an- und abfahrenden Zügen im Bahnhof und den hin  und her eilenden Menschen auf den Bahnsteigen zu, um sich abzulenken. Eine kleine Daumen- OP muss sie über sich ergehen lassen und sie hat Angst davor. Das Warten fällt ihr schwer. "Wenn alles doch schon vorüber wäre", denkt sie und wischt sich den Angstschweiß von der Stirn. Sie hat sich extra dafür von ihrem Chef beurlauben lassen.

Jetzt wird ihr Name aufgerufen, es ist so weit, sie ist mit ihrer OP dran. Zögernd betritt sie den Operationsraum. Der Arzt und die OP-Schwester erwarten sie in grünen Kitteln. Sie muss die Schuhe ausziehen und sich hinlegen. Die Schwester schiebt ihr ein Kissen unter die Knie, ihr Arm wird festgebunden, sie spürt den Einstich der Betäubungsspritze. Nach relativ kurzer Zeit ist alles vorbei, ihr wird aufgeholfen und nach neuer Terminabsprache kann sie gehen. Sie wird gefragt, ob sie eine Krankschreibung brauche, aber sie verneint, denn auf ihrer Arbeitsstelle will sie nicht länger fehlen als nötig. Sichtlich erleichtert kauft sie sich noch rasch beim Bäcker im Bahnhof ein Stück Obstkuchen und einen Becher Kaffee. "Es war ja gar nicht so schlimm", denkt sie und schlürft genüsslich das heiße Getränk. Danach eilt sie mit schnellen Schritten froh gestimmt die Stufen zum Bahnsteig hinunter und springt in den Zug zum Alexanderplatz. Ihr Chef wird froh sein, dass sie schon zurückkommt. Die OP hat sie fast vergessen, nur leichte Schmerzen und ein kleiner Verband am Finger erinnern sie daran.

Gerda ist schon alt und gebrechlich, doch heute hat ihre Tochter Geburtstag und sie möchte bei dieser Feier gern dabei sein. Sie steht vor den vielen Stufen, die zum Bahnsteig führen. "Ach schade, dass dieser Bahnhof noch immer keine Rolltreppen oder Fahrstühle hat. Eines Tages werde ich zu keiner Feier mehr mit der Bahn fahren können, ich werde eine Taxe nehmen müssen", stellt sie mit Erschrecken fest. Mühsam zieht sie sich am Geländer hoch und bleibt oben erst einmal eine ganze Weile stehen, um auszuruhen und zu Atem zu kommen. Allzu lange darf sie nicht verschnaufen, die Tochter wartet auf sie, doch die Bahn nach Erkner ist längst weg. Bis zur nächsten hat sie 20 Minuten Zeit. So setzt sie sich auf dem Bahnsteig E auf eine Bank, bis ihr Zug einfährt. Im Handyzeitalter hat natürlich auch sie eins und schreibt ihrer Tochter eine SMS, dass sie etwas später kommt, dann schweifen ihre Gedanken ab.

In den vielen Jahren, in denen sie am Bahnhof Ostkreuz nun schon wohnt, hat sich vieles hier verändert. Früher standen die Häuser ganz dicht am Bahnhof, doch der Krieg hat so viele zerstört. Den Lenbachplatz gab es damals noch nicht. Die Straßen bekamen 1901 bis 1905 ihre Namen. Ihr fällt ein, dass die Sonntagstraße nach einem Herrn Sonntag benannt wurde. Er war Grundbesitzer und verpachtete damals an Gärtner Gemüseparzellen. Und die Revaler Straße wurde nach der Hauptstadt Estlands benannt, die auf Estnisch Tallin heißt. Seufzend erinnert sie sich an die Zeit, als sie noch arbeiten ging und für eine Wochenkarte von Ostkreuz  nach Lichtenberg nur siebzig Pfennig bezahlen musste. Gemessen an den heutigen Fahrpreisen von 2,10 Euro für zwei Stunden war das spottbillig.

Sie hat gehört, dass bald durch die Sonntagstraße eine Straßenbahn direkt bis zum Bahnhof, dann unter dem Bahngelände hindurch zur Hauptstraße und von dort Richtung Klingenberg fahren soll. "Wie wollen die das schaffen?" fragt sie sich. "Das wird ein Mammutprojekt. Das erlebe ich sicherlich nicht mehr, obwohl sie jetzt mit den Rodungen der Gartenanlagen am Markgrafendamm beginnen. Schade eigentlich, denn im neu gebauten Bahnhof gibt es dann bestimmt auch Fahrstühle und Rolltreppen. So lange plant man schon, den Bahnhof neu zu gestalten, doch die Durchführung dieser Pläne ist wohl sehr schwierig. Alles soll bei laufendem Fahrbetrieb geschehen." Ihre Gedanken werden vom einfahrenden Zug nach Erkner unterbrochen. Mit klammen Gliedern erhebt sie sich und steigt ein. Schon sind ihre Gedanken bei der Tochter und den Enkelchen und sie freut sich, dass sie sich bald umarmen können, sowie auf eine heiße Tasse Kaffee. Der Gedanke an den leckeren Käsekuchen, den ihre Tochter jedes Mal backt, lässt ihr das Wasser im Munde zusammen laufen.

Es fällt beim Lesen auf, dass alle Personen, die in dieser Geschichte am Ostkreuz warten, eines gemeinsam haben, sie fahren mit der S- Bahn von diesem Bahnhof zu ihrem Ziel.

Dieser Bahnhof machte vor Jahren traurige Schlagzeilen, als sich in seiner Nähe eine junge Frau am Mast der Hochspannungsleitung erhängte. Die Bergung des toten Körpers erwies sich als sehr schwierig, weil erst ein Wagen der Bewag angefordert wurde, um von Fachleuten die Stromzufuhr abschalten zu lassen. Erst als dieser nach längerer Wartezeit eintraf und der Strom unterbrochen war, konnte er geborgen werden. Deutsche Gründlichkeit!!! Diese Frau bekam beim Hochklettern keinen Stromschlag?!? Inzwischen waren auch Presse und Fernsehen angerückt, um dieses unschöne Schauspiel zu filmen und zu dokumentieren. Die Anwohner gegenüber den Masten bekamen alles ungewollt mit und viele Schaulustige warteten neugierig darauf, wie wohl die Leiche geborgen werde. Es war zum Schluss wenig spektakulär. Ein Feuerwehrmann stieg den Mast hinauf, band die schlanke, junge Frau los und trug sie herunter. Nach kurzer Zeit fuhren die vielen Autos ab und auch die Leute gingen wieder ihrer Beschäftigung nach, so als wäre nichts geschehen. Es ist schon viele Jahre her, aber vergessen ist es bis heute nicht.

Was mag der alte Bahnhof Ostkreuz noch alles erlebt haben? Wenn der erzählen könnte, es würde sicherlich ein spannender Roman daraus.

Doris Bewernitz - Ostkreuz, Gleis 14

 

Doris Bewernitz
Ostkreuz, Gleis 14

 

ER steigt in den Zug. Auf der Stirn eine steile Falte. Nur zehn Minuten war er zu spät, und da macht sie so einen Aufstand! Sie kann einfach nicht warten, es ist immer dasselbe. Ist es seine Schuld, wenn der Chef ihm kurz vor Feierabend noch diesen Auftrag rüber schiebt? Da sitzt er nun, mit seinen Blumen in der Hand, in der Ringbahn. Draußen beißende Kälte. Sein Herz rast wie ein Tiger. Bahnhof Frankfurter Allee. Betäubt starrt er geradeaus. Und das sollte nun ihr ganz besonderer Abend werden. Angeekelt knallt er den Blumenstrauß neben sich auf den freien Platz: dreißig rote Rosen. Jetzt ist Schluss, das lässt er sich nicht länger bieten.

SIE steht wie angewurzelt. Kann denn das wahr sein? Da wartet sie sich die Beine in den Bauch, ist halb erfroren, dann kommt er endlich, und kaum sagt sie, dass sie friert, macht er auf der Stelle kehrt und springt in die S-Bahn zurück. Weg ist er. Das ist doch nicht zu fassen. Kam er etwa nicht zu spät? Und nicht zum ersten Mal. Sie verkriecht sich in ihren Mantel. Es ist so lausig kalt, sie spürt es bis in die Knochen. Ja, okay, sie war etwas heftig. Aber seine Reaktion ist doch völlig übertrieben! Sie hasst Unpünktlichkeit. Das weiß er doch.

ER könnte gerade die Scheiben einschlagen. Ihm gegenüber ein verliebtes Paar, innig in einen Langzeitkuss vertieft. Unerträglich. Er steht auf und läuft den Gang entlang. Verschränkt die Arme vor der Brust. Die Leute sehen ihn merkwürdig an. Wenn ihm jetzt einer dumm kommt, der kann was erleben. Dabei wollte er Jutta heute ausführen. So richtig nobel. Ins "Lavendel", ihr Siebenjähriges feiern. Was jetzt? Zu Udo? Verdammt, er will überhaupt niemanden sehen. Er hat einen Kloß im Hals. Er liebt Jutta doch. Oder? Wahrscheinlich bildet man sich das sowieso alles nur ein. Sie hat doch schon immer an ihm rumgenörgelt. Jetzt ist sie zu weit gegangen. Jetzt reicht es.

SIE kämpft mit den Tränen. Er hatte versprochen, heute ganz pünktlich zu sein. Sieben Jahre! Und dann kommt er wieder zu spät. Und sie hatte so etwas Besonderes vorbereitet. Im "Lavendel", wo sie sich kennen gelernt haben, hat sie einen Tisch und sein Lieblingsessen bestellt: gedünstete Forelle. Bestimmt hat er das Jubiläum vergessen. Männer vergessen so was. Einfach wieder in die Bahn zu steigen, ohne ein Wort! Es läuft ihr kalt den Rücken herunter, wenn sie an seinen Blick denkt. Soll das das Ende sein? Jetzt weint sie doch.

ER setzt sich woanders hin. Dieses Geknutsche hält er einfach nicht aus. Greifswalder Straße. Menschenmassen strömen herein. Er fühlt sich leer und unendlich müde. Ob er einfach allein ins "Lavendel" geht? Nie im Leben. Das Geld ist nun futsch. Das ist jetzt auch nicht mehr wichtig. Jetzt ist nichts mehr wichtig. Er kann sich ein Leben ohne Jutta eigentlich gar nicht vorstellen. Er kommt sich wie ein Versager vor. Aber man kann sich als Mann doch nicht alles gefallen lassen! Ist er ein dummer Junge? Na also. Sie wird schon sehen, was sie davon hat. Sieben Jahre! Und dann auf einen Schlag vorbei.

SIE tritt von einem Bein auf das andere. Eiskalter Wind beißt ihr ins Gesicht. Sie ist nicht in der Lage, hier wegzugehen. Worauf wartet sie denn? Auf nichts. Was soll sie jetzt tun? Allein ins "Lavendel"? Niemals. Ihr würde die Forelle im Halse stecken bleiben. Ein Gesicht hat er gemacht, als hätte sie ihm mitten hinein geschlagen! Man wird ja wohl noch sagen dürfen, dass man friert! Oder hätte sie heute um des lieben Friedens willen ihren Mund halten sollen? Vielleicht hatte er Ärger auf Arbeit. Und sie hat sich diesen Abend so schön vorgestellt. Eine Überraschung sollte es werden. Frank. Dieser verdammte Kerl. Sie könnte ihm gerade den Hals umdrehen. Dabei kann sie sich ein Leben ohne ihn gar nicht vorstellen.

ER könnte erst mal bei Udo unterkommen. Jedenfalls geht er nicht zu ihr zurück. Er macht sich doch nicht lächerlich. Wenigstens an einem Tag wie heute hätte sie ihr Gemecker mal lassen können. Bestimmt hat sie ihr Siebenjähriges vergessen. Frauen vergessen so was. Schönhauser Allee. Seine Beine sind unendlich schwer, an seinen Schultern scheinen Zentnergewichte zu hängen. Er fühlt sich, als wäre er gerade hundert Meter in die Tiefe gestürzt. Und er hat sogar Ringe gekauft, Idiot, der er ist. Wollte ihr heute einen Heiratsantrag machen, ganz romantisch und so. Fast zwei Monatsgehälter hat er dafür hingeblättert. Nie wieder. Keine Frau wird ihn mehr so einwickeln. Er bleibt solo. Für immer. Mit einem Ruck zieht er den Schal fester um den Hals.

SIE hat es so satt. Immer hat sie auf ihn gewartet. Immer kam er zu spät. Er würde ja selbst zu ihrer Hochzeit zu spät kommen. Bei dem Wort Hochzeit fällt ihr ein, dass er sich darauf nie einlassen wollte und ihr Herz zieht sich schmerzhaft zusammen. Bestimmt liebt er sie gar nicht. Jedenfalls nicht so, wie sie ihn. Sie sollte endlich aufhören, sich ein gemeinsames Leben mit ihm zu wünschen. Er ist ein verdammter Egoist. Sie sieht auf die Uhr. Die Zeiger scheinen stillzustehen. Das ist der Schock, sagt sie sich. Warum geht sie nicht?

ER fröstelt. Hier hinten zieht es. Er steht auf und schlägt das Fenster zu. Sieht sich um. Gibt es hier nur Paare? Wo soll man sich denn um Gottes Willen hinsetzen, um sie nicht sehen zu müssen? Seine Augen werden heiß, er beißt die Zähne zusammen. Nicht eine Träne wird er um sie vergießen, schon gar nicht in der Öffentlichkeit. Wedding. Der Bahnsteig voller Menschen im Feierabendgewühl. Sie verhalten sich, als wäre heute ein ganz normaler Tag. Er wird diesen Tag nie vergessen. Die hinuntergeschluckten Tränen schmecken bitter. Er muss eine Entscheidung fällen. Er kann nicht. Wie ein geschlagener Hund hockt er in seiner Ecke und blickt böse um sich.

SIE wirft einen Blick auf die unteren Bahnsteige. Menschen drücken sich an ihr vorbei. Schimpfen und drängeln. Sie denkt nur an Frank. Gott sei Dank ist dieser Bahnhof so marode, irgendwie tröstet sie das. Genauso fühlt sie sich jetzt: alt und kaputt. Sie betrachtet die abgeblätterte graue Farbe eines eisernen Pfeilers. Alles hier atmet Geschichte: die Mauern des alten Bahnwärterhäuschens, die Bahnsteigdächer, die Pflastersteine… selbst die Bänke. Wie viele Frauen wohl hier schon gestanden und auf ihren Liebsten gewartet haben? In ihrer Vorstellung sitzt und steht alles voller Wartender, da hocken hungrige Frauen nach dem Krieg und warten auf ihre heimkehrenden Männer, da liegen zerlumpte Soldaten auf dem Bahnsteig, Kinder, die ihre Mütter verloren haben, Mütter und Väter, die nach ihren Kindern suchen… "Na, na", sagt eine alte Frau neben ihr. "Na, na, Mädelchen, was ist denn. Liebeskummer?" Als Mädelchen hat sie auch lange keiner mehr bezeichnet. Sie quält sich ein Lächeln ab. Dabei merkt sie, dass ihr Gesicht ganz nass ist. Die Alte holt ein Taschentuch hervor, reicht es ihr, sagt: "Das wird wieder!" und streicht ihr über den Arm. Ihr sitzt ein Kloß im Hals, sie kann gar nichts sagen.

ER starrt aus dem Fenster. Ein Bahnhof nach dem anderen rast vorbei. Westhafen, Jungfernheide, Westend. Menschen, Menschen, Menschen. Jutta. Was sie wohl jetzt macht. Ob sie schon zu Hause ist? Ob sie noch am Ostkreuz steht? Nein, sie steht garantiert nicht mehr da. Sie kann ja nicht mal zehn Minuten warten. Messe Nord, Westkreuz. Wie lange fährt diese Ringbahn eigentlich, bis sie wieder am Ostkreuz ist? Wenn seine Erinnerung ihn nicht täuscht, eine Stunde. Niemals wird sie so lange warten. Er hätte vielleicht doch mit ihr reden sollen. Eigentlich war es ja der Chef, über den er sich geärgert hat.

SIE sollte nach Hause gehen, ihre Füße sind die reinsten Eisklumpen. Aber sie wird die zwanghafte Vorstellung nicht los, in dem Augenblick, in dem sie die Treppen hinuntergeht, ist es aus zwischen ihnen. Wie lange fährt eigentlich so eine Ringbahn? Nein, sie will sich nicht schon wieder Hoffnungen machen. Er ist garantiert längst ausgestiegen. Wahrscheinlich zu Udo gegangen, ihm sein Leid klagen. Männergespräche. Sie will weg. Und wenn er doch wiederkommt? Nein, dazu ist er viel zu stolz. Sie kennt ihn. Er würde sich schwach fühlen und das hasst er. Wie soll sie nur diesen Abend überstehen?

ER überlegt, ob er es versuchen soll. Entgegen aller Vernunft. Er weiß genau, dass sie nicht mehr dort stehen wird. Dazu ist sie viel zu stolz. Dieser Stolz, das ist es ja gerade so, was er an ihr mag. Er sieht ein altes Paar vor sich sitzen, beide um die siebzig. Überrascht stellt er fest, dass sie sich an den Händen halten. Die Frau zieht ein Taschentuch aus der Manteltasche, dabei fällt ein Zettel herunter. Er hebt ihn auf. Der Zettel ist Teil eines Stadtplans, ziemlich alt und verschlissen. Die Frau nimmt den Zettel, sieht ihm offen ins Gesicht und sagt: "Wir sind heute fünfzig Jahre verheiratet, stellen Sie sich das mal vor. Wir sind extra nach Berlin gefahren, weil wir uns hier kennen gelernt haben." Sie lächelt. Sieht aus wie ein glückliches kleines Mädchen am Heiligen Abend. Der alte Mann nickt und strahlt. Er hat selten ein so freudiges Paar gesehen. Bilder aus seinem Kinderbuch tauchen vor ihm auf: "Wie’s der Alte macht, ist’s immer recht", von Hans Christian Andersen. Ganz deutlich die Szene, wie die Alte ihrem Mann das Halstuch bindet und ihm einen dicken Kuss gibt. Da war die Welt noch in Ordnung. Genau so sehen die Beiden aus. "Haben Sie eine Freundin?" fragt die Frau. Er schweigt. Presst die Lippen zusammen. "Nein? Ach, das kommt noch, junger Mann. Sie sind ein guter Mensch, das sehe ich. Und Sie haben ja das Leben noch vor sich. Es gibt kein größeres Glück, als zusammen alt zu werden, glauben Sie mir." Er windet sich. "Gertrud", sagt jetzt ihr Mann, und seine Stimme ist ganz weich, "siehst du denn nicht, dass es dem jungen Menschen nicht gut geht. So lass ihn doch in Ruhe". Er ist verwirrt. Bahnhof Hermannstraße. Die beiden erheben sich. Plötzlich ist ihm, als hätte er sie noch etwas fragen müssen, aber so schnell fällt ihm nicht ein, was. Die alte Frau nickt ihm aufmunternd zu. Er springt auf, läuft den beiden hinterher, holt sie kurz vor der Treppe ein und drückt der Frau die Rosen in die Hand. "Für Ihren Hochzeitstag!" Jetzt steht er auf dem Bahnhof Herrmannstraße. Er will zu Jutta. Sie wird fort sein. Was hat ihn nur geritten, sie da so allein stehen zu lassen?

SIE zittert. Es kommt ihr vor, als steht sie schon den ganzen Tag hier. Sie wischt sich die Tränen mit dem Ärmel ab. Frank! Irgendwie wird sie ihn schon aus ihrem Herzen heraus bekommen. Aber wann? Sie hört schon diese dummen Sprüche ihrer Freundinnen: Man stirbt nicht daran. Sie versucht, sich in den Windschatten der Mauer zu stellen. Ihre Finger sind trotz der Handschuhe völlig steif gefroren. Die Stunde ist längst um. Ihr ist ganz schlecht vor Traurigkeit. Sie hätte heute nicht mit ihm schimpfen sollen. Nun hat sie alles verdorben. Kein Fünkchen Wärme ist mehr in ihr. Es ist also aus. Sie wird also gehen. Gleich. Die nächste Bahn wartet sie noch ab. Obwohl es ja sinnlos ist. Sie wird nie wieder warm werden. Nie wieder.

OSTKREUZ. Schon beim Einfahren schaut er durch die zerkratzten Scheiben. Ungläubig sieht er Jutta stehen. Die Schminke um ihre Augen ist verschmiert. Seine Knie sind schrecklich weich. Er stolpert aus der Tür. Eilt auf sie zu, als könnte sie sich im letzten Moment verflüchtigen. Zieht seine Jacke aus, hängt sie ihr um die Schultern.

"Besser?" fragt er.

"Frank", sagt sie und gibt ihm einen Kuss.

Sie gehen die Treppe hinunter. Am liebsten würde er sie tragen.

Ilse Treue - Ein ungewöhnlicher Weihnachtsabend

Ilse Treue
Ein ungewöhnlicher Weihnachtsabend  

 

Zum ersten Mal war Lisa am Weihnachtsabend allein, nicht einsam, nur allein. Tochter und Schwiegersohn waren zur Familie ihres Sohnes, Lisas Enkel, nach Norwegen geflogen. Er hatte dort Arbeit gefunden und eine Familie gegründet. Nachwuchs hatte sich eingestellt. Als frische Großeltern wollten sie ihren Enkel und die junge Mutter kennen lernen. Die eigene Mutter ließen sie nur ungern zurück. Sie hätte mitfliegen können. Doch so gerne Lisa ihr Urenkelchen sehen würde, sie traute sich eine Reise im Winter einfach nicht mehr zu. Aber im Sommer, wenn dort die Sonne kaum unterging, wird sie die Familie ihres Enkels besuchen. So blieb sie in diesem Jahr allein. Ja, sie freute sich sogar, allem Trubel zu entgehen. Herrlich ruhig war es zu Hause. Ihre Einkäufe hatte sie schon Tage vorher erledigt. Heute Vormittag war sie nur noch einmal zum nahe gelegenen Ostkreuz gegangen. Sie hoffte, vor dem Bahnhof den Zeitungsverkäufer zu treffen, dem sie regelmäßig eine Zeitung abkaufte. Für ihn hatte sie ein Päckchen  mit Süßigkeiten, Kaffee und guten Lebensmitteln gepackt. Das würde er bestimmt nicht verachten. Er wirkte nicht wohlhabend. Ob er alleinstehend war? Sie kannte ihn nicht näher, aber sein freundliches Lächeln gefiel ihr. Sie hätte ihm gern eine Freude bereitet. So lange sie auch am Bahnhof wartete, so sehr sie auch in alle Richtungen spähte, der Zeitungsverkäufer kam nicht. Schade! Enttäuscht war sie nach Haus gegangen.

Nun brach der Nachmittag an. Es begann zu dunkeln. Überall in den Wohnungen wurden jetzt die Kerzen angezündet. Auch in ihrer Stube strahlte ein kleines Bäumchen im Lichterglanz. Behaglich kuschelte sich Lisa in ihre Sofaecke. Jetzt konnten die Feiertage beginnen. Sie griff zum Buch, wollte sich genüsslich darin vertiefen, aber ihre Gedanken schweiften ab. Sie dachte an ihre Familie, die sich jetzt im hohen Norden unter einem großen Tannenbaum versammelte und vielleicht gerade in dieser Stunde die Geschenke verteilte. Selbstverständlich hatte Lisa für jeden etwas liebevoll Verpacktes mitgegeben. Ob sie das Richtige getroffen hatte? Fernsehaugen müsste man haben! Sie fühlte sich den Ihren ganz nah und doch so fern. In ihr Herz schlich sich leise Wehmut. Vielleicht sollte ich eine kleine Runde spazieren gehen, dachte sie. Das wird meiner Stimmung gut tun. Sie schlüpfte in ihren wattierten, roten Anorak mit dem weißen Webpelzbersatz, zog die Kapuze über den Kopf und betrat die Straße. Tief sog sie die klare, kalte Luft ein. Am hohen Himmel glitzerten Sterne. Nein, sie glitzerten nicht, sie zwinkerten ihr zu. Und augenblicklich kehrte Ruhe in ihr Gemüt.

Gemächlich schlenderte sie durch die nur mäßig erhellten Straßen. Man könnte die Gegend beinahe trist nennen, wären da nicht die Lichterketten und blinkenden Leuchtmotive hinter manchen Fensterscheiben. Nicht alles, was Lisa da erblickte, gefiel ihr. Nun ja, die Geschmäcker waren verschieden. Allmählich kam sie zum Bahnhofsvorplatz. Von dort strahlte ihr das helle Licht einer großen, mit unzähligen elektrischen Glühlampen bestückten Tanne entgegen. Lisa blieb stehen. Ob sie den Zeitungsverkäufer doch noch traf? Das Päckchen für ihn hatte sie vorsorglich bei sich. Doch wieder wartete sie vergeblich. Sie hätte zurück in ihre geheizte Wohnung gehen können. Aber sie hatte keine Lust. Unschlüssig stieg sie die Treppe zum Bahnhof hinauf. Sie wollte Menschen sehen, vielleicht sogar eine bekannte Stimme hören. Der Bahnhof war ihr seit Jahrzehnten vertraut. Er gehörte zu ihrem Leben. Auf dem Ringbahnsteig stand sie besonders gern. Von hier konnte sie weit über die Stadt sehen. Lisas Blicke schweiften hinüber zum Wasserturm. Der alte Wasserturm – ein Wahrzeichen dieser Gegend –, wenn der reden könnte! Weiter glitten ihre Augen zur Kynastbrücke, die sie während ihrer beruflichen Jahre viele Male überquert hatte. Ob die Brücke weichen muss? Sie hatte gehört, dass ein Regionalbahnsteig gebaut werden sollte. Außerdem seien mehrere Fahrstühle und viele Rolltreppen geplant. Auf die wartete sie sehnlich. Den neuen Bahnhof würde sie zu gerne noch erleben. Sicher wird er einmal hell und freundlich werden. Jetzt allerdings wirkte er dunkel, obwohl auf jedem Bahnsteig ein Weihnachtsbaum mattes Kerzenlicht verbreitete. Nur auf dem unteren Bahnsteig, dort, wo die Züge nach Strausberg fuhren, war noch ein Kiosk beleuchtet. Lisa ließ sich von dem Geruch nach Bratwurst verleiten. "Sie haben Glück, Muttchen", sagte der Verkäufer, "ich wollte gerade die Jalousie herunterlassen. Na dann, frohes Fest!" Mit diesen Wünschen reichte er Lisa die Wurst, die er reichlich mit Ketchup bestrich. Dann löschte er das Licht. Nun wurde es auch hier dunkel. Während Lisa ihre Wurst aß, stieg sie erneut die Treppen zum Ringbahnsteig hinauf.

Ihre Gedanken gingen zurück in die Vergangenheit. Erinnerungen wurden wach. Als ihre Tochter noch klein war, hatte sie mit ihr oft abends den Vater von der Arbeit abgeholt. Oben, auf dem Ringbahnsteig, warteten sie geduldig, bis er kam. Damals, mit der kleinen Ursula an der Hand, machte das Warten Spaß. Immerfort plapperte und fragte sie. Lisa erklärte dem Kind, wohin die vielen Treppen führten und las ihm die Namen der Richtungsanzeiger vor, die es später selbst lesen lernte. Der Mann mit der roten Mütze kannte sie schon. Er mochte das aufgeweckte Mädchen. Einmal setzte er Ursula seine rote Dienstmütze auf, und für einen Moment durfte sie sogar die Kelle halten. Das waren Augenblicke! Ursula war mächtig stolz. Sobald sie aber den Vater erblickte, flog sie ihm entgegen. Einträchtig traten sie zu Dritt den kurzen Heimweg an. Das war lange her.

Nun stand sie wieder hier, aber niemand kam. Lisa schaute in die Dunkelheit. Sie schaute die schmale Sichel des aufgehenden Mondes und die funkelnden Sterne an. Ergriffen fühlte sie sich als ein winziger Teil des unendlichen Kosmos. In innere Zwiesprache versunken, vergaß sie ganz die unfreundliche Atmosphäre des Bahnhofes. Plötzlich tippte ihr jemand auf die Schulter. Sie drehte sich um: ein Weihnachtsmann! Träumte sie oder war er ganz realistisch mit der S-Bahn gekommen? Lisa kehrte abrupt vom Himmel auf die Erde zurück. Der Weihnachtsmann staunte. Was suchte ein altes Muttchen um diese Zeit allein auf dem zugigen Bahnsteig? Er beobachtete es schon ein Weilchen. Aus seinem großen Sack holte er einen Schokoladenweihnachtsmann und reichte ihn Lisa mit freundlichen Worten: "Aber Muttchen, bei der Kälte gehören Sie doch an einen warmen Ofen! Sie sehen aus, als ob zu Hause niemand auf Sie wartet."

"So ist es, Weihnachtsmann. Mir wurde es in der Stube zu eng, aber hier, unter den Sternen, wird mein Herz wieder weit."

Dem Weihnachtsmann kam plötzlich eine Idee. "Du könntest mir helfen", bat er, unvermittelt zum vertraulichen Du übergehend. "Mit deinem roten Anorak, der Kapuze und dem weißen Besatz würdest du eine perfekte Weihnachts-Omi abgeben. Eine Omi könnte ich gut gebrauchen. Das wäre doch einmal etwas Neues. Einen Engel haben schließlich viele Weihnachtsmänner, aber eine Omi… Was meinst du dazu?" Lisa sah den Weihnachtsmann misstrauisch an. Ob er es ehrlich meinte? Fremden gegenüber konnte man nicht vorsichtig genug sein. Wer weiß, wer sich hinter der Maskerade verbarg? Aber die Augen hatte sie schon einmal gesehen, die Stimme schon einmal gehört. Täuschte sie sich? Resolut forderte sie den Weihnachtsmann auf, aus dem Schatten heraus in den Schein der Lampe zu treten. Sie maßen sich gegenseitig mit großen Augen und brachen in helles Lachen aus, so dass sich die wenigen Passanten neugierig umsahen. Wirklich, in dem großen, langen Mantel mit der tief sitzenden Kapuze und hinter dem respektablen weißen Bart steckte der Zeitungsverkäufer. Dieser hatte auch Lisa in dem roten Kapuzenanorak nicht sofort erkannt. So eine Überraschung! Er war müde. Kein Wunder, seit Stunden war er zwischen Baumschulenweg und Treptow auf den Beinen, hatte viele Kinder überrascht und musste jetzt noch zwei Familien am Ostkreuz aufsuchen. Zu Zweit würde seine Müdigkeit bestimmt verfliegen. Wenigstens zu der Familie mit den drei Kindern könnte sie ihn begleiten. Obwohl die Rute längst abgeschafft war, fürchteten sich manche Kinder vor ihm. Dabei sah er doch so gern in ihre leuchtenden Augen. Eine Weihnachts-Omi könnte vielleicht besänftigend wirken. Rasch verließen sie den Bahnhof.

Unterwegs erzählte er von seiner Mission. Er gehörte zu einer Weihnachtsmanngilde, die Kinder beschenkte, deren Eltern arbeitslos waren. "Omi, du wirst sehr bescheidene Verhältnisse erleben. Wird das nicht deine Weihnachtsstimmung drücken?"

"Schon möglich", antwortete Lisa. "Als ich noch ein Schulkind war, verlor mein Vater – wie Millionen andere Väter damals – seinen Arbeitsplatz. Meine Eltern hatten vier Mäuler zu stopfen. So etwas vergisst man nicht. Nein, nein, Weihnachtsmann, sei unbesorgt, ich helfe dir gern. Wenigstens die Kinder sollen sich heute freuen." Zügig schritten sie durch die Simplonstraße und klopften schon nach wenigen Minuten an die Tür der Dreikinderfamilie. Kerstin, die Ältere, jubelte: "Mutti, sieh nur, zu uns kommt doch noch der Weihnachtsmann!" Der vierjährige Jens dagegen hielt sich in respektvoller Entfernung. Der Jüngste aber, Stefan, versteckte sich sofort hinter der Mutter. Da griff sich die Weihnachts-Omi aus dem großen Sack  einen Teddy und mit leisen Worten, fast nur für sich, sprach sie: "Ah, was für ein lieber Teddy das ist. Ob den jemand haben möchte?" Halb neugierig, halb ängstlich lugte Stefan hinter der Mutter hervor. Als Lisa mit dem Teddy winkte, vergaß er seine Scheu. Schnell, ehe ihm die Geschwister zuvorkommen konnten, griff er nach dem Teddy und drückte ihn strahlend an sich. Die Mutter lachte. Nun erhielten auch die anderen ihre Geschenke. Jens bekam eine Spielzeugfeuerwehr und Kerstin eine Musik-CD mit ihren Lieblingsinterpreten. Noch einmal griff der Weihnachtsmann in seinen schier unerschöpflichen Sack. Da kamen noch Süßigkeiten und ein Gutschein für Winterkleidung zum Vorschein. Der kam gerade zur rechten Zeit, denn die Kinder waren aus allem heraus gewachsen. Die ganze Familie freute sich. Mit guten Wünschen für die Feiertage verabschiedeten sich der Weihnachtsmann und die Weihnachts-Omi. Es wurde Zeit, auch die letzte Familie zu besuchen.

Nachdem der Weihnachtsmann alle Geschenke verteilt hatte, machte er sich mit seiner Helferin auf den Heimweg. "Omi, das hast du gut gemacht", bedankte er sich bei ihr. "Hilfst du mir im nächsten Jahr wieder?"

"Warum nicht? Kinder zu erfreuen, ist etwas sehr Schönes. Ich danke dir für diesen Abend."

Sie machte eine kleine Pause, ehe sie fort fuhr: "Nach den Feiertagen werde ich wieder eine Zeitung bei dir kaufen."

Mit diesen Worten überreichte sie dem Zeitungsverkäufer/Weihnachtsmann das Weihnachtspäckchen, das nun doch noch seinen Empfänger fand. Jetzt war es an ihm, überrascht zu sein. Vor Rührung bekam er kein Wort heraus, drückte nur schweigend "seine" Weihnachts-Omi an sich. Lisa begleitete ihn bis zum Bahnhof. Wieder wartete sie. Bald kam der Zug, der den Weihnachtsmann aufnahm. Dann ging sie zufrieden nach Haus.

Ulrike Schulz - Zurückbleiben, bitte!

Ulrike Schulz
Zurückbleiben, bitte!

 

Mit jeder Sekunde näher am Tod. Gewillt, das zu nutzen, was vom Leben bleibt. Es gilt, durch die Welt zu rennen, um keine kostbare Sekunde zu vergeuden. Zeit bedeutet Leistung und ist finanziell von Nutzen. Warten heißt Zeit vergeuden.

Die Bahn kommt. Man sieht sie von weitem. Die Masse beginnt zu rennen. Wer es nicht eilig hatte, hat es jetzt eilig oder wird überrannt. Der Menschenstrom fließt in S-Bahneingänge und drängt auf die freiliegenden Sitzplätze. Manche besetzen mehr Plätze als sie zum Sitzen benötigen, andere müssen stehen.

"Zurückbleiben bitte!" Personen fliegen durch die Öffnung in die Bahn, bis sich die Tore schließen. Die übrigen knallen gegen verschlossene Türen und landen auf dem kargen Bahnsteig. Frustriert ärgern sie sich über die verlorene Zeit durch die verpasste Bahn. Jetzt heißt es warten, wo man doch woanders hätte viel gemütlicher warten können, wenn man zu früh zum Arbeitsplatz gekommen wäre. Dort hätte man auch etwas leisten können, hier nicht.

Berlin-Ostkreuz, die S-Bahn fährt ein. Ihre Insassen drängen auf den Bahnsteig, vorbei an jenen, die freiwillig zu neuen Bahninsassen werden. Alle hetzen zur Treppe, um nicht warten zu müssen, wenn sich die Masse staut. Die Masse staut sich, weil alle zur Treppe hetzen, um nicht warten zu müssen. Die Menschen werden in ungeordneten Reihen treppauf zur Ringbahn geschoben. Die linke Reihe überholt die mittlere, versucht es zumindest. Wenn einer zu langsam ist, wird durch Drücken oder Drängeln nachgeholfen. Schließlich befindet man sich auf der Überholspur. Zwei unterhalten sich mitten im Weg und laufen langsam nebeneinander her, wodurch das Vorbeiziehen fast unmöglich wird. Die Menge lässt sich aber nicht aufhalten, sondern überholt auf der rechten Spur, über einen kurzbeinigen Dackel und seinen Besitzer stolpernd.

Man hört ein Geräusch, eine Bahn fährt ein. Die hinteren Mitglieder der Kolonne lassen die ersten zurück, die zu langsam sind, um zu beschleunigen und die S-Bahn noch zu erwischen. Die ersten beschleunigen ebenfalls, können aber nicht auf die linke Spur ausscheren, was zu Verkehrsstockungen auf der rechten Seite führt. Endlich hat sich die Menge auf den Bahnsteig gepresst. Leider war es gar nicht die eigene Bahn, die gehört wurde, sondern die der anderen Richtung. Jetzt heißt es doch wieder warten. Man verteilt sich auf dem Bahnsteig in guter Position, um sich bei einfahrender Bahn vor die anderen Wartenden drängeln und einen guten Sitzplatz erwischen zu können. Wer den anderen dabei anschaut, hat verloren. Es gilt, nur den Platz und die eigenen Füße im Auge zu behalten. Was aber, wenn niemals mehr eine Bahn kommt? Wenn man zurückbleibt am Bahnhof unter den Wartenden, ohne eine Chance je wieder vorwärts zu kommen? Man würde auch die Bahn in eine andere Richtung nehmen, um nur nicht stehen bleiben zu müssen. Warten heißt auch Nachdenken, mit sich selbst allein sein, Produktionsstillstand, Bewegungslosigkeit. Grausige Vorstellung. Man muss vorwärts kommen und sei es nur im Kreis in der Ringbahn, Hauptsache in Fahrt. Da endlich: Die Bahn rollt ein. Alle springen gleichzeitig aneinander vorbei in das lange Gefährt. Sie verhaken sich ineinander, lösen sich wieder und besetzen blitzschnell soviel Platz wie möglich. Ein jeder Inhaber eines gültigen Fahrausweises kann sich nun wieder erholen. Nach vollendeter Reise quetscht man sich sanft aus dem Wagen und geht schnurstracks zur Arbeit. Atemlos, aber mit dem guten Gewissen, keine Zeit zu vergeuden.

Guido Woller

Guido Woller

 

Ostberliner Flair

Straßenfeger oder Stütze gefällig?

Triste Schönheit

Ketwurstessen

Rostiger Stahl

Emsiges Treiben

Umsteigen bitte!

Zug um Zug

Lisa Laubrich - Warte doch mal!

Lisa Laubrich
Warte doch mal!

 

Man geht die S-Bahnbrücke entlang, schaut flüchtig aus dem Fenster, sieht die in den Bahnhof kommende Bahn, die Schritte verschnellern sich – ja man rennt fast, atmet heftig, rast die Treppe hinunter – nimmt zwei Stufen auf einmal, hört die allbekannte eintönige Stimme "Zurückbleiben bitte!", kommt auf dem Gleis an, sieht das rote Warnlicht und hört das "Tut tuut tut", rennt, in der Hoffnung es doch zu schaffen, noch schneller zur Bahn…, …mit einem lauten Plopp verschließt sich die Tür – und man sieht die Bahn davon fahren! Völlig außer Atem, erschöpft und verschwitzt schaut man auf die Uhr. "Schon viel zu spät!", denkt man. Und der regelmäßige S-Bahnnutzer weiß wann die nächste brauchbare Bahn kommt. Ja – es kann sich manchmal um fünf Minuten handeln, bis eine Bahn kommt, die weiter als Warschauer Straße fährt.

Schon wird man sauer auf sich selbst und ärgert sich darüber, warum man erst so spät losgegangen ist, weil man ja noch nachgucken musste, ob der Herd aus ist oder ob auch wirklich alles in der Tasche ist und man ja nichts vergessen hat. Und natürlich hatte man nichts vergessen. Hätte man doch nur die Zeit nicht so vertrödelt oder hätte man sich noch mehr beeilt, dann müsste man hier nicht stehen und warten. Warten! Warten!

Was ist "Warten" überhaupt?

Schwierige Frage! Tja, die meisten würden wohl sagen, dass es ein Zeitraum ist, in dem man auf etwas ... wartet! Aha! Toll! Also ist es Zeitraum, in dem man nichts macht, außer die Grundtaten des Körpers, wie zum Beispiel atmen, sehen und hören.

Also ist Warten reine Zeitverschwendung?

In gewisser Weise schon! Man müsste die "Wartezeit" nur besser nutzen. Wir sind aber auch irgendwie selbst daran Schuld, dass wir sie nicht genug nutzen! Der moderne Warter hört Musik mit seinem multifunktionierenden Handy, dem MP3-Player, mit dem Discman oder er liest ein Buch oder die Tageszeitung. Seine Wartezeit wird durch die Musik oder das Lesen verschönert und somit verkürzt. Dadurch erscheint der moderne Warter zufriedener. Denn das Zeitgefühl ist bei jedem Menschen anders. Ist uns gerade langweilig, scheint die Uhr extra langsam zu ticken, weil sie uns ärgern will. Machen wir etwas, was uns gefällt, haben wir das Gefühl, dass die Zeit wie im Flug vergeht.

Wäre Musik eine Lösung, das Warten angenehmer zu machen? Wohl kaum, denn über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten. Klassik? HipHop? R’n B? Pop? Jazz? Country? Rock? Dance? Heavy Metal?

Es gibt den nervösen Warter. Dauernd schaut er nervös auf die Uhr, dann in die Richtung, aus der die Bahn kommen wird, dann wieder zur Uhr. Meist wird das mit einem Wippen der Beine begleitet. Ja – er wirkt richtig angespannt, verzweifelt und er schwitzt. Wahrscheinlich malt er sich schon im Kopf aus, wie der Arbeitgeber reagieren wird, wenn er zu spät kommen sollte.

Sollten vielleicht Psychologen mit Entspannungstherapien zur Verfügung gestellt werden?

Der lässige Warter geht das alles ziemlich lässig an. Ihm scheint es egal zu sein, dass er warten muss. Er ist nicht so angespannt, sondern echt cool. Er hat kein Problem damit zu warten. Das Einzige, was ihn stört, ist, dass es zu wenig Sitzmöglichkeiten gibt.

Dann gibt es den gereizten, leicht aggressiven Warter. Wie der Name schon sagt, ist dieser Typ Warter wütend, dass er (wieder mal) so lange warten muss. Er atmet heftig durch die Nase ein und aus. Außerdem wirkt er noch angespannter als der nervöse Warter. Er schwört sich, wenn die Bahn nicht spätestens in einer Minute kommt, wird er ausrasten, denn den Anblick des lässigen Warters kann er nicht mehr ertragen. Außerdem denkt er, dass sich die ganze Welt gegen ihn verschworen hat.

Sind etwa Käfige zum Wut rauslassen die Lösung?

Der gelangweilte Warter langweilt sich immer! Egal, ob die Bahn schon in einer Minute oder erst in fünf Minuten kommt. Die ganze Zeit denkt er: "Boar, ist das langweilig! …Mann, ist das aber langweilig! …Aaaah… AAAHHH… LAAAAANGWEILIG!!!"

Sollten vielleicht Abenteuer-Ecken gebaut werden, um das Warten angenehmer zu machen?

Und die Paar-Warter darf man natürlich auch nicht vergessen. Diese Warter sind in Gruppen oder zu zweit zu finden. In der Wartezeit können sich die Paar-Warter unterhalten – auch über das lästige Warten. Sie nutzen also die Wartezeit zu Gesprächen!

Wir kommen unsrem Ziel also schon näher!

Ich denke jedoch, dass in jedem von uns ein Teil von jedem Wartetyp steckt! Jeder wird nach spätestens fünf Minuten Wartens nervös. Und gereizt wird man auch, weil man sich die ganze Zeit über das S-Bahn-System aufregt. Und langweilig ist das Warten auch. Die Mischung macht’s! Einer hat von dem einen mehr, vom anderen weniger Wartetypeigenschaften!

Nun noch mal zum Nutzen der Wartezeit!

Komischer Weise habe ich mir schon vor einiger Zeit Gedanken über das Warten gemacht, als ich bei Burger King darauf wartete, endlich bedient zu werden. Ich dachte über den Zusammenhang zwischen Leben und Warten nach. Eigentlich warten wir unser ganzes Leben lang auf irgendetwas — und ehe man sich versieht, ist das ganze Leben schon vorbei und es stellt sich heraus, dass man eigentlich nur auf den Tod gewartet hat! Traurig, aber wahr?

Als ich mit meiner Mutter dann über meine Wartegedanken sprach, während wir an einer Ampel warteten, dass sie endlich Grün schaltet, sagte sie zu mir: "Warte doch mal!" WAS? Ich warte mein ganzes Leben auf irgendetwas und das einzige, was ihr dazu einfällt, ist mir zu sagen, dass ich warten soll, weil ich schon über die Straße gegangen bin :-)!

Da sie gerade eine "Positives-Denken-Phase" durchmacht, entstand eine wirklich witzige Diskussion. Eine Pessimistin gegen eine Optimistin! Der Kampf kann beginnen!

Ich solle das alles nicht so negativ sehen, war ein Kommentar meiner Mutter. "Du kannst die Zeit doch nutzen, um mit deinem "höheren Ich" zu kommunizieren!" Jaa! – Blöderweise entstanden doch meine "Wartengedanken", als ich bei Burger King mit meinem höheren Ich kommunizierend gewartet habe – schon vergessen? Aber will ich das überhaupt — das Kommunizieren mit meinem höheren Ich? Aber auf jeden Fall würde man etwas Sinnvolleres machen, als sich über das S-Bahnsystem zu ärgern oder sich selbst verrückt zu machen mit irgendwelchen Vorstellungen, den Arbeitsplatz zu verlieren.

Aber ob davon die Langeweile vergeht?

Stellen wir uns doch mal vor, jeder Wartende würde zu der neuen Wartegruppe "Der nachdenkliche Warter" mutieren! Dann würden ziemlich viele Leute ihre Gedanken aufschreiben und an Buchverlage schicken, in der Hoffnung, dass ihre Philosophien veröffentlicht werden. Aber vielleicht würden manche Texte wirklich toll sein, so dass daraus Bücher werden. Und dann würde es zu einer Überflutung von "guten Büchern" kommen.

Aber was ist denn nun die Lösung des Wartens?

Sollte Musik über das ganze Ostkreuz schallen?

Sollen Bücher verteilt werden?

Sollen Entspannungsmaßnahmen von Psychologen zur Verfügung gestellt werden? (Das wäre auch gut für die Wirtschaft – ich sage ja nur "neue Arbeitsplätze schaffen".)

Sollten weiche Sofas und Sessel überall auf dem Ostkreuz aufgestellt werden?

Sollten Box-Käfige überall stehen, damit man seine Wut rauslassen kann?

Oder sollten Abenteuerspielplätze gebaut werden, damit die endlose Langeweile vergeht?

Vielleicht sollten wir nur zu zweit zum Ostkreuz gehen?

Tolle Lösungen? Na ja! Warten wir mal ab! :-)

Warten ist also relativ.

Aber da ich der Meinung bin, dass Deutschland sowieso viel zu negativ denkt, finde ich, dass positives Denken die "richtige" Lösung ist!

Also müsste das Thema nicht "Warten am Ostkreuz" heißen, sondern "Kommunizieren mit dem höheren Ich!"

 

PS: Übrigens entstand dieser Text, während ich mit meinem höheren Ich am Ostkreuz kommuniziert habe!

Peter Grünwald - Warten auf Maria

Peter Grünwald
Warten auf Maria

 

Um Mitternacht am Ostkreuz! "Maria" steht auf dem Zettel, der heute Vormittag mit der Post gekommen ist. Ja, ganz recht, ich habe einen altmodischen handgeschriebenen Brief bekommen. Am bewegtesten war wohl der Briefträger, der ihn mir mit feierlicher Geste aushändigte. Selbst für einen wie ihn ist die Zustellung eines "richtigen Briefes" ein Ereignis, das einem schon mal das Wasser in die Augen treiben kann. Aber das kommt wieder in Mode, besonders bei Leuten, die auf die Sicherheit ihrer Nachrichten größeren Wert legen.

Der Bahnhof Ostkreuz ist kein Bahnhof zum Warten. Da wüsste ich bessere: Paris, Gare du Nord, zum Losheulen romantisch, oder Paddington Station, dort beginnen die verzwickten Kriminalgeschichten mit älteren britischen Damen, oder Grand Central in New York, wo sich, wie ich aus Filmen weiß, die Mafia in Zeitlupe gedehnte, erlesen choreografierte Feuergefechte liefert. Und nun stehe ich hier herum, am Ostkreuz.

Ich warte auf Maria. Maria ist, ich sag das mal so, meine Freundin. Ich zögere nicht etwa bei dem Wort, weil ich mir über meine Gefühle im Unklaren wäre, durchaus nicht. Es ist nur, dass wir uns viel zu selten sehen, um als richtiges Paar zu gelten, schon gar nicht für die Anderen, da gibt es nur mehr oder weniger bizarre Mutmaßungen. Die Wohlwollenderen unter den Gerüchtemachern argwöhnen etwas rein Geistiges oder Spirituelles dahinter. Das ist zwar lächerlich, aber — wie das beim Gerede der Leute meistens so ist — es stimmt auch, irgendwie, teilweise. Für mich ist es ganz einfach: Maria ist Maria! Fertig! Das ist eine Tautologie, ich weiß. Aber ist nicht jede Definition eine Tautologie?

Was einem bei Warten nicht alles durch den Kopf geht. Warten scheint für unser Gehirn ein unerträglicher oder unmöglicher Zustand zu sein, und deshalb versucht es alles, um dem zu entkommen.

Um Mitternacht ist hier nicht viel los. Der fliegende Blumenhändler, den vermutlich alle Achmed nennen, obwohl er sicherlich nicht so heißt, ist auch noch da, steht auf dem Bahnsteig hinter seinen Roseneimern und träumt vor sich hin. Ich kaufe ihm eine Rose ab. Die Vorstellung, Maria mit einer Rose zu begrüßen, gefällt mir, weil sie weder zu Maria noch zu mir passt. Maria wird diesen Stilbruch "schräg" oder sogar "abgefahren" finden, und mir hilft er über die ersten Sekunden der Verlegenheit hinweg. Ich habe immer mit einer Anfangsverlegenheit zu kämpfen, wenn ich Maria treffe.

"Pardon, ich suche das Ostkreuz."

Wo kommt denn der her? Neben mir ist plötzlich ein Mann aufgetaucht, so um die Sechzig, grauhaarig, in einen grauen Mantel gewickelt, eigentlich ist alles an ihm grau, durchschnittlich, normal. Und weil er weder verrückt, noch betrunken oder stoned zu sein scheint, beantworte ich seine Frage, so albern sie auch ist, mit einer alles um mich herum einschließenden Armbewegung.

Der Mann findet wohl, dass das die falsche Antwort ist. "Nein, nein, ich meine Das Ostkreuz. Sie kennen das Ostkreuz nicht? Das ist eine Kneipe, eigentlich nur ein begehbarer Kiosk, mit dem üblichen Sortiment an leichten und schärferen Getränken und dem eher ungesunden Speisenangebot. Den Namen hat die Kneipe von dem S-Bahn-Knotenpunkt, an dessen Rand sie sich vor Zeiten einmal befand. Den Bahnhof gibt es schon lange nicht mehr, nur der Kiosk ist geblieben. Wegen des Namens soll es jahrelange Prozesse mit der Bahngesellschaft gegeben haben. Aber das war lang vor meiner Zeit."

Der Mann hat sehr schnell, aber sehr deutlich gesprochen. Er rasselt die Sätze herunter, ohne nach Worten suchen zu müssen, Standard-Hochdeutsch, kein erkennbarer Akzent. Ich versuche, ihn einzuordnen, aber er passt in keine der Schubladen, die man für gewöhnlich öffnet, um Fremde darin unterzubringen. Unangenehm ist er nicht, gebildet wohl auch, aber darüber hinaus ist alles an ihm von einer geradezu aufreizenden Durchschnittlichkeit, die alle Kategorisierungsversuche vereitelt.

"Und Hanks Vater kennen Sie dann sicher auch nicht", höre ich ihn jetzt weiter reden.

"Hank?"

"Ja, Hank. Der Typ hinter der Bar im Ostkreuz. Vermutlich heißt er nicht wirklich so, aber alle nennen ihn Hank, und ihm scheint das zu gefallen, typisch für Leute nach zu vielen B-Western und zu viel Schundliteratur."

"Und dieser Hank hat einen Vater: Hanks Vater, Sie sagten es." Der Typ beginnt mir zu gefallen.

"Ja, Hanks Vater. Eine Legende. Eine verblassende Legende allerdings. Er dealte mit illegalen Chips, war eine große Nummer in der Branche. Bis sie ihn gekriegt haben. Jetzt liegt er auf einer ehemaligen Touristeninsel vor der südspanischen Küste, die seit den letzten Epidemien verödet ist und als Verbannungsort für widerwärtige oder auch nur missliebige Zeitgenossen dient, in der Sonne und langweilt sich zu Tode. Schnitzt aus gestrandeten Plastikabfällen, die er hochtrabend Objets trouvés nennt, heimische Folklore. Ein Jammer!"

Wie kann man nur solchen Quatsch erzählen und dabei völlig normal aussehen! Bin ich im Fernsehen? Um ihm höflich zu demonstrieren, dass ich ihn durchschaut habe, sage ich möglichst lässig: "Ja ja, das Ostkreuz war schon immer ein Ort für Träume, es inspiriert ungemein, regt die Fantasie an, macht geradezu high."

Er ist nicht im Mindesten irritiert, lächelt vor sich hin und meint: "Aber die Träume unterscheiden sich sehr voneinander, je nachdem, wer gerade mit dem Träumen dran ist. Ich habe mir da zum Beispiel ein paar längst vergessene Internetseiten aufgehoben. Dort träumte jemand mit heute etwas betulich anmutenden computergenerierten Ansichten vom Ostkreuz als quirligen Knotenpunkt öffentlichen Verkehrs. Und das vor Leuten, die ihren Autos Kosenamen geben und Autobahnen für die einzig notwendigen Verkehrsbauten halten. Das muss man sich einmal vorstellen!"

Ich werde neugierig. "Und was ist dann aus dem Bahnhof geworden?"

"Hat die SEBPU gekauft."

"Wer ist denn das nun wieder?"

"S E B P U", er spricht mir die Buchstaben überdeutlich vor, jeden einzeln, "das ist die Société Européenne des Biotopes Post-urbaines, also Posturbane Biotope, so etwas. Ein Club von vermutlich sehr reichen spleenigen Typen, deren Mission es ist, an spektakulären Orten, so vorzugsweise an ehemaligen Verkehrsknotenpunkten, Grundstücke zu kaufen, sie martialisch einzuzäunen und der Natur ihren Lauf zu lassen. So wie alte Mayasiedlungen unter dem Dschungel verschwinden, Sie verstehen. Das ganze Ostkreuz ist ein Biotop," und jetzt grinst er dämonisch, "das ganze? Nein! Da gibt es einen Wasserturm, der von einem störrischen alten Mann besetzt ist. Aber das ist eine Geschichte für sich."

Unwillkürlich blicke ich zu dem Wasserturm hinüber. Von hier aus kann ich nur dessen schwärzlichen Rumpf sehen. Der Mann folgt meinem Blick. Und dann geht durch ihn ein Ruck. In seinen Augen blinkt so etwas wie ein ungerufener, unliebsamer, nachgerade entsetzlicher Verdacht auf. Er hält inne, blickt mich ernst, beinahe verstört an und fragt: "Welches Datum haben wir heute?"

Ich sage es ihm. Meine Auskunft scheint ihm nicht zu gefallen, besonders die Jahreszahl, die ich pedantisch-ironisch hinzugefügt habe. Er murmelt Unverständliches, etwas mit "Großergott!" und "Achduliebescheiße!" dazwischen, und entfernt sich, die Treppen zur Ringbahn hinauf stolpernd.

So lästig mir der Typ auch war, jetzt fehlt er mir. Er hat mich zerstreut, mir das Warten verkürzt mit seinen Lügengeschichten. Von nun an wird das Warten wieder lang.

Am Ende des Bahnsteigs steht noch ein Wartender, man sieht es an der ungeduldigen Art, mit der er die zehn Schritte hin und zurück, die er für sich als eine Art Wartekäfig definiert hat, durchmisst. In seiner Hand hält er, etwas linkisch, so wie ich jetzt, eine Rose. Peinlich berührt wie immer, wenn ich jemand begegne, der das gleiche trägt oder tut wie ich, sehe ich weg und versuche, ihn aus dem Kopf zu bekommen. Vergeblich. Hat der Mann nicht auch sonst so ausgesehen wie ich, die Statur, die Silhouette, die Art sich zu bewegen? Ich riskiere einen kurzen Seitenblick. Und tatsächlich: der Mann dort ist irgendwie ich. Seltsam. Aber warum nicht? Seit ich hier bin, habe ich nur Seltsames erlebt, das muss an dieser Örtlichkeit liegen. Ostkreuz um Mitternacht! Noch Fragen?

Weil ich übermütig genug bin und um mir die Zeit zu verkürzen, greife ich die Idee auf und spinne den Plot zu einer Alptraumvision weiter: Ich stehe auf dem Bahnhof Ostkreuz und warte auf Maria. Währenddessen tauchen auf dem Bahnsteig hier und da Männer auf, die ebenfalls eine Rose in der Hand halten und auf den nächsten Zug warten. Es werden immer mehr. Vor Achmeds fliegendem Blumenladen (jetzt nenne ich ihn auch schon Achmed!) bildet sich eine Schlange aus Männern, die irgendwie aussehen wie ich und unbedingt eine Rose kaufen wollen. Achmed hat alle Hände voll zu tun, kann es nicht fassen. Als schwante ihm, dass irgendetwas nicht stimmt, blickt er zwischendurch zu mir herüber und macht eine Geste des Bedauerns, als wollte er sagen: "Tut mir leid, Alter, ich weiß, dass hier eine ganz schräge Geschichte abgeht. Aber Geschäft ist Geschäft."

Der Bahnsteig füllt sich, fast könnte man von einem Gedränge sprechen. Mir wird klar, sie alle hier warten auf Maria, meine Maria! Mir wird Angst. Ich wende mich brüsk zum Gehen, die Rose unterwegs in einen Papierkorb werfend…

 

"Pardon, wartest du auf mich?"

"Aber ja. Hallo, Maria."

"Und für wen war dann die Rose, die du gerade eben in die Tonne geworfen hast?"

Inka Engman - Wo der Fuchs die Zeitung liest

Inka Engman
Wo der Fuchs die Zeitung liest

 

Wie immer bin ich der einzige, der hier wartet. Auf diesem Bahnsteig hält nur alle zwanzig Minuten die S-Bahn, die von Schönefeld in die Stadt fährt. Gras wächst zwischen den Pflastersteinen, im Mai leuchtet gelb der Löwenzahn aus allen Ritzen hervor. Jenseits des Bahnsteigs wuchert dichtes Gestrüpp den Bahndamm hinunter.

Ich warte auf meinen Kumpel. Kennen gelernt habe ich ihn vor einem Jahr, als ich zufällig hier ausgestiegen bin. Auch damals war ich allein auf dem Bahnsteig. Ich schlenderte los Richtung Treppe, guckte dahin und dorthin — und da sah ich ihn. Ich blieb stehen. Schade, dass ich keinen Fotoapparat dabei habe, dachte ich. Mitten in die Büsche hatte es eine Zeitung hinein geweht. Davor saß ein Fuchs und steckte seine lange spitze Nase in das Papier, als ob er es eifrig studieren würde.

Ich blieb eine Weile stehen und guckte. Schließlich hob der Fuchs seine Nase und sah auch mich. Aber nicht, dass er weggelaufen wäre.

"Hätten Sie vielleicht eine etwas anspruchsvollere Zeitung für mich?" fragte er, "diese hier besteht nur aus bunten Bildern, großen Überschriften und einem Haufen Druckfehlern. Ich jedoch würde gern ein wenig lesen."

Ich starrte ihn mit weit aufgerissenem Mund an, fasste automatisch in meine Tasche und reichte ihm das Buch, das ich gerade las. Der Fuchs setzte tatsächlich zum Sprung an, und schon saß er vor mir und steckte seine lange spitze Nase in mein Buch. "Hm… sehr schön!" sagte er, "ich bevorzuge es jedoch, mich über die Neuigkeiten in der Welt zu informieren". "Ich… ich kann dir morgen eine Zeitung bringen!" schlug ich vor.

"Ja, das wäre sehr nett von Ihnen!" sagte der Fuchs und wackelte vor Freude mit den Ohren. Dann war er mit einem eleganten Sprung im Gebüsch verschwunden.

Auf dem Heimweg zweifelte ich an meinem Verstand. Doch am nächsten Tag kaufte ich tatsächlich eine Zeitung, eine mit weniger Bildern und mehr Schrift, und lief zum alten Bahnsteig. Ich spähte ins Gebüsch, aber dort war niemand. Allerdings hatte auch eben die S-Bahn gehalten. Ich breitete die Zeitung vor mir aus und las ein bisschen. Da stupste mich was am Knie. "Wenn Sie die Güte hätten, mir ein wenig vorzulesen, wäre ich Ihnen sehr verbunden", sagte der Fuchs und hielt mir seine spitze Nase entgegen. Ich guckte ihn eine Weile an. "Warum nicht", sprach ich dann und begann zu lesen.

Von nun an besuchte ich den Fuchs fast jeden Tag. Wir lasen uns gegenseitig aus der Zeitung vor und diskutierten über das Tagesgeschehen. Der Fuchs war ein angenehmer Gesprächspartner und sehr intelligent. Nur wenn die S-Bahn hielt, sprang er mit einem Satz ins Gebüsch. Die aussteigenden Leute guckten mich manchmal komisch an, wie ich da so allein auf dem Bahnsteig saß, aber das machte mir nichts aus.

Doch jetzt wird alles anders. Ich bin heute ohne Zeitung gekommen. Der Fuchs stupst seine spitze Nase in mein Knie, wie immer zur Begrüßung. Aber wir sind beide ein bisschen schwermütig heute. "Dein Gebüsch ist als erstes dran, wenn sie mit dem Umbau beginnen!" sage ich. Der Fuchs nickt. "Ziehst du nun endlich in den Wald?" versuche ich ihn zu necken, doch er bleibt ernst. "Du weißt doch, dass ich ein alter Stadtfuchs bin!" sagt er, "und im Wald gibt es nur selten Zeitungen". Ich nicke. Ich bin selbst ein bisschen traurig. Irgendwie habe ich den alten Bahnsteig am Ostkreuz lieb gewonnen.

Aber wir kennen aus der Zeitung noch ein paar andere Orte in Berlin, der Fuchs und ich. In die Hasenheide will er nicht ziehen, die ist ihm zu weit weg. Erst einmal wollen wir uns die Rummelsburger Bucht ansehen, später vielleicht den Treptower Park. Wir finden schon einen Ort, an dem wir in Ruhe zusammen Zeitung lesen können.

Carsten Schulze - Paranoia Ungeheuer auf Stralau

 

Carsten Schulze
Paranoia Ungeheuer auf Stralau

 

Die Angst war ein dunkler reißender Fluss, der durch eine verlassene Kathedrale strömt. Das Gefühl irrwitziger Leere unter ihrer Kuppel sprengte sämtliche Dimensionen seines Körpers.

Verschwommen erreichten ihn die ersten Konturen echter Materie. Das war kein Traum mehr.

Umrisse, Farben, viel Blau, ehemaliges Weiß, verschlissen, hinter pulsierender grellroter Schrift, Gestank, Kälte, Übelkeit, Gedankenlosigkeit und echte Fülle, berührbar, greifbar. Die schamlosen Wände des völlig versifften Raums, in dem er sich befand, reflektierten die namenlose diffuse Angst, die ihn, nachdem er aus seinem Alptraum erwacht war, überschwemmte und jeden klaren Gedanken im Keim erstickte. Er zitterte völlig unkontrolliert. Unfähig, auch nur die Hände aus seinem Schoss zu bewegen, sich ein wenig aus der embryonalen Haltung zu lösen, die sein Körper eingenommen hatte, verharrte er im Schutt des zerschlagenen Kachelofens neben der Tür. An die Wände gesprühte Obszönitäten pulsierten wie lebendige Körper, schienen ihn anzuschreien, hinein in die unheilvolle Stille tief in ihm. Der Boden war mit Müll übersät. Ratten hatten zahllose Plastiktüten zerbissen, den Inhalt im Zimmer verstreut, zerbissene Fastfoodschalen, Geflügelknochen, Alupapierschnipsel, Pappteller mit Essensresten, Kot, darüber und in ihm — ihn überflutend — ein ekelerregender Gestank. Stoßweise ging sein Atem und spülte diesen Gestank in seinen Körper und wieder und wieder aus ihm heraus. Irgendwo in seinen Eingeweiden breitete sich, kaum wahrnehmbar stetig, eine furchterregende Übelkeit immer schneller aus. Sein Körper begann zu zucken, verdichtete sich zu einer immer schneller krampfenden, zuckenden Masse. Mit ihm völlig unbekannter Urgewalt erbrach er in einen gurgelnden Schrei. In Materie verwandelte Angst, der Inhalt seines Magens schien mit ihr identisch zu sein. Vielleicht lag in der chemischen Zusammensetzung all der vergorenen Substanzen — der körperfremden, die er sich zugeführt hatte und der körpereigenen, die mit jenen in Reaktion gegangen waren — das Geheimnis der Angst verborgen. Nach Luft ringend versuchte er die Kontrolle über seinen Körper wiederzugewinnen. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er in die Hose gepinkelt hatte — rein statistisch gesehen katapultierte ihn diese unleugbare Tatsache in die verlassene Schar zweifellos Verlorener, die Orte wie diesen produzierten. Mühsam richtete er sich auf und saß nach einer unbeholfenen Drehung mit dem Rücken zur Wand. Da war ein sicherer Halt. Feste unverrückbare Materie, die Schutz bot. Sein Kopf begann in unbarmherzigem Rhythmus zu pochen, aber der akute Angstzustand ließ nach. Die Wand im Rücken teilte die Leere und schuf einen Raum, der wieder körperlich erfahrbar für ihn wurde. Dann kamen die Bilder.

 

Er hatte eine sehr diffuse Erinnerung an diesen Zustand der vollkommenen Überflutung. Das war lange her, eine seiner ersten Drogenerfahrungen massiver Überdosierung. Zahllose Facetten gespeicherter Bilder, Fetzen von Ereignissen, Personen, Zuständen - eigener wie medial vermittelter - wirbelten wild durcheinander, verwundernd, schockierend, zweifelhaft oder unglaublich. Und diese, mit seinem eigenen rotierenden Gedächtnis schwangere Kugel, die ihn umschloss und die er gleichzeitig als sich selbst identifizierte, barg alle Schrecken, die er eben noch aus sich heraus gespieen zu haben hoffte. Er wusste, dass es nur eine Möglichkeit gab, diesen Zustand auszuhalten: zu warten, dass er abebbte, vorüber zog wie ein Unwetter in seinem Gehirn, diese selten benutzte Verschaltung der Synapsen - die Hoffnung nicht aufzugeben, dass es ihn wieder loslassen würde und die Erinnerung an das Gefühl von Hoffnung nicht zu verlieren, wenn es unerträglich lang zu dauern begänne.

Er besaß kein Zeitgefühl mehr und — er hatte eine unüberbrückbare Distanz zu seiner Person aufgebaut. Er sah sich agieren in diesem schrillen Kaleidoskop, tauchte auf in Szenen, mit Freunden, Kollegen Konkurrenten, Fremden, immer wieder verwoben mit Wunschbildern, alptraumhaften Szenen in dimensionslosen Räumen, die keine Blöße einer Identifikationsmöglichkeit preisgaben. War er die Summe dessen, was seine Umwelt von ihm wahrnahm, zusammen mit dem Rest an Selbstwahrnehmung, die er in nüchternen Momenten noch besaß? Und wenn die Paranoia ihn zerfraß, seine Persönlichkeit zersiebte und Selbstzweifel in die Löcher säte, die hungernd in ihn hinein wucherten, bis er nichts mehr war als Angst und Elend? Er hasste sich, und er hasste jede Erinnerung an seine Person. Sein arrogantes Auftreten, seine rechthaberische Art, anderen über den Mund zu fahren, sein unstillbarer Drang nach Anerkennung und die ständige Gier nach materieller Befriedigung, die permanente Missachtung fremder Interessen hatten ihn einsam gemacht. Aber er hatte nur um so heftiger auf Zurückweisungen oder Angebote für ein klärendes Gespräch reagiert. Am Ende war er allein gewesen. So was schafft falsche Freunde. War er wirklich wie er sich jetzt sah? Wie konnte sein Lebensplan, ja sein über Jahre gelebtes Leben sich so absolut gegen jeden inneren Widerstand — sei er auch unbewusst — behaupten und in völlige Isolation auch von sich selber führen? Vielleicht würde es vorbeigehen, vorüberziehen wie ein Schatten, der sich manchmal auf die Seele legte. Er musste nur warten. Warten, dass er sich wiedergewann.

 

Jetzt erst bemerkte er, dass er in Socken hier saß. Er sah sich um, konnte seine Schuhe jedoch nirgends entdecken. Seine Hose war dreckverschmiert, sein Hemd hatte er vollgekotzt. Auch sein Sakko war verschwunden. Ihm war hundeelend. Gegenüber schien sich jemand ein Lager eingerichtet zu haben. Da war ein fleckiger, zerrissener Schlafsack. Ein Pulli, Unterwäsche, leere Flaschen, ein aufgeschlagenes Buch und zwei Tüten, aus denen Habseligkeiten heraushingen, lagen verstreut herum. Unmöglich, die paar Meter zu überwinden, um wenigstens den Pulli überzustreifen. In einer Ecke des Raums war der Müll zu einem Haufen aufgetürmt. Durch die Fenster sah er auf die graue Rückwand eines Vorderhauses, das offensichtlich noch bewohnt war. Es regnete. Von der Kastanie im Hof riss ein Sturm das welke Laub. Er hielt den Atem an, horchte angestrengt — jede bewusste Handlung kostete ihn Kraft — hörte Schritte weit unten, entferntes Stimmengewirr, das näher zu kommen schien. Panik stieg in ihm auf. Wer konnte sich hier her verirren? Kamen sie zu ihm? Wie war er überhaupt hier her gelangt? Bestimmt mit fremder Hilfe. Er unterschied jetzt mehrere Stimmen, lachende Männerstimmen. Sie kamen langsam die Treppe herauf. Gedanken rasten durch seinen Kopf. Er konnte sich unmöglich bemerkbar machen, verstecken, nur vom Fleck kommen war nicht drin. Er stellte sich vor, wie sie um ihn herum stehen würden, ihn auslachten und sich anstachelten, was sie mit ihm anstellen könnten. Er war wehrlos, körperlich wie mental. Wie war er nur in diese gottverdammte Scheiße geraten?

Verfluchte Paranoia! Ein paar Jungs vielleicht, die das Haus durchstreiften, von hinten durch ein offen stehendes Fenster, um die Wände zu besprühen. Der Penner womöglich und seine Kumpels, die zum Saufen herkamen, weil draußen der Sturm tobte. Der Klang der Stimmen kam ihm vertraut vor. Ein geschäftsmäßiger Tonfall, höflich, sachlich, mit witzigen Einlagen gespickt, die dreckiges Lachen hervorriefen. Einer schien älter, er führte jetzt das Wort. Angestrengt horchte er von seinem Platz.

"Man glaubt erst, wenn man es selber sieht, welchen Auswurf dieses Land beherbergt, gerade in einer Stadt wie Berlin. Vor 15 Jahren haben wir begonnen im Osten Inseln zu errichten, heute lassen wir die Inseln schleifen, die übrig geblieben sind. Sie wissen, dass Potential in dieser Gegend steckt, wenn wir die Rahmenbedingungen ändern. Wir könnten auf einen Schlag alles erledigen. Die Logistik, die Finanzierung, alles steht. Die Pläne liegen seit Jahren in der Schublade. Der große Wurf, Sie nehmen das Gelände, seine Ressourcen, ergänzen sinnvoll, schaffen Strukturen, verdienen Millionen. Und die Möglichkeiten! Sie wissen doch, je weiter das Feld, desto größer die Möglichkeiten. In meiner Position kann ich einiges bewegen. Der lange Atem ist das Wichtigste. Sie brauchen Ressourcen, immer am Ball bleiben, breit aufgestellt, aber schön schlank. Jeder trägt seinen Teil bei und kriegt sein Stück vom Kuchen, auch Sie und ihre Leute."

Ein Mann um die 60, Hut über Glatze, Goldbrille, beigefarbener Trenchcoat über feinem Tuch, die Schuhe nicht unter 500 Euro, da kannte er sich aus, im Schuh steckte der Mann, trat mit einem großen Schritt ins Zimmer. Grotesker hätte der Gegensatz zwischen Mann und Zimmer nicht sein können.

"So sehen heute die Penner aus, Herr Vogt, das müssen Sie sich anschauen. Und öffnen Sie bitte die Fenster, das ertrage ich nicht." Vogt stürzte über den Müll hinweg zum Fenster.

Der Alte fasste ihn am Kinn und bewegte seinen Kopf hin und her.

"Tss, Tss, Tss Helms. Wie ich mich freue, sie in diesem Aufzug zu treffen. Sie los zu werden, ist das Sahnehäubchen auf diesem kleinen Geschäft. Es ist wie nach einem Boxkampf. Der Verlierer muss sich dem Publikum stellen, bevor er den Ring verlässt. Alle wollen ihn anschauen. Den Kampf haben sie lustvoll angesehen. War der Verlierer ein Feigling, muss er den Spott dafür entgegennehmen, dass er seinen Mut überschätzt hat."

Küpper, diese immer grinsende Visage. Sein Zahnarzt hatte ein Monster aus ihm gemacht, aber er fand das wohl schick. Irgendwas stimmte da mit der Farbe nicht und die Schneidezähne waren alle zu groß geraten. Er sah wirklich wie ein Wolf aus, der Kreide gefressen hatte, schneeweiß zwischen den Lippen. Wieder stürmten Gedanken auf ihn ein. Küpper inspizierte die Wohnung. Langsam dämmerte ihm der gestrige Abend entgegen, Gefühle, Gesichter, Szenen kehrten zurück, die ganze elende Scheißsituation, in die er geraten war, ein abgekartetes Spiel von Anfang an. Man wird unvorsichtig, wenn man zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist. Wer bewundernd neben sich selber steht, verliert den Instinkt, und das kann einem das Genick brechen in diesem Geschäft. Zahlen lügen, aber Menschen brüten sie aus. Warum sollte man ihnen vertrauen? Gefallen beruhen auf Gegenseitigkeit, Sympathie kann geheuchelt sein, alte Freundschaften, Familienbande. Es funktioniert natürlich immer noch nach archaischen Mustern. Was ist archaischer als das Ego?

Es waren Küppers Jungs in der Bar gewesen. Sie hatten ihm geschmeichelt mit dem Stralaudeal, den er gemanagt hatte. Als Hellmann und Schulz rausgeflogen waren nach dem Urteil. Sie waren noch im Gericht, als der Schlosser die Türen aufbrach. Stundenlang standen sie später mit ihrem Kram im Regen. Die hatten ja niemanden. Blitzkrieg, das war unnötig aber gut für den Ruf. Er erinnerte sich, dass sie ihn untergehakt nach draußen geschleppt hatten, an die grinsenden Herumstehenden, und dass Koks im Spiel war. Ein Scheißladen! Wahrscheinlich hatten sie Surrogat eingepfiffen und ihm MDF verpasst. Das Paranoia Ungeheuer, ein Tanz auf dem Vulkan bei falscher Dosierung, und es war pures MDF gewesen, da war er sicher.

"Helms, alle warten auf sie. Sie hatten ihre letzte kleine Chance, heute im Universal, erinnern Sie sich? Die Frist ist abgelaufen, seit genau", Küpper sah auf die Uhr, "32 Minuten. Die Herren essen jetzt, das wird noch dauern und sie warten natürlich auf Sie. Wir nehmen Sie jetzt mit. Vogt, legen Sie dem Penner den Schlafsack um und bringen Sie ihn nach unten. Nach mir, und kommen Sie zu Fuß, sonst verpestet er den ganzen Wagen."

 

Die beiden Jungs hatten draußen rumgelungert. Sie hoben ihn grinsend auf und schliffen ihn Stockwerk für Stockwerk runter. Spekulanten aller Länder vereinigt euch! stand an der Wand im Hofgang. Marx? Nein, der ging anders, so’n Spruch über Kommunismus. Der Hof stand zentimetertief unter Wasser. Brennholz war an der Wand gestapelt. Gegenüber, neben dem Eingang ins Vorderhaus lag wieder ein Müllhaufen. Kühlschränke, Einkaufswagen, Badewannen, Fernseher, modernd, schimmelnd, wer konnte so leben, dachte Helms? Auf der Straße herrschte eine Tristesse, die sich wunderbar mit seiner Stimmung vertrug. Er war jetzt barfuß, der nasse Asphalt vermittelte ihm ein unbekanntes aber nicht unangenehmes neues Körpergefühl. Wenn sie gingen, hatte er noch 15 Minuten. Wie sollte er reagieren? Küpper hatte ihn ausgebootet, sie würden ihn fallen lassen, soviel war sicher. Er spürte unbändige Wut in sich aufsteigen, dieses ekelhafte Spiel, die Fressen, die er jetzt hasste, seine eigene Fresse, zum Kotzen, — spürte, wie er sich in ein unkontrollierbares Bündel Energie verwandelte, Schritt für Schritt an der langen Mauer entlang. Postindustrielle Verwahrlosung dahinter, geduckt verharrende Verhandlungsmasse, alt, graue Geschichte trotzig jedem entgegenschleudernd, der sich zurückwandte, darin, — Statistinnen, Praktikantinnen auf dem Weg zu den Kulissenschiebern dieses Theaters der Stadtentwicklung. Junge Reiher schwebten ein vom Fluss, die mit den Anglern um Fische buhlten. Schließlich das Universal. Er musste pissen. Limousinen standen in Reihe, im Glanz der Leuchtreklamen, das Geräusch des Regens verstärkte den Druck seiner Blase. Ein Mann in Livree verstellte ihm den Weg.

"Helms, stehe ganz oben auf der Liste!" stammelte er und schob den Portier nachdrücklich bei Seite. Durch den schweren roten Vorhang drang gedämpftes Stimmengewirr und der Duft von Cohibas. Er teilte den Stoff und trat ein. Mondäne Kulisse, altehrwürdiges Mauerwerk, erhabene Fenster zum Fluss, davor die Herren in Laune. Er legte den nassen Schlafsack, der ihn vor dem Regen geschützt hatte vor sich auf den Fußboden und schritt darüber hinweg in den Dreiviertelkreis der Tische. Er war jetzt die Ruhe vor dem Sturm. Alle waren da. Ehrenpräsi wie immer vor Kopf, daneben die Patenonkel, außen Küpper und die anderen Grobholzschnitzer, die den Hals nie vollkriegten, die Lügenbarone, denen die Interessenkonflikte nach und nach das Gesicht zerfraßen. Langsam verstummten die Gespräche.

"Helms, Sie kommen spät, zu spät fürchte ich. Ihr Offenbarungseid läuft schon durch die Druckmaschinen. Die Herren Redakteure haben nur die aktuellen Prämissen notiert und sind gleich wieder verschwunden. Jetzt sind Sie da, wo Sie immer hinwollten. Ganz oben, Seite eins! Man wird ihnen den Arsch aufreißen!"

Er hatte Küpper fest im Blick, die ganze Zeit. Seine Blase musste gleich platzen.

"Ich möchte, dass Sie alle mit mir anstoßen, Sie zuerst Küpper, nehmen Sie ihr Glas, ich schenke ein." Helms öffnete seine Hose, lief die paar Schritte zum Tisch und pinkelte Küpper auf den halbvollen Teller, die Pisse spritzte Küpper auf die Brust, ins Gesicht und auf die Brille.

"Nehmen Sie schon Ihr Glas, geht ja alles daneben", sagte Helms mit angsterregender Ruhe.

Ehrenpräsi schnellte hoch. Backen und Kinnlade bebten, als er brüllte: "Sie Schwein!"

"Dich piss ich an!" grölte Helms zurück und stürzte über den Tisch auf ihn. In Zeitlupe kippte Ehrenpräsi auf seinem Stuhl rücklings, überwand den Schwerpunkt wild mit den Armen nach Halt rudernd und fiel wie eine fette Schildkröte krachend zu Boden. Holz splitterte, Helms war gleich über ihm, einer Quelle gleich, pisste über Hemd und Weste, Schal und Gesicht, Ehrenpräsis Mund formte einen grellen spitzen Schrei. Dann rissen Hände Helms zurück.

"Ich piss euch alle an! Stellt euch auf ihr Penner, einer neben den anderen, ich bin voll wie ein Eimer, das reicht für jeden von euch!" Er entspannte alle Muskeln, die Griffe der anderen wurden weicher, dann war er im Krieg.

Fast mühelos schuf er einen leeren Kreis um sich, drei Armlängen weit. Beschwichtigend senkte die Schar vor ihm die Hände und öffnete ihm eine Gasse.

"Einer wird dich heimsuchen", flüsterte er Küpper zu, der ihn völlig entsetzt anstarrte.

"Vergiss das niemals."

Die Altherrenrunde war ein wenig lädiert, einer blutete am Ohr, ein anderer fingerte nervös an seinem E-Rolli. Allgemein herrschte betretenes Schweigen. Küpper konnte sich auf einiges gefasst machen. Sein Claim stand schon auf der Kippe, als die Bank ihm den Kredit kündigte.

Draußen hatte es aufgehört zu regnen. Er winkte einem Taxi.

 

Alles lag jetzt hinter ihm. Es interessierte ihn auch nicht mehr. Die Angst war von ihm abgefallen aber die Leere existierte immer noch. Sie zu füllen mit neuen Dingen, anderen Menschen, die Fülle um ihn herum neugieriger, befreiter anzuschauen, dagegen hatte er sich mit aller Kraft gewehrt. Es gab nur noch einen Weg für ihn, raus über die Felder zu Carlo. Er würde am Feuer sitzen. Oder das Feuer würde brennen, während er das Abendessen aus der Erde klaubte. Die warmen Hände würden nach Erde riechen. Schweigen würde herrschen. Das Radio dudelte "I hate the asshole I become!".

Christa Block - Ostkreuz-Visionen

 

Christa Block
Ostkreuz-Visionen

 

Warten auf den nächsten Zug.
Umgeben von Rost, bröckelndem Putz, defekten
Stufen, Zugwind und maroden Dächern
überkommt mich eine Vision.

Ich sehe eine Großbaustelle, Kräne schwanken im
Wind, Arbeiter wuseln wie Ameisen, überall
lagern Baumaterialien.

Was ich nicht sehe, sind Züge, keine S-Bahnen.
Wo sind sie? Wohin
wurden sie umgeleitet?

Wo sind die vielen Menschen, die täglich auf
dem Bahnhof Ostkreuz
ankommen oder abfahren?

Ich blicke weiter in die Ferne und stehe plötzlich
im Jahre 2036 auf einem
modernen Bahnhof Ostkreuz. Er hat Ähnlichkeit
mit anderen Hauptbahnhöfen. Hohe gläserne
Dächer, die das Sonnenlicht durchlassen,
elektronische Anzeigen und schnelle
S-Bahnzüge, die ein- und ausfahren. Menschen,
die über Laufstege, Rolltreppen und Aufzüge zu
ihren Bahnsteigen oder zum Ausgang
befördert werden.

In den Eingangsbereichen kleine Geschäfte und
Kioske.
Und es gibt jede Menge Personal in hübschen
Uniformen, das die Züge
abfertigt, Auskünfte erteilt und für Ordnung
sorgt.

Das Jahr 2036 - da wäre ich 100 Jahre alt.
So alt kann ich gar nicht werden, um bei allem
Optimismus einen neuen
Bahnhof Ostkreuz zu erleben.